NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

Fenster schließen

Krieg und Frieden
Vorwort aus dem Buch "Europas Verhängnis – Kritische angloamerikanische Stimmen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs"
Wer war´s?
Von Wolfgang Effenberger

Wer war's? - Um diese Frage beantworten zu können, so lehrt uns jeder Krimi, muss man als Erstes nach möglichen »Motiven« Ausschau halten, dann, unabhängig davon, darauf achten, wer auf wen mit dem Finger zeigt, um alle Fakten zu analysieren und schließlich die Mosaiksteine zusammenzusetzen. Bezieht sich die Eingangsfrage nun darauf» wem die Schuld am Ersten Weltkrieg zuzuweisen ist, sind die Motive nicht leicht zu erkennen, da sie durch die Propaganda äußerst geschickt verschleiert wurden. Denn die britischen Kriegsplaner hatten aus ihrem verlustreichen Zweiten Burenkrieg (1899-1902) gelernt, dass ein Krieg auch an der Propagandafront gewonnen werden muss. Und dafür ist es einerseits wichtig, dass nach außen hin der Gegner als Angreifer dasteht, und andererseits, dass der Angriff überraschend kommt. Die Tatsache, dass die Briten nach ihrer Kriegserklärung an Deutschland am 4. August 1914 23 Uhr 30 nur wenige Stunden später, im Morgengrauen des 5. August, das deutsche Atlantikkabel kappten, sodass die Deutschen auf die Verbindung der US-Botschaft angewiesen waren (die vom britischen Geheimdienst abgehört wurde), lässt daran jedoch Zweifel aufkommen. Auch die Medien waren anscheinend alles andere als unvorbereitet.

    Man muß das Wahre immer wiederholen,
    weil auch der Irrtum um uns her immer wieder gepredigt wird,
    und zwar nicht von einzelnen, sondern von der Masse.
    In Zeitungen und Enzyklopädien, auf Schulen und Universitäten,
    überall ist der Irrtum oben auf, und es ist ihm wohl und behaglich,
    im Gefühl der Majorität, die auf seiner Seite ist. (1)

    Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Am 6. August 1914 erschien in der Times ein geschichtsträchtiger Artikel von Sir Ignatius Valentine Chirol (1852-1929): »Die Briten ziehen ihr Schwert für die gute Sache ... Wieder einmal werden de die Freiheit Europas mit den Worten, die König William auf seine Fahne schrieb, aufrechterhalten. Es ist dieselbe Sache, für die Wellington auf der Halbinsel kämpfte und Nelson auf Trafalgar, die gute Sache, die ihren krönenden Triumph auf den Feldern vor Waterloo fand. Es ist die Sache, für die Oliver Cromwells ‚Eisenharte’ und ihre französischen Kameraden die beste Infanterie von Spanien besiegte und für die Drake (2) und Howard von Effingham die Armada in die Flucht trieben - die Sache der Schwachen gegen die Starken, der kleinen Völker gegen ihre übermächtigen Nachbarn, die Sache des Rechts fegen brutale Gewalt - die Sache des Commonwealth Europas gegen die Vorherrschaft des Schwertes.«

Garniert war der Artikel mit dem Bild des heiligen Georg, der die belgische Prinzessin vor dem deutschen Drachen beschützt. Diese emotional aufgeladene Botschaft muss auf Engländer, auf Schotten, Iren und Waliser stark gewirkt haben, ist doch das Kreuz des heiligen Georg Bestandteil der englischen Flagge. Als leidenschaftlicher Imperialist war der Historiker und Diplomat Chirol überzeugt, dass das deutsche Kaiserreich und die unruhige muslimische Welt die größte Bedrohung für das Empire bildeten. Also musste Deutschland als brutaler Usurpator dargestellt werden, der über den Nachbarn herfällt und skrupellos ganze Familien ausrottet.

Heute, einhundert Jahre nach der »Urkatastrophe«, scheint es nicht minder wichtig, die »richtige« Deutung der Ereignisse in der öffentlichen Meinung zu verankern. So bewilligte die britische Regierung im Jahr 2014 50 Millionen Pfund für die Gedenkfeier zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Und nach den offiziellen Veranstaltungen wurden die Propagandablasen vom August 1914, die sich anlässlich des Vertrags von Versailles 1919 tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben haben, nun auch vom BBC History Magazine mantrahaft wiederholt: Britannien sei im Recht gewesen, es sei kein sinnloser, absurder Kampf, keine Verschwendung von Menschenleben gewesen, sondern, im Gegenteil, ein edler Streit. Die Schuldzuweisung an Deutschland war damals Voraussetzung, um die enormen Reparationsforderungen zu rechtfertigen. Dabei wurde verschwiegen, dass die ab 1907 gegen das Kaiserreich geplante Blockade nach dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 weitergeführt wurde. Infolge des dadurch verlängerten Wirtschaftskriegs starben weiterhin deutsche, österreichische und ungarische Zivilisten an Hunger, darunter eine Viertelmillion Kinder. Erst nach der so erzwungenen Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags am 28. Juni 1919 wurde die Blockade gestoppt.

Für Max Hastings, den »englischen Guido Knopp«, aber ist das kein Thema. Er vertritt trotz nachgewiesener Kriegsvorbereitungen britischer Kreise noch immer die These von der Alleinschuld Deutschlands, so auch im rechtzeitig zum Gedenkjahr erschienenen, landesweit und prominent beworbenen (3) Bestseller »Catastrophe 1914: Europe goes to war«. Darin wehrt der Autor vehement die Behauptung ab, der Krieg sei die Kosten nicht wert gewesen, und argumentiert, die Niederlage Deutschlands sei entscheidend für die Freiheit Europas gewesen. Diese Einstellung reicht anscheinend aus, um sich nicht einmal rudimentär mit der Vorgeschichte befassen zu müssen. Hastings verliert sich gern in Schlachtendetails und geht häufig unvermittelt zum Zweiten Weltkrieg über, um ja keinen Zweifel an der deutschen Aggressivität aufkommen zu lassen.

Hochsicherheitstrakt Hanslope Park: Hier verwahrt der britische Geheimdienst über eine Million Akten des Außenministeriums

Nachdem Max Hastings 1963 kurzzeitig im Fallschirmjägerregiment der British Army gedient hatte, studierte er ein Jahr in Oxford. Es folgten Tätigkeiten als Reporter, Korrespondent und Kommentator - u.a. bei BBC-Television. Außerdem war er Herausgeber des Daily Telegraph und des Evening Standard. Neben vielen Auszeichnungen (4) wurde er 2002 in den persönlichen Adelsstand erhoben. Seine feste Überzeugung, dass England keinerlei Schuld am Ersten Weltkrieg zuzuweisen sei, ist durch nichts zu erschüttern, nicht einmal durch die spektakuläre Veröffentlichung des Guardian vom Herbst 2013, dass in Hanslope Park, einem Hochsicherheitsareal der beiden Geheimdienste MI5 und MI6 in der Nähe von London, ca. 1,2 Millionen offizielle Akten des britischen Außenministeriums der Öffentlichkeit vorenthalten werden. In mehreren Artikeln wurde darüber berichtet, wie es einer kleinen Gruppe von Historikern gelungen war, eine Führung durch das Geheimarchiv zu erzwingen. Die Oxfordprofessorin Margaret MacMillan, bislang zuverlässig im Mainstream schwimmend, äußerte anschließend, sie müsse ihre Arbeiten über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs überdenken. (5) Auf die Frage des Guardian, was die Spezialsammlungen uns über die Geschichte sagen könnten, die wir doch zu kennen glaubten, antwortete MacMillan: »Fragen Sie mich nicht, wer den Ersten Weltkrieg veranlasst hat.« (6)

Obwohl die Freigabe der Akten inzwischen gerichtlich angeordnet wurde, sollte man nicht zu optimistisch sein. Das Außenministerium hat bekanntgegeben, dass 60 000 Ordner mit hoher Priorität während der nächsten fünf Jahre durch 36 so genannte »Sensitivity Reviewer« geprüft werden sollen. Diese können auch Sperrvermerke erteilen. Nach Berechnungen des Guardian dürfte die Überprüfung des Gesamtbestandes bei dem jetzigen Tempo 350 Jahre dauern. So aber werden kritische Stimmen trotz aller Evidenz ihrer Analysen weiterhin diffamiert. Der britische Historiker Terry Boardman, aus dessen Vortrag »Britain's Responsibility in 1914 for World War One?« (7) im Buch mehrfach zitiert wird, gilt als anthroposophischer Geschichtsrevisionist (8) - ist aber nicht angesichts der Geheimhaltungspraxis vor allem der Großmächte eine Geschichtsrevision dringend notwendig? Man denke nicht nur an die weggesperrten Dokumente von Hanslope Park, sondern auch an die 2800 von Donald Trump erst kürzlich freigegebenen Dokumente zum Kennedy-Mord.

Filmregisseur Oliver Stone und Peter Kuznick, Professor für Neuere Geschichte, beschäftigen sich in ihrem 2014 erschienenen Buch »Amerikas ungeschriebene Geschichte - Die Schattenseiten einer Weltmacht« mit der wirtschaftlichen Interessenlage der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: »Zu den weniger bekannten Fakten der Geschichte gehört, dass... die Banken des Britischen Empire in der Krise steckten. Das britische Wirtschaftsmodell, das darauf hinauslief, im Interesse des eigenen Überlebens die Volkswirtschaften immer größerer Teile des Erdballs auszubeuten, statt in die heimische Industrie zu investieren, stand vor dem Aus. Immer neue Wirtschaftskrisen kamen und gingen.« 9 Das junge Deutsche Reich hingegen prosperierte. Es setzte auf industrielles Wachstum aus eigener Kraft und investierte in Bildung und Wissenschaft, sodass es zu einer gefährlichen Konkurrenzmacht für die britische Finanz- und Kapitalelite heranwuchs. England hatte also ein Motiv, den Gegner mit Hilfe der Commonwealth-Staaten auszuschalten. Deutschland aber war für seine Handelsbeziehungen auf Frieden angewiesen.

Stone und Kuznick beantworten die Schuldfrage nicht direkt, zeigen aber auf, was sich lange vor 1914 hinter den Kulissen der offiziellen Politik abspielte. Ihr Buchprojekt wurde von namhaften Wissenschaftlern und Politikern aktiv unterstützt, etwa von Daniel Ellsberg, Gar Alperovitz, Robert Berkovitz, Michael Flynn, Ray McGovern, Roger Morris, Peter Dale Scott, Mark Seiden, Howard Zinn, Bob Griffith u.a.

So viel zu den Bestsellern. Im vorliegenden Buch aber werden auch Meinungen und Analysen von britischen sowie amerikanischen Autoren berücksichtigt und, der Chronologie der Ereignisse folgend, präsentiert, denen bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Der Autor möchte an dieser Stelle den immensen Rechercheaufwand würdigen, welcher den im Buch genannten Quellen zugrunde liegt. John P. Cafferky etwa wälzte in den Staatsarchiven Berge von Akten. Der Leser ist eingeladen, sein Originalwerk sowie das seiner Kollegen zu lesen, die allesamt in ihrer Beurteilung deutlich weitergehen als Stone und Kuznick. Insgesamt ergibt sich somit ein erschreckend klares Bild der Interessen, Absprachen und Vorgänge, die zum Ausbruch des Krieges führten.

Die Berichte über die hochkomplexen Zusammenhänge der geheimen Strategien vor und während des Ersten Weltkriegs präzise und verständlich zusammenzufassen ist keine Aufgabe, die allein bewältigt werden kann. An erster Stelle danke ich Angelika Eberl für ihre Übersetzungen, die weitere Recherche sowie für ihre konstruktive Mitarbeit. Dann gilt mein Dank natürlich dem Verleger Thomas Röttcher und seinem Team für die hervorragende Aufmachung des Buches und die Kürzungsvorschläge. Schließlich war mir wie immer meine Lebensgefährtin Beate Himmelstoß mit ihrem kritischen Lektorat und ihrem Formulierungsgeschick eine große Hilfe.


Anmerkungen

1 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. 16. Dezember 1828. Frankfurt/Main 1981

2 Francis Drake: englischer Freibeuter, Entdecker, später Vizeadmiral und Weltumsegler

3 Z.B. wird Ian Kershaw auf der Rückseites des Buches zitiert: »Das ist Militärgeschichte auf fesselndste Art. Eine veritable Glanzleistung.«

4 etwa Journalist und Reporter of the Year 1982

5 Vgl. Guardian, 13. Oktober 2013: »Foreign Office hoarding l m historic files in secret archive« und 14. Mai 2014: »Will the UK Government ever release these secret files to the public?«

6 Quelle: www.vice.com/en_au/article/mv5393/the-uk-government-are-opening-thousands-of-secret-files-to-the-public

7 Quelle: www.youtube.com/watch?v=klyJOzID_xw

8 Vgl. https://waldorfblog.wordpress.com/2013/11/21/tagung-kassel/

9 A. a. O., Berlin 2015, S. 18

Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als junger Pionieroffizier Einblick in das von den USA vorbereitete "atomare Gefechtsfeld" in Europa. In dieser Zeit erwachte auch sein Interesse an Geopolitik. Nach dem Ausscheiden aus der Bundeswehr studierte er Politikwissenschaft und Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik). 2004 veröffentlichte er zusammen mit Professor Konrad Löw das mittlerweile vergriffene Standardwerk "Pax americana". Zuletzt erschienen von ihm "Deutsche und Juden vor 1939" (2013), "Wiederkehr der Hasardeure" (2014), "Sie wollten den Krieg" und "Geoimperialismus" (beide 2016). Wolfgang Effenberger lebt am Starnberger See.


Mit Dank entnommen aus dem Buch "Europas Verhängnis – Kritische angloamerikanische Stimmen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs" von Wolfgang Effenberger, erschienen im November 2018 im Verlag zeitgeist, Höhr-Grenzhausen, 110 Seiten, Gebunden, 7,90 Euro, ISBN-13: 9783943007206





Siehe auch:

Aus "Europas Verhängnis – Die Herren des Geldes greifen zur Weltmacht"
Wir haben nicht mehr viel Zeit
Von Wolfgang Effenberger
NRhZ 665 vom 27.06.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25000

100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs
Serbien – Spielball der Großmächte
Von Wolfgang Effenberger
NRhZ 683 vom 21.11.2018
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25410

Online-Flyer Nr. 683  vom 21.11.2018



Startseite           nach oben