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Literatur
Albrecht Müller: "Glaube wenig, Hinterfrage alles, Denke selbst"
Der schmerzliche Verlust der Medien
Buchbesprechung von Wolfgang Bittner

Es ist nicht das erste Buch, das Albrecht Müller, ehemals aktiver Politiker und seit 2003 Herausgeber des Internetforums NachDenkSeiten zu gesellschaftspolitischen Fragen veröffentlicht hat. Kürzlich ist nun „Glaube wenig, Hinterfrage alles, Denke selbst“ erschienen, ein außerordentlich wichtiges, aufklärendes Buch. Man will es nicht glauben, aber es ist wahr und beweisbar: Die so genannten Qualitätsmedien in Deutschland haben in ihrer übergroßen Mehrheit schon lange ihre Bedeutung als Vierte Gewalt und Korrektiv im System der Gewaltenteilung verloren.

Deutlich wird das vor allem, wenn wir die politischen Artikel der marktbeherrschenden Zeitungen lesen, Sender wie den Deutschlandfunk hören oder im Fernsehen die Tagesschau oder das Heute-Journal schauen. Kaum ein kritisches Wort über die Aggressionspolitik der USA und der NATO, dagegen eine permanente Hetze gegen Russland. Das ist aber nicht das Einzige, es geht gegen alles, was sich dem verdummenden, zum Teil verlogenen Mainstream entgegenstellt. Und der Mainstream wird von genau diesen Medien gemacht.

Albrecht Müller kritisiert diese herrschende Meinungsmanipulation und Indoktrination, die zur Erosion des demokratischen Rechtsstaats maßgeblich beiträgt, mit treffenden, zum Teil erschütternden Beispielen. Das kostet heutzutage viel Mut und ist ihm hoch anzurechnen. Er stellt fest: „Wir leben in einer Zeit, die wesentlich von neoliberaler Ideologie und ebensolchen Taten geprägt ist, und das genaue Gegenteil wird unter die Leute gebracht. Das ist perfekte Meinungsmache und kein Zufall.“

Allein schon die Wortwahl (das „wording“) gibt Aufschluss über eine der Methoden bewusster Manipulation. So werden missliebige Regierungen „Regime“ oder „Diktatur“ genannt, Baschar al-Assad ist ein „Schlächter“, der saudische Meuchelmörder Mohammad bin Salman al-Said bleibt ein Kronprinz. Müller führt siebzehn Beispiele für Manipulationen an, darunter die Verkürzung von Sachverhalten, das Verschweigen, die permanente Wiederholung und Übertreibung, das falsche Expertentum usw.

Des Weiteren lenkt er den Blick auf gravierende Fälle von Meinungsmache sowie auf die entsprechenden Strategien. Ein Beispiel ist die Behauptung eines demographischen Wandels, die zur privaten Vorsorge geführt hat, wodurch den Versicherungen und Banken das Geld der Bevölkerung in die Kassen gespült wurde. Ein zweites Beispiel ist die systematisch betriebene Wende von der Friedenspolitik („Nie wieder Krieg“) zur neuen Konfrontation mit Russland und damit zu der schon seit Jahren herrschenden Kriegsgefahr in Europa.

Auch die Auflösung der Deutschland AG und die Steuerbefreiung für Veräußerungsgewinne der großen Vermögen wurden von den Medien werbewirksam begleitet. Über die Folgen, nämlich den Verkauf Tausender Unternehmen an zumeist angelsächsische Kapitalgruppen und Hedgefonds wurde der Mantel des Schweigens gebreitet – „Monopoly auf Steuerzahlerkosten“.

Die von den Medien betriebene Manipulation betreffe auch das Personal der Parteien, schreibt Müller. Die Spitzenkandidaten der SPD von Rudolf Scharping bis Martin Schulz seien „rauf- und runtergeschrieben“ worden, während die „wahrlich nicht fortschrittlichen Personalentscheidungen“, die Angela Merkel in der letzte Zeit eingefädelt habe, propagandistisch unterstützt würden: Der Aufstieg von der Leyens zur Präsidentin der EU-Kommission wie auch die Einsetzung Kramp-Karrenbauers, „dieser aus den 1950er Jahren übrig gebliebenen Kalten Kriegerin“, als Vorsitzende der CDU und Bundesverteidigungsministerin.

Gut zu wissen ist in diesem Zusammenhang, dass viele der leitenden Journalisten wie auch der führenden Politiker nicht nur Konzerninteressen vertreten, sondern auch US- und NATO-Netzwerken angehören oder nahestehen. Damit lässt sich erklären, zu welchem Zweck und mit welchem Ziel ein beträchtlicher Teil dieser Manipulationen stattfindet. Denn die Frage ist doch letztlich: Wer manipuliert die Manipulierer. So lässt sich dann auch eine Antwort hinsichtlich der Sanktions- und Aggressionspolitik, der fortschreitenden Aufrüstung und Militarisierung finden.

Schon vor Erscheinen des Buches wurden Albrecht Müller und sein Internetforum in der Süddeutschen Zeitung diffamiert. Da hieß es am 13. September 2019 in einem „Streiflicht“ unter anderem: „Herr Müller war, lange her, mal Planungschef im Kanzleramt, in der Ära Brandt/Schmidt. Gemeine Kritiker – in wessen Solde stehen sie eigentlich? – sagen ihm nach, er leide, wie mancher ältere Herr, an der Ignoranz der Menschheit, die sich keinen Deut für ihn interessiert, obwohl er doch alles viel besser weiß. Seit Beginn der Regierung Kohl denkt er darüber nach (daher der Name seines Politblogs), warum niemand auf ihn hört, und er kann es sich und seinen Followern einfach nicht erklären.“

Wie mit derartigen Medienangriffen umzugehen ist, hat Albrecht Müller bereits 1972 als Wahlkampfleiter Willy Brandts gelernt und praktiziert, als dem SPD-Kanzlerkandidaten seine uneheliche Geburt und sein Exil vorgeworfen wurden: Keine „vornehme Zurückhaltung“, kein demütiges Abducken ob solcher Gemeinheit. Müller ging dagegen offensiv vor, jetzt auch in eigener Sache. In seinem viel gelesenen Blog schrieb er, in „erprobter Weise“ werde versucht, die NachDenkSeiten in die Verschwörungs- und Querfrontecke zu stellen, wobei sein hohes Alter als Herausgeber dazu diene, ihn und sein Forum in ein schlechtes Licht zu rücken. Er wandte sich an die Leserinnen und Leser mit der Bitte, ihn zu unterstützen und sein Buch zu propagieren.

Das fand große Resonanz, und der Erfolg blieb nicht aus, „Glaube wenig, Hinterfrage alles, Denke selbst“ liegt inzwischen in allen Buchhandlungen und steht seit dem 21. Oktober auf der Spiegel-Bestsellerliste. „Wir müssen zweifeln und widersprechen“, schreibt Albrecht Müller. „Das wird leichter, wenn wir uns mit anderen verbinden. Wenn wir ein eigenes Milieu einer lebendigen Gegenöffentlichkeit schaffen, wenn wir uns austauschen, wenn wir kommunizieren.“ Zu wünschen ist, dass diese Antimanipulationsschrift über die „aufgeklärte“ Leserschaft hinaus viele Menschen erreicht, die weiter zur Aufklärung beitragen.


Albrecht Müller, „Glaube wenig, Hinterfrage alles, Denke selbst. Wie man Manipulationen durchschaut“



Westend Verlag 2019, 144 Seiten, Klappenbroschur, 14 Euro

Online-Flyer Nr. 723  vom 23.10.2019



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