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Globales
Ein aktueller Tagebuch-Bericht aus Syrien im Sommer 2017
Dafür kann man dem Schicksal nicht dankbar genug sein
Von "Barbara"

August 2017: Wir kommen nach Mitternacht am Beiruter Flughafen an. Die Stadt leuchtet uns von unten entgegen. Das Wetter ist angenehm, nicht so heiß. Am Flughafen erwartet uns schon das syrische Taxi, das uns von unseren Verwandten bestellt worden war. In der Nacht fahren wir ohne Stress und Stau zur syrischen Grenze. Man muss wissen, dass tagsüber Beirut ein einziges Verkehrschaos ist, wo man zu Fuß fast schneller vorwärts kommt als mit dem Auto. An der Grenze ist es richtig kühl, 16 Grad, man überwindet hier den Antilibanon. Ohne Probleme fahren wir an einigen Kontrollposten vorbei und sind gegen 5 Uhr zu Hause, wo das Taxi uns ablädt. Vor allem ist es still und wir hören keine Schüsse oder Kanonendonner. Unsere Wohnung sieht so aus wie die ganzen Jahre zuvor, so, als hätten wir sie erst vor kurzem verlassen. Dafür kann man dem Schicksal nicht dankbar genug sein.

Allerdings ist im verglasten Küchenbalkon das Fenster einen kleinen Spalt breit offen geblieben, was diesen Raum in eine Staub- und Sandablage verwandelt hat. Während die Anderen sich in den sauberen, da gut isolierten Zimmern zum Schlaf niederlegen, bin ich unruhig und um 6 Uhr schon wieder auf, denn 1. haben wir Wasser und 2. Strom. Also stopfe ich gleich ein paar staubige Decken in die Waschmaschine und stelle sie an. Der offene Balkon ist dermaßen verdreckt – Sand, alles was herein geflogen ist, Taubendreck in Mengen, dass ich den Schlauch nehmen muss, um das alles zu beseitigen, schließlich will ich dort ja die gewaschenen Decken aufhängen. Anderthalb Stunden brauche ich zur Generalreinigung, die erst wieder bei meiner nächsten Ankunft so stattfinden wird, denn normalerweise arbeite ich mit Wasser im Eimer angesichts dessen, dass wir ja ein Land mit begrenzten Wasservorräten sind.

Wir werden feststellen, dass das Frischwasser die folgenden Tage erst um 14h30 abgestellt wird und um 5h30 wieder zur Verfügung steht, was wohl mit der Befreiung der Wasserquellen von den humanitären kopfabschneidenden Freiheitskämpfern durch die Armee in Zusammenhang steht.

Die nächsten Tage sind dem Saubermachen der Wohnung und der Fenster gewidmet, aus denen man schon gar nicht mehr herausschauen kann, da sie immer von mir vernachlässigt worden waren. Auch hört man besonders abends und in der Früh Kanonendonner, da die Armee nun in Jobar aufräumt.

Die Atmosphäre in der Stadt ist ganz entspannt. Ich finde mein früheres Damaskus wieder. Anfangs ist es auch nicht gar so heiß. Der Springbrunnen am Omeyyadenplatz ist neu konzipiert, die Verkehrsunterführung wieder hergestellt worden und sie sieht schöner aus als vor der Explosion. Und die Straße am Barada entlang ist verbreitert worden. Auf der anderen Seite des Barada wird das Kindermuseum erbaut.

Und dann haben wir auch weniger Stromsperren, da zum ersten Mal seit 2012 wieder die Internationale Messe von Damaskus stattfindet mit 1500 Teilnehmern aus 47 Ländern. Sie befindet sich etwa 10 km vor dem Internationalen Flughafen an der Autobahn dorthin und hat am Freitag, den 18. August, mit einer Ministerdelegation aus dem Libanon begonnen. Größter Pavillon ist der aus Ägypten. Ab 17 Uhr jeden Tag ist die Messe für die Besucher geöffnet.

Kaum zu glauben: Die Veranstalter haben 20 Busse zur Verfügung gestellt für die Leute, die kein Auto haben. Am ersten Tag kamen 350 000 Personen, so viel wie bei der letzten Messe 2012 insgesamt. Die Veranstalter waren davon völlig überrascht worden. Sie hatten gar nicht genug Eintrittskarten, so dass die später kommenden Besucher gratis Eintritt erhielten. Drei Stunden und mehr mussten die Leute auf einen Bus warten, da sie natürlich die Messe gegen Mitternacht alle zur etwa gleichen Zeit verlassen wollten. Mit den Autos sah es nicht besser aus: Stau auf der Flughafen-Autobahn vom Messegelände bis in die Stadt. Trotzdem waren die Leute voll zufrieden. Nach sechseinhalb Jahren Krieg und Isolierung war das Gefühl wieder da, zur internationalen Gemeinschaft im wirklichen und nicht westlichen Sinne des Wortes zu gehören.

Optimismus in der Bevölkerung

Überhaupt stellt man einen gewissen Optimismus in der Bevölkerung fest und die Leute sind überzeugt, dass es wieder aufwärts geht. Das schlägt sich auch in der Geldentwertung nieder, die seit etwa einem Jahr gestoppt werden konnte.

Zur Eröffnung der Messe ist auch Om Youssef gekommen, eine alte Frau aus Tartous, die zum Symbol des Widerstands geworden ist. Von Anfang an war sie bei allen großen Demonstrationen für die Regierung und gegen die Regime Changer dabei gewesen, sang sich ihre Überzeugung aus dem Herzen und sie verlor auch einen ihrer Söhne in diesem Krieg. Bei der Messe erschien sie mit der syrischen Flagge und sang mit den Sängern mit. Es war rührend anzusehen, wie sie vor der Kamera mit den Leuten um sie herum sang und tanzte.

Am zweiten Tag der Messe gab es „nur“ noch die Hälfte der Besucher vom Vortag. Allerdings ereignete sich am Montag dann ein Zwischenfall, da von den humanitären Kopfabschneidern des Westens eine Rakete aus 20-30 km Entfernung auf das Gelände geschossen wurde und dadurch vier oder fünf Menschen den Tod fanden. In den sozialen Netzwerken entbrannte daraufhin sogleich eine Diskussion darüber, warum man überhaupt die Messe veranstaltete, als ob man nicht irgendwo anders genauso von Geschossen getroffen werden könnte. Schließlich haben die Syrer das schon jahrelang erlebt, auch wenn die westlichen Medien dazu vornehm schweigen, da ihnen syrische Tote nur dann etwas wert sind, wenn sie den Plänen ihrer eigenen Regierungen dienlich sind.

Auf jeden Fall hat das die Leute nicht davon abgehalten, weiterhin zur Messe zu strömen. Eigentlich wollten wir auch dorthin fahren, aber nachdem wir im Fernsehen die Massen gesehen hatten, die sich durch das Messegelände wälzten und überdies die Temperaturen wieder sehr angestiegen waren, hatten wir keine Lust, stundenlang unter der heißen Sonne auf der Autobahn zu verharren, um dann völlig erschöpft und ausgetrocknet auf dem Gelände herumzulaufen. Also haben wir den Besuch auf nächstes Jahr verschoben.

2 247 000 Besucher sind nach zehn Tagen auf der Messe gezählt worden. Am letzten Wochenende der Messe kam noch eine offizielle Parlamentsdelegation aus Jordanien, um wohl wieder wirtschaftliche Bande zu knüpfen. Dazu muss man sagen, dass sehr viele Leute in Jordanien auf Seiten des offiziellen Syriens gewesen waren, das aber nicht offen aussprechen konnten, da das Land ja finanziell völlig vom Tropf seines südöstlichen Nachbarn und dessen atlantischen Befehlsgebers abhängig ist und überdies wirtschaftlich sehr unter seinem eigenen Boykott Syriens gelitten hatte. Die Bauern haben die ersten Tomaten aus dem (warmen) Jordantal, die sie sonst immer im Winter nach Syrien geliefert hatten, auf die Straße gekippt, da sie sie nicht mehr loswurden. Sie konnten sie ja auch nicht in die Türkei oder den Libanon liefern, weil die syrischen Grenzen geschlossen waren und es dadurch zumindest keinen offiziellen Transitverkehr mehr gab. Jetzt spricht man übrigens von einer Wiedereröffnung der Grenze zwischen Jordanien und Syrien in Nassyf. Das wird dann auch den Flüchtlingen helfen, wieder nach Syrien zurückzukehren.

Meine Schwägerin erzählte uns bei einem Besuch von der schrecklichen Zeit ohne Wasser, aber alles wird relativ, wenn man sich vorstellt, wie viele Jahre die Menschen in Aleppo ohne Wasser und ohne Elektrizität auskommen mussten.

Rückkehr in vergangene schöne Zeiten


Inzwischen war ich auch wieder in der Altstadt und es war dort wie schon immer zuvor. Es war wie eine Rückkehr in vergangene schöne Zeiten. Ich muss unbedingt noch einmal dorthin, wenn es weniger heiß ist. Unglaublich, welch pulsierendes Leben es dort gibt. Man wundert sich, wie die Leute trotz der hohen Preise überlebt haben, aber irgendwie wurstelt sich jeder so durch.

Für Ausländer ist alles natürlich sehr billig, aber für die einheimische Bevölkerung eben schon problembehaftet. Trotzdem gibt es eine Menge Angebote an schönen Textilien und Stoffen, die vor Ort hergestellt werden. Die Syrer sind Überlebenskünstler, das haben sie schon während der ganzen Sanktionen der 70er und 80er Jahre des letzten Jahrhunderts nach dem Aufstand und der Mordserie durch die Muslimbrüder bewiesen, die ja von denselben Kräften gesteuert waren wie die aktuelle Krise.

Nach den 10 Messetagen wird wieder verstärkte der Kampf der Armee gegen die Kopfabschneider in der östlichen Ghouta aufgenommen. Vor allem sind ja jetzt zusätzliche Kräfte freigeworden, nachdem der ISIL im Qalamoun ausblutet. Die libanesische Armee ist auf libanesischer Seite mit Hilfe der Amis, wie es offiziell heißt, gegen den ISIL vorgegangen, nachdem Hariri in den VSA gewesen war und um Unterstützung gebettelt hatte. Da muss wohl die Bedingung gestellt worden sein, dass die Medien nicht über die Hezbollahbeteiligung am Kampf schreiben sollten, da danach eine Zensur der Medien diesbezüglich gefallen ist, wie Nasrallah in seiner letzten Rede hervorhob. So brachten viele libanesische Medien nur, dass die libanesische Armee im Libanon mit Ami-Hilfe operiert, die syrische Armee in Syrien in Zusammenarbeit mit der Hezbollah. Allerdings haben sich 50 ISIListen mitsamt Familien der Hezbollah im Grenzgebiet ergeben, weil sie nicht mehr weiter kämpfen konnten. Und später haben sich eindeutig im Libanon nochmal ISIL-Kämpfer der Hezbollah ergeben. Naja, die Amis wollen auch mal ein Erfolgserlebnis vorweisen können, auch wenn es nur auf Schein beruht.

In Hasakeh und Qamishli finden Demonstrationen gegen die Kurden statt, da diese die staatlichen Schulen schließen und die anderen Volksgemeinschaften zwingen wollen, in kurdische Schulen zu gehen. Dazu muss man sagen, dass die Kurden nur in 2 Städten im Norden in der Mehrzahl sind: In Afrin und im sog. Kobane. Das nur zur demokratischen Einstellung gewisser kurdischer Kreise.

In Raqqa hat sich die westliche Koalition dazu entschlossen, alles platt zu machen. Flüchtlinge aus dem Regierungsbezirk Raqqa erzählen, dass selbst in den Dörfern alle Häuser, Schulen, Moscheen platt gemacht werden, dass kein Stein mehr auf dem anderen steht. In der Stadt Raqqa dürfte auch die schöne Altstadt und Sommerresidenz des Kalifen Harun al Rashid nicht mehr existieren mit ihrer runden Stadtmauer in mesopotamischer Ziegelbauweise, die den Archäologen einen Einblick auf die Architektur Bagdads ermöglicht hatte, der alten Freitagsmoschee und dem Qasr al Bint, dem Mädchenpalast. Was von Tell al Tulul am Stadtrand Raqqas noch existiert, wo man die berühmte Raqqa-Keramikware gefunden hatte, keine Ahnung. Was ist von der byzantinischen Pilgerstadt aus Quarzstein, Resafa mit ihren riesigen Wasserzisternen aus der Zeit Kaiser Justinians, ihren Basiliken und dem außerhalb der Stadtmauer liegenden Palastgebäude der Ghassaniden und dem noch nicht ausgegrabenen Palast des Kalifen Hisham übrig? Ich weiß es nicht.

Inzwischen ist das Thermometer in Damaskus auf 38 Grad gestiegen und es ist wieder kein großes Vergnügen, tagsüber aus der Wohnung zu gehen. Deshalb finden die „Ausflüge“ in die Stadt auch am Abend statt und die Geschäfte sind bis spätabends geöffnet. Nur zum Lebensmitteleinkauf gehen die Leute nach draußen, um für Mittag frisches Gemüse und Obst zu haben. Sonst sind die Leute zu Hause oder in der Arbeit oder auf Behördengängen. Auch die Kinder kommen erst am späten Nachmittag heraus, um zu spielen oder zu reden. Vorher ist es einfach zu heiß. Dieser Sommer soll auch besonders heiß sein, bis zu gefühlten 50 Grad soll es gehabt haben. Meistens wird es Anfang September etwas kühler, um die 30-35 Grad, im Oktober dann um die 25-30 Grad. In der 2. Septemberwoche beginnt dann wieder die Schule.

Im Irak ist Tell`Afar fast völlig befreit mit Hilfe der Hashd al Shaabi, auch wenn diese den Amis nicht gefallen. Al Mayadeen berichtet live von dort.

Wir müssen noch einmal in die Stadt und nützen es aus, den Suq Madhat Pasha, d.h. die Gerade Straße und den Suq al Hamidiyeh zu besuchen. Unglaublich viele Menschen sind dort, man merkt, dass das große Opferfest naht, das immer nach der Pilgerfahrt nach Mekka stattfindet. Die Kinder bekommen dann neue Kleidung. Es ist wohl besser, nach dem Fest wieder zurückzukommen, wenn es nicht so voll ist.


Anmerkung von Ursula Behr ("urs"): Danke an die Tagebuchschreiberin als Erste-Hand-Quelle entgegen der unsäglichen Lügenpropaganda und Hetze in den westlichen Medien!


Online-Flyer Nr. 627  vom 06.09.2017



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