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Aktueller Online-Flyer vom 20. April 2024  

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Kultur und Wissen
Betrachtung anlässlich des Erscheinens von Wolfgang Effenbergers Buch "Revolution, Rätewirren und Versailles"
Eisner und das Imperium
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Wir schreiben das Jahr 2019. Es jährt sich die Ausrufung der Münchner Räterepublik zum 100. Mal. Vielfach ist darüber aus diesem Anlass geschrieben worden. Für ca. vier Wochen waren die „Arbeiter an der Macht“, lesen wir zum Beispiel. Eine treibende Kraft der vorausgegangenen November-Revolution 1918 war Kurt Eisner. „Die Münchener Revolution war komplett, durchgeführt in einem rasanten Alleingang und innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Kein Schuss war gefallen, kein Tropfen Blut vergossen. Und der Mann, der dieses Kunststück fertig gebracht hatte, gestern noch ein Niemand, hatte alle Fäden in der Hand“, schreibt der in bürgerlichen Kreisen hoch angesehene, von Springers "Welt am Sonntag" als "grandioser Historiker" (1) bezeichnete Sebastian Haffner in seinem Buch "Die deutsche Revolution 1918/19" (2). Und weiter lesen wir bei Haffner: „Eisner hatte... einen klaren Blick für die internationale Lage des besiegten Deutschland und eine klare außenpolitische Konzeption: Er sah die Gefahr des Diktatfriedens und suchte ihr zuvorzukommen durch eindrucksvolle Beweise des Bruchs mit dem Alten im Innern und durch direkte Kontakte nach außen, und zwar mit den Westmächten, besonders mit Amerika; mit Russland hatte er nichts im Sinn.“


Kurt Eisner (nach der Vorlage eines Fotos von Robert Sennecke bearbeitete Postkarte von 1919, gemeinfrei)

Können wir dieser Darstellung trauen? Können wir z.B. der Aussage Glauben schenken, dass Eisner die Gefahr eines Diktatfriedens abwenden wollte, wie er dann mit dem Versailler Vertrag Wirklichkeit geworden ist? Bei Wolfgang Effenberger lesen wir in seinem 2019 erschienenen Buch "Revolution, Rätewirren und Versailles" (3) etwas anderes: „Kurt Eisner sah das Bekenntnis zur alleinigen Kriegsschuld Deutschlands als Voraussetzung für den Weg in den Frieden an.“ Er habe sich auf diese Weise zum "Erfüllungsgehilfen" von Versailles gemacht.

Kann Wolfgang Effenberger seine Sichtweise glaubhaft machen? Wir lesen bei ihm, dass Eisner von Friedrich Wilhelm Foerster, Bayerns Botschafter in der Schweiz, am 16. November 1918 ein Schreiben erhalten hat, in dem ein Vertrauensmann des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau folgendermaßen zitiert wird: „Wir wollten dem militärischen Deutschland die ganze Wucht seiner Niederlage zeigen und damit dem deutschen Volke grell zu Bewußtsein bringen, wohin es geführt worden ist.“ Am nächsten Tag hätten Eisner und sein Finanzminister Jaffé ein Telegramm von einem gewissen George D. Herron erhalten, in dem dieser dringend rät, „die ersten Schritte zu einem vollen und offenen Bekenntnis der Schuld und Untaten der deutschen Regierung am Anfang des Krieges und an den Grausamkeiten der Kriegführung zu unternehmen“. Die moralische Wirkung einer solchen Handlung sei „gewaltig und entscheidend“.


Telegramm von George D. Herron an Eisner und Jaffé, 17.11.1918 (aus: Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, Im Auftrage des Bayerischen Landtages herausgegeben vom Abgeordneten Dr. P. Dirr, München und Berlin 1922)

Manipulation durch Kürzung

Daraufhin habe Eisner am 23. November 1918 in der Bayerischen Staatszeitung den bayerischen Gesandtschaftsbericht zum Kriegsausbruch „in einer gekürzten Form“ veröffentlicht, wie es in der Onlinebibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung heiße. Wolfgang Effenberger führt dazu aus: „'Gekürzt' ist ein absoluter Euphemismus, denn Eisner strich den Bericht des Geheimrats von Schoen derart zusammen, dass es so aussah, als habe Deutschland den Krieg gewollt. Eisner hoffte, damit das Vertrauensverhältnis zur Entente wiederherstellen zu können, damit es zur Völkerversöhnung kommen konnte, doch wurde er nur zum Erfüllungsgehilfen der eigentlichen Kriegstreiber. Denn im Original wird bekundet, dass die deutsche Regierung keinen Weltkrieg, sondern lediglich einen lokalen Krieg zwischen Österreich und Serbien erwartet hatte. So aber wurde der Weg geebnet 'zu einem vollen und offenen Bekenntnis der Schuld und Untaten der deutschen Regierung'. Da hierdurch die Kriegsschuld 'nachweisbar' wurde, dankte die 'Westminster Gazette' Eisner nun höhnisch für seine 'Aufrichtigkeit', und die 'Morning Post' forderte, die Urheber des Verbrechens der Gerechtigkeit zu überantworten. Die im Versailler Vertrag dann festgeschriebene Alleinschuld Deutschlands wird in weiten Kreisen bis heute unkritisch akzeptiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie sogar Grundlage des Geschichtsverständnisses der Bundesrepublik Deutschland. Obwohl längst widerlegt, ist Fritz Fischers Aussage vom kaiserlichen 'Griff zur Weltmacht' in der Gesellschaft immer noch präsent. An der Manipulation der öffentlichen Meinung in Deutschland hatte Kurt Eisners bearbeitete Fassung der diplomatischen Schriftstücke aus den Akten der bayerischen Gesandtschaft in Berlin maßgeblichen Anteil, die er im Auftrag des amerikanischen Agenten George D. Herron erstellte. Somit half der Sozialist Kurt Eisner mit, die Kriegsziele des internationalen Kapitals... vollumfänglich zu verwirklichen.“

Was Wolfgang Effenberger hier in Zusammenhang mit der "Kürzung" ausführt, ist ein schwerer Vorwurf. Ist dieser Vorwurf der Manipulation gerechtfertigt? Lesen wir aus einer zweiten Quelle – aus dem Artikel "Eisner und die deutsche Kriegsschuld" von Angelika Eberl und Herbert Ludwig: „Eisner war stark beeinflusst von dem Münchner Philosophen und Pazifisten Prof. Friedrich Wilhelm Foerster, der ein heftiger Kritiker der deutschen Kriegspolitik war und den er zum bayerischen Gesandten in Bern ernannte.“ Die Historikerin Annette Meinke schreibe in ihrer Habilitationsschrift dazu: „Foerster … stand seit Kriegsende in nachrichtendienstlichem Kontakt mit einem Mitarbeiter des amerikanischen Außenministeriums. Dieser hatte ihm Hoffnung gemacht, dass sich die harten Waffenstillstandsbedingungen durch 'Schritte zu einem vollen und offenen Bekenntnis der Schuld und Untaten der deutschen Regierung am Anfang des Krieges und an den Grausamkeiten der Kriegsführung' unter Umständen abmildern ließen. Eisner selbst, der von der Verantwortung der wilhelminischen Reichsregierung für den Kriegsausbruch zutiefst überzeugt war, … ließ daraufhin am 23. November 1918 einige ausgewählte Berichte der königlich-bayerischen Gesandtschaft vom Juli/August 1914 auszugsweise publizieren...“ (4)

Wer ist George D. Herron?

Also auch hier lesen wir von der "auszugsweisen" Veröffentlichung. Und ein weiterer interessanter Aspekt: es ist die Rede davon, dass Eisners Gesandter in Bern nachrichtendienstlichen Kontakt mit einem Mitarbeiter des U.S. State Department gehabt habe. Und was schreibt Wolfgang Effenberger? Eisner habe die Manipulation im Auftrag des amerikanischen Agenten George D. Herron vorgenommen. Wer ist George D. Herron?

Wolfgang Effenberger gibt dazu folgende Auskunft: „Eisner ernannte den pazifistischen Münchner Universitätsprofessor Friedrich Wilhelm Foerster zum Botschafter Bayerns in der Schweiz und beauftragte ihn, dort zu dem amerikanischen Pazifisten George D. Herron Kontakt aufzunehmen, dem enge Beziehungen zu Woodrow Wilson nachgesagt wurden.“ Der heute vollkommen vergessene Herron habe in Wilson, der gerade mit Waffengewalt Mexiko 'demokratisierte', einen Erlöser der Menschheit gesehen. Den Ersten Weltkrieg habe Herron in seinem Buch "The Menace of Peace" (Die Friedensdrohung) als „Heiligen Krieg für Fortschritt, Freiheit und Demokratie gegen die unheilige Allianz von Vatikan, Habsburg, Wittenberg, preußischen Junkern und Ruhrmagnaten“ bezeichnet. Ein Kompromissfrieden – so Herron in seinem Buch – würde „Gott das Herz brechen“. Seit Ende November 1917 schrieb Herron „regelmäßig Berichte an die amerikanische Gesandtschaft in Bern. Dort schätzte man seine Kontakte zu deutschen Oppositionspolitikern und Revolutionären, die ihm Appelle an US-Präsident Wilson antrugen.“

Bei Wikipedia (deutsch) finden wir die folgende Aussage über Herron: „Während des Ersten Weltkrieges brach Herron mit den antimilitaristischen Prinzipien der Sozialistischen Partei Amerikas und lieferte der US-Regierung und der britischen Regierung Berichte über die öffentliche Meinung im Deutschen Reich.“ Und weiter: Herron habe „der amerikanischen und der britischen Gesandtschaft in Bern (Schweiz), regelmäßig schriftliche Berichte über die Situation im Deutschen Reich“ übermittelt. (5)

Auf der englischen Wikipedia-Seite finden wir zu Herron – hier in deutscher Übersetzung: „Herron begann, regelmäßig schriftliche Berichte an die Amerikanische Gesandtschaft in Bern, Schweiz, zu schreiben. Zusätzlich zu seiner Geheimdienstarbeit im Auftrag des U.S. State Department lieferte Herron auch dem Britischen Kriegsministerium und dem Britischen Außenministerium ähnliche Berichte. Herrons Geheimdienstarbeit und Analysen wurden von den Briten sehr geschätzt, die ihm 1.000 Franken pro Monat zuteilten, damit stenographische Hilfe angefordert werden konnte. Herron hatte die Aufgabe, seinen Vorgesetzten Details seiner Gespräche und Korrespondenz mit verschiedenen deutschen Kontakten und Bekannten, darunter viele Wissenschaftler, zu übermitteln. Diese Berichte wurden oft in Form von Appellen seiner deutschen Mitarbeiter für ein bestimmtes Vorgehen von Präsident Wilson und seiner Regierung verfasst. Herron hielt konsequent an der Notwendigkeit eines diktierten Friedens durch deutsche Kapitulation fest, ein Fall, der im November 1918 eintrat.“ (6)

Stimmt es, dass Eisner sich von diesem Agenten beauftragen oder zumindest verleiten ließ, die Gesandtschaftsberichte (durch Kürzung) zu manipulieren? Hat Eisner damit – statt einen "menschlichen Frieden" zu erreichen – den Diktatfrieden von Versailles befördert? Wolfgang Effenberger spricht ein hartes Urteil: „Allein die Tatsache, dass ein über Jahrzehnte mit Außenpolitik befasster Fachjournalist wie Kurt Eisner auf den Gedanken kam, die Außenpolitik der Vereinigten Staaten könnte plötzlich von Idealen regiert werden und nicht mehr von nüchternen Interessen, zeugt von der Realitätsferne der gesamten Revolution.“

Diese Einschätzung widerspricht diametral der von Sebastian Haffner, der – wie oben bereits zitiert – schreibt: „Eisner hatte... einen klaren Blick für die internationale Lage des besiegten Deutschland und eine klare außenpolitische Konzeption: Er sah die Gefahr des Diktatfriedens und suchte ihr zuvorzukommen durch eindrucksvolle Beweise des Bruchs mit dem Alten im Innern und durch direkte Kontakte nach außen, und zwar mit den Westmächten, besonders mit Amerika; mit Russland hatte er nichts im Sinn.“

Die "Tiefen" hinter den Kulissen

Welche Auffassung ist die zutreffende? Können wir davon ausgehen, dass ein Historiker, der in einem Medium, dessen Redakteure sich vertraglich verpflichten müssen, im Interesse von USA und Israel zu publizieren, als "grandioser Historiker" bezeichnet wird, der Realität näher kommt? Können wir davon ausgehen, dass das, was sich auf der politischen und dann historischen Bühne abspielt, die ganze Wahrheit ist? Oder gibt es die "Tiefen" hinter den Kulissen, die uns weitgehend verborgen bleiben (sollen)? Gilt das auch für Revolutionen? Stimmt es, dass das Imperium ein Interesse an der islamischen Revolution im Iran 1978/79 hatte? (7) Treffen die Forschungen des britischen Historikers Anthony Sutton zu, nach denen die Bolschewistische Revolution im Oktober 1917 in Russland und dann auch die Sowjetunion von der Wall Street befördert waren? (8) Wie war das in Deutschland 1918/19 – speziell in München mit der Revolution im November 1918, deren treibende Kraft Kurt Eisner war?


Vorveröffentlichung aus der Quartalsschrift DAS KROKODIL, Ausgabe 30 (September 2018) – Grundsatzschrift über die Freiheit des Denkens – bissig – streitbar – schön und wahr und (manchmal) satirisch.



Mehr dazu und wie es sich bestellen lässt, hier: http://www.das-krokodil.com/


 
Fußnoten:

1 Anmerkungen zu Haffner:
Grandioser Historiker, nur manchmal ein bisschen Rumpelstilzchen
Michael Stürmer am 23.12.2007 in "Welt am Sonntag"
https://www.welt.de/wams_print/article1488729/Anmerkungen-zu-Haffner-Grandioser-Historiker-nur-manchmal-ein-bisschen-Rumpelstilzchen.html

2 Sebastian Haffner
Die deutsche Revolution 1918/19

rororo Taschenbuch, 256 Seiten, Rowohlt-Verlag, 2004 (4. Auflage), erstmals erschienen 1969

3 Wolfgang Effenberger
Europas Verhängnis 14/18
Revolution, Rätewirren und Versailles

Verlag Zeitgeist Print & Online, Höhr-Grenzhausenm, 2019

4 Eisner und die deutsche Kriegsschuld
Von Angelika Eberl und Herbert Ludwig, 28.2.2019
https://www.geolitico.de/2019/02/28/eisner-und-die-deutsche-kriegsschuld/

5 Deutschsprachiges Wikipedia über George D. Herron
https://de.wikipedia.org/wiki/George_D._Herron

6 Englischsprachiges Wikipedia über George D. Herron
https://en.wikipedia.org/wiki/George_D._Herron

7 Eine Betrachtung zur islamischen Revolution im Iran
Teuflisches Spiel: Das Spiel mit dem Regime-Change
Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann in der NRhZ 424 vom 18.09.2013
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19449

8 Was hat die Wallstreet mit der Sowjetunion zu tun?
Im Jahr 100 nach der Oktober-Revolution
Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann in "DAS KROKODIL", Ausgabe 22, September 2017


Siehe auch:

Anfang und Ende eines bayrischen Wunders:
Von der Novemberrevolution 1918 zur Räterepublik 1919
Tilo Gräser in FREIDENKER Nr. 2-19, Juni 2019, 78. Jahrgang, S. 13-25
https://www.freidenker.org/?p=6545

Ein kritischer Rückblick
Die Ermordung von Kurt Eisner
Von Wolfgang Effenberger
NRhZ 694 vom 27.02.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25684

Zur Geschichte der Münchner Räterepublik
Die Arbeiter an der Macht
Von Hermann Kopp
NRhZ 695 vom 06.03.2019
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25710

Online-Flyer Nr. 714  vom 31.07.2019



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