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Kommentar
Schalom – Frieden
Ein Wort aus vier Buchstaben
Von Uri Avnery

Wenn ein Brite oder Amerikaner von einem „Wort aus vier Buchstaben“ spricht, meint er einen vulgären sexuellen Ausdruck, ein Wort, das man in guter Gesellschaft nicht ausspricht. In Israel haben wir auch so ein Wort, ein Wort aus vier Buchstaben. Ein Wort, das nicht ausgesprochen werden soll. Dieses Wort ist Schalom, Frieden. (Im Hebräischen ist „sch“ ein Buchstabe und das „a“ wird nicht geschrieben.) Vor Jahren wurde dieses Wort (außer dass es als Gruß benutzt wird) aus dem Verkehr gezogen. Jeder Politiker weiß, dass sein Gebrauch tödlich ist. Jeder Bürger weiß, dass er es nicht benutzen darf. Es gibt viele Wörter als Ersatz: „Politische Vereinbarung“, „Trennung“, „wir sind hier und sie sind dort“, „regionale Abmachung“, um nur einige zu nennen. Und da kommt Donald Trump und bringt das Wort wieder aufs Tapet. Trump in seiner Einfalt weiß nicht, dass es in diesem Land tabu ist. Er will hier Frieden machen. SCH-A-L-O-M. Sagt er. Zwar gibt es nicht die geringste Chance, dass er wirklich Frieden machen wird, aber er hat jedenfalls das Wort in die Sprache zurückgebracht. Jetzt reden die Leute wieder über Frieden. Schalom.
 
FRIEDEN? WAS ist Frieden? Es gibt alle möglichen Arten Frieden. Angefangen mit einem kleinen Frieden, einem Baby-Frieden, bis zu einem großen, ja mächtigen Frieden. Deshalb müssen wir, ehe wir in eine ernsthafte Debatte über Frieden einsteigen, definieren, was wir meinen. Eine Unterbrechung zwischen zwei Kriegen? Kriegsunlust? Existenz auf beiden Seiten von Mauern und Zäunen? Einen verlängerten Waffenstillstand? Eine Hudna (in der arabischen Kultur: ein Waffenstillstand mit festgelegtem Verfallsdatum)? So etwas wie der Frieden zwischen Indien und Pakistan? Der Frieden zwischen Deutschland und Frankreich – und wenn zwischen den beiden, dann der Frieden vor dem Ersten Weltkrieg oder der Frieden, der jetzt herrscht? Der Kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten oder der Heiße Frieden zwischen Vladimir Putin und Donald Trump?

Der Frieden zwischen dem biblischen Isaak und Ismael, als deren Mütter einander hassten, oder der Frieden zwischen Isaak und Ismael, als sie gemeinsam ihren Vater Abraham begruben (Genesis 25)? Es gibt alle möglichen Friedens-Situationen. Von welchem israelisch-palästinensischen Frieden sprechen wir? Dem Frieden zwischen Pferd und Reiter? Dem Frieden zwischen Herrenvolk und Sklavenvolk? Von so etwas wie einem Frieden zwischen dem südafrikanischen Apartheidregime und den Bantustans, die das Regime für die Schwarzen geschaffen hatte? Oder eine ganz andere Form von Frieden, eine auf Augenhöhe? Von eben diesem Frieden will ich sprechen. Nicht von einem „wirklichen“ Frieden. Nicht von einem „vollkommenen“ Frieden. Nicht von einem „vollständigen“ Frieden. Über Frieden. Frieden pur und einfach. Bitte ohne Eigenschaftswörter.
 
WANN HAT eigentlich alles angefangen? Der Konflikt, der jetzt das Leben der beiden Völker bestimmt, wann hat er angefangen? Schwer zu sagen. Es ist einfach zu sagen: Er begann, als die ersten jüdischen Einwanderer diese Gestade betraten. Das klingt einfach. Aber es ist nicht wahr. Anscheinend erregten die vorzionistischen BILU-Einwanderer, die in den frühen 1800er Jahren herkamen, keine Feindschaft. Ich habe darüber eine Theorie: Einige Zeit bevor die BILU (Akronym von „Geht, Söhne Jakobs [nach Palästina]!“) hierher kamen, siedelte die religiöse deutsche Sekte der Templer im Land. Die Templer hatten keine politischen Ziel, sondern nur eine religiöse Vision. Sie errichteten Musterdörfer und –Städte und die Einheimischen waren ihnen dafür dankbar. Als die ersten Juden kamen, dachten die Einheimischen, sie seien auch so. Dann entstand die zionistische Bewegung, deren Mitglieder eindeutig politische Ziele hatten. Zwar sprachen sie nur von einer „nationalen Heimstätte“, aber der Gründer Theodor Herzl hatte zuvor ein Buch mit dem Titel Der Judenstaat veröffentlicht. Eine Zeit lang war das Ziel verborgen, weil das Land zum Osmanischen Reich gehörte.

Nur sehr wenigen Angehörigen der lokalen Bevölkerung war von Anfang an klar, dass dies eine tödliche Gefahr für sie war. Eine große Mehrheit der Muslime sah die Juden nur als eine unterlegene religiöse Gemeinschaft an, die zu schützen der Prophet ihnen befohlen hatte. Wann hat der Konflikt also angefangen? Darüber gibt es verschiedene Theorien. Ich übernehme die Theorie des fast vergessenen Historikers Aharon Cohen. Er hat auf ein besonderes Ereignis hingewiesen. 1908 brach die Revolution der Jungtürken aus. Das islamische Osmanische Reich wandelte sich zu einem nationalistischen Staat. Als Reaktion darauf erstand in Palästina und den Nachbarländern eine arabische Nationalbewegung, die die „Dezentralisierung“ des Reiches forderte: Das Reich sollte seinen vielen Völkern Autonomie gewähren. Ein lokaler arabischer Führer machte dem Vertreter der Zionisten in Jerusalem ein verführerisches Angebot: Wenn die Juden die arabische Bewegung unterstützen würden, dann würden die Araber die Einwanderung der Zionisten unterstützen.

In großer Aufregung eilte der Vertreter der Zionisten zum Führer der zionistischen Weltbewegung, dem deutschen Juden Max Nordau, und drängte ihn, das Angebot anzunehmen. Aber Nordau behandelte das Angebot mit Verachtung. Schließlich gehörte das Land ja den Türken. Was hätten denn die Araber anzubieten? Man kann sich nur schwer vorstellen, wie die Geschichte sich entwickelt hätte, wenn eine solche zionistisch-arabische Zusammenarbeit zustande gekommen wäre. Aber ein europäischer Jude konnte sich eine solche Wendung der Ereignisse nicht vorstellen. Deshalb arbeiteten die Zionisten mit dem türkischen – und später mit dem britischen – Kolonialregime gegen die arabische Bevölkerung zusammen. Seitdem hat sich der Konflikt zwischen den beiden Völkern von Generation zu Generation verschärft. Jetzt ist der Frieden weiter entfernt denn je.
 
ABER WAS ist Frieden? Man kann die Vergangenheit nicht auslöschen. Jeder, der vorschlägt, wir sollten die Vergangenheit ignorieren und „von vorn anfangen“, ist ein Träumer. Jedes der beiden Völker lebt in seiner eigenen Vergangenheit. Die Vergangenheit formt täglich und stündlich seinen Charakter und sein Verhalten. Aber die Vergangenheit der einen Seite ist von der Vergangenheit der anderen vollkommen verschieden. Es ist nicht nur ein Krieg zwischen zwei Völkern. Es ist auch ein Krieg zwischen zwei Geschichtsauffassungen. Diese beiden Auffassungen widersprechen einander in fast jeder Einzelheit, obwohl sie dieselben Ereignisse betreffen.

Zum Beispiel: Jeder Zionist weiß, dass die Juden bis zum Krieg von 1948 Land für gutes Geld erworben haben. Dieses Geld wurde von Juden in aller Welt beigesteuert. Jeder Araber weiß, dass die Zionisten das Land von abwesenden Landbesitzern gekauft haben, die in Haifa, Beirut oder Monte Carlo wohnten, und dass sie dann von der türkischen (und später von der britischen) Polizei gefordert hatten, die Fellachen, die das Land seit vielen Generationen bebaut hatten, zu vertreiben. (Alles Land hatte ursprünglich dem Sultan gehört, aber als das Reich bankrott war, verkaufte der Sultan das Land an arabische Spekulanten.)

Noch ein Beispiel: Jeder Jude ist stolz auf die Kibbuzim. Sie sind eine einzigartige Leistung des menschlichen Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit und sie wurden häufig von ihren arabischen Nachbarn angegriffen. Für die Araber waren die Kibbuzim lediglich ein sektiererisches Werkzeug für Vertreibung und Deportierung.

Ein drittes Beispiel: Jeder Jude weiß, dass die Araber den Krieg von 1948 angefangen haben, um die jüdische Gemeinschaft zu vernichten. Jeder Araber weiß, dass die Juden in diesem Krieg das halbe palästinensische Volk gewaltsam aus seiner Heimat vertrieben haben. Und so weiter: Heutzutage glauben die Israelis, dass die Palästinensische Behörde, die den Familien der „Mörder“ monatlich ein Gehalt zahlt, den Terrorismus unterstütze. Die Palästinenser glauben, dass die Behörde verpflichtet sei, die Familien zu unterstützen, deren Söhne und Töchter ihr Leben für ihr Volk geopfert haben.

Und so weiter, ohne Ende. (Übrigens bin ich stolz darauf, dass ich die einzige wissenschaftlich vernünftige Definition für „Terrorist“ erfunden habe, eine Definition, die beide Seiten akzeptieren: „Freiheitskämpfer sind auf meiner Seite, Terroristen auf der anderen Seite.“)
 
SOLANGE die beiden Völker die historische Narration der anderen Seite nicht kennen, wird es keinen Frieden geben. Akzeptieren müssen sie die Narration der jeweils anderen Seite nicht. Sie können ihr sogar vollständig widersprechen. Aber beide Völker müssen sie kennen, damit sie einander verstehen und achten können. Frieden muss sich nicht auf gegenseitige Liebe gründen, wohl aber muss er sich auf gegenseitige Achtung gründen. Gegenseitige Achtung kann nur entstehen, wenn beide Völker die historische Narration der jeweils anderen Seite kennen. Wenn sie sie verstehen, werden sie auch verstehen, warum das andere Volk so handelt, wie es handelt, und sie werden verstehen, was für eine friedliche Koexistenz notwendig ist. Das wäre viel einfacher, wenn alle jüdischen Israelis Arabisch und alle palästinensischen Araber Hebräisch lernen würden. Das würde das Problem natürlich nicht lösen, aber es würde eine Lösung sehr erleichtern.

Wenn beide Völker verstehen, dass die jeweils andere Seite kein blutdurstiges Ungeheuer ist, sondern aus natürlichen Motiven handelt, werden sie viel Positives in der Kultur der anderen Seite entdecken. Persönliche Kontakte und vielleicht sogar Freundschaften würden entstehen. Das geschieht in Israel bereits, wenn auch in kleinem Maßstab. Zum Beispiel in der akademischen Welt. Und in Krankenhäusern. Viele jüdische Patienten sind überrascht, wenn sie entdecken, dass ihr freundlicher und kompetenter Arzt Araber ist und dass viele arabische Pfleger einfühlsamer als jüdische sind. Das kann das Angehen der realen Probleme nicht ersetzen. Unsere beiden Völker sind durch reale und gewichtige Streitfragen getrennt. Es gibt ein Problem mit Land, mit Grenzen, mit Flüchtlingen. Es gibt Probleme mit Sicherheit und unzähligen anderen Themen. Ein Krieg von mehr als hundert Jahren kann nicht ohne schmerzhafte Kompromisse beendet werden. Wenn es eine Grundlage von Verhandlungen auf Augenhöhe und eine Grundlage gegenseitiger Achtung gibt, werden unlösbare Probleme plötzlich zu lösbaren Problemen.
 
ABER DIE Voraussetzung für diesen Prozess ist die Rückkehr des Wortes aus vier Buchstaben in unsere Sprache. Es ist unmöglich, etwas Großes, etwas Historisches zu tun, wenn man nicht daran glaubt, dass es möglich ist. Niemand wird eine elektrische Leitung unter Putz legen, wenn er nicht glaubt, dass er an das Elektrizitätsnetz angeschlossen wird. Er muss glauben, dass die Lichter angehen werden. Niemand wird Friedensverhandlungen beginnen, wenn er glaubt, dass Frieden unmöglich ist. Der Glaube an Frieden an sich schafft noch keinen Frieden. Aber wenigstens macht er Frieden möglich.


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Online-Flyer Nr. 619  vom 28.06.2017



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