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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Globales
Das Urteil gegen Ahed Tamimi ist ein Symbol für die Hinfälligkeit und Dekadenz des Zionismus
Was für ein Staat!
Von Arn Strohmeyer

Wie weit muss es mit einem Staat gekommen sein, wenn ein 16jähriges Mädchen zum Inbegriff der Bedrohung des ganzen zionistischen Unternehmens wird! Wie verunsichert und verzweifelt muss dieses politische System sein, dessen oberstes Gebot Sicherheit und noch einmal Sicherheit heißt, wenn es einen Teenager, der einem Soldaten aus Wut für die furchtbaren Untaten der Besatzung eine Ohrfeige verpasst, erst zum Staatsfeind erklärt und dann zu einer achtmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, während die wirklichen Täter, die seit Jahrzehnten die grausame Unterdrückung eines ganzen Volkes durchführen, frei herumlaufen! Was für ein Hohn auf jede Gerechtigkeit – und auf die angebliche Rechtstaatlichkeit der so genannten „einzigen Demokratie im Nahen Osten“!

Sinnlose Brutalität der Besatzung bloßgestellt

Die Wut gegen Ahed Tamimi ist verständlich, denn sie hat die sinnlose Brutalität der ganzen Besatzung bloßgestellt – hat ihr sozusagen die Maske heruntergerissen. Geschieht diese Monstrosität der Unterdrückung eines ganzen Volkes weitgehend im Schutz der Anonymität, so hat dieses Mädchen es geschafft, dem Widerstand gegen das Inhumane ein Gesicht zu geben. Und das zionistische Israel fürchtet in dieser Beziehung nichts mehr als Öffentlichkeit und friedlichen Widerstand. Für die „Schmach“, die Ahed der israelischen Armee, die sich die „moralischste Armee der Welt“ nennt, angetan hatte, forderte der Bildungsminister dieses Staates, Naftali Bennett, sogar ganz ernsthaft „lebenslänglich“. Auch Verteidigungsminister Avgidor Lieberman verlangte eine „äußerst harte Strafe, die für Abschreckung sorgen“ sollte. Und er drohte obendrein noch Strafen für das ganze Umfeld von Ahed Tamimi an, was man in zivilisierten Staaten „Sippenhaft“ nennt.

Aber sie haben es nicht gewagt, Ahed Tamimi in Gegenwart der Weltöffentlichkeit, für die dieses Mädchen inzwischen zum Symbol für den Freiheitskampf der Palästinenser geworden ist, für längere Zeit wegzusperren. Die Strafe von acht Monaten, zu der die Militärrichter sie nun verurteilt haben, ist eine Farce, ein Witz – nichts als ein Akt der Rache für einen Backenstreich, der den Besatzerstaat Israel (nach der offiziellen zionistischen Version gibt es überhaupt keine Besatzung) wie den Kaiser ohne Kleider hat nackt aussehen lassen.

Eine Kennerin der israelischen Verhältnisse hat geschrieben: „Die Militärgerichte sind nicht die Folge der Besatzung, sie sind die Besatzung.“ Und das israelische Militärgerichtssystem hat nur eine Funktion: den Widerstandswillen der Palästinenser zu brechen – auch und gerade den von Kindern. Dass all dies gegen jedes Menschen- und Völkerrecht und gegen jede Idee von Humanität geschieht, stört die Zionisten nicht im Geringsten. Ihnen ist alles erlaubt.

Zu welch perversen Vorfällen das führt, belegt der Fall von Ahed Tamimis Cousin Mohammed. Dem Jungen haben israelische Soldaten, als er an einer Demonstration teilnahm, Teile des Gehirns weggeschossen. Der Junge lebt noch, aber er hat ein völlig zerstörtes Gesicht. Im Militärgefängnis musste er nach seiner erneuten Verhaftung unterschreiben, dass seine Verletzung nicht von den Kugeln der Soldaten stamme, sondern dass er sie sich bei einem Sturz vom Fahrrad zugezogen habe…

Totalitäre Gesellschaft

Es ist so wie der israelische Journalist Gideon Levy schreibt: „Es ist eine totalitäre Gesellschaft – keine Gesellschaft lebt in einer solchen Verleugnung wie Israel.“ Und er fügt hinzu, wie tief der Hass in dieser Gesellschaft gegen die Palästinenser als „Wert“ verwurzelt ist, was wiederum auch den Hass auf Ahed Tamimi erklärt: „Die Palästinenser sind keine menschlichen Wesen, die uns gleichen. Sie lieben ihre Kinder nicht wie wir. Sie lieben das Leben nicht wie wir. Sie wurden geboren, um zu töten, sie sind grausam, sie sind Sadisten, sie haben keine Werte, kein Benehmen.“ Auf solch furchtbarer Dämonisierung pflegte der deutsch-jüdische Psychoanalytiker Erich Fromm mit einer simplen Feststellung zu antworten: „Wenn Paul etwas über Peter aussagt, sagt er am meisten über sich selbst aus, aber nicht über Peter!“ Wie wahr!

Offenbar kann man die israelische Politik ohnehin nur mit den Kategorien der Tiefenpsychologie verstehen. So weist die israelische Psychoanalytikerin Ruchama Marton. (sie gründete in Israel die Gruppe Ärzte für Menschenrechte und erhielt für ihre Aktivitäten 2010 den Alternativen Nobelpreis) auf die Spaltung der Psyche der meisten Israelis hin. Sie schreibt. „Indem man sowohl die äußeren wie die inneren Aspekte des guten Selbst vom bösen Selbst abspaltet, ist es psychologisch möglich, die ungeliebten Teile des eigenen Selbst auf den ‚Anderen‘, das heißt auf die Palästinenser, zu übertragen. Dann kann man die projizierten Teile und Eigenschaften verachten, die ja nun dem ‚Anderen‘ angehören.

Für Ruchama Marton ist die Mauer, die Israel quer durch palästinensisches Land gebaut hat, das Symbol für diese psychische Spaltung: „Die Mauer wird ausschließlich als Akt des Selbstschutzes wahrgenommen, als Schutz vor der wilden Aggression, die man mit den Palästinensern assoziiert. Die Mauer erlaubt dem zionistischen israelischen Kollektiv-Selbst, sich nicht als aggressiv, gewalttätig, grausam, Besitz ergreifend, als Verletzer von Menschenrechten zu sehen, indem alle diese Züge auf die Palästinenser jenseits der Mauer projiziert werden.“ Diesseits der Mauer so – die Analytikerin – leben nach israelischer Auffassung also die Guten und Moralischen, die Bewohner jenseits des Betonwalls sind keine normalen Menschen, sondern Monster, sie sind minderwertig, hässlich, schmutzig gewalttätig und gefährlich.

Man muss diese rassistische Sicht der Israelis auf die Palästinenser, wie sie Ruchama Marton hier darlegt, verstehen, um begreifen zu können, warum der Konflikt zwischen beiden Völkern – von Israel aus gesehen – unlösbar ist, und warum Israel einen Teenager von 17 Jahren, der jenseits der Mauer lebt, zum Staatsfeind Nummer eins erklärt.

Online-Flyer Nr. 652  vom 28.03.2018



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