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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Kommentar
Marwan Barghuti
Palästinas Nelson Mandela
Von Uri Avnery

ICH MUSS ein Geständnis ablegen: Ich mag Marwan Barghuti. Ich habe ihn einige Male in seinem bescheidenen Haus in Ramallah besucht. In unseren Gesprächen ging es um den israelisch-palästinensischen Frieden. Wir hatten dieselben Gedanken: den Staat Palästina neben dem Staat Israel und Frieden zwischen beiden Staaten zu schaffen, der sich auf die Grenzen von 1967 (mit kleinen Angleichungen) gründen sollte, zwei Staaten mit offenen Grenzen und Kooperation. Das war kein Geheimabkommen. Barghuti hat seinen Vorschlag viele Male wiederholt, sowohl im Gefängnis als auch außerhalb des Gefängnisses. Ich mag auch seine Frau Fadwa. Sie ist Rechtsanwältin, widmet ihre Zeit jedoch ganz dem Kampf um die Freilassung ihres Mannes. Bei dem Begräbnis Yasser Arafats, zu dem sehr viele Leute gekommen waren, stand ich zufällig neben ihr und sah ihr tränenüberströmtes Gesicht. In dieser Woche begann Barghuti mit etwa tausend weiteren palästinensischen Gefangenen in Israel einen unbegrenzten Hungerstreik. Ich habe gerade eine Petition für seine Freilassung unterschrieben.

MARWAN BARGHUTI ist ein geborener Führer. Trotz seiner kleinen Statur fällt er in jeder Versammlung auf. In der Fatah-Bewegung wurde er zum Führer der Jugendabteilung. (Das Wort „Fatah“ sind die Anfangsbuchstaben von „palästinensische Freiheitsbewegung“ in umgekehrter Reihenfolge.) Die Barghutis sind ein weit verbreitetet Clan, der einige Dörfer in der Nähe von Ramallah beherrscht. Marwan wurde 1959 im Dorf Kobar geboren. Sein Vorfahre Abd-al-Jabir al-Barghuti führte 1834 einen Aufstand der Araber an. Seinen Vetter Mustafa Barghuti, der ein Aktivist für Demokratie ist, habe ich bei vielen Demonstrationen getroffen und wir litten gemeinsam unter dem Tränengas.

Omar Barghuti ist einer der Führer der internationalen antiisraelischen Boykott-Bewegung. Vielleicht ist mir Marwan wegen einiger Ähnlichkeiten in unserer Jugend besonders sympathisch. Er trat im Alter von 15 Jahren der palästinensischen Widerstandsbewegung bei, im selben Alter, in dem ich war, als ich 35 Jahre vor ihm in die hebräische Untergrundbewegung eintrat. Meine Freunde und ich betrachteten uns als Freiheitskämpfer, wurden von den britischen Behörden jedoch als „Terroristen“ bezeichnet. Dasselbe ist jetzt Marwan widerfahren – in seinen Augen und in den Augen der großen Mehrheit des palästinensischen Volkes ist er ein Freiheitskämpfer, in den Augen der israelischen Behörden dagegen ein „Terrorist“. Als er im Bezirksgericht in Tel Aviv vor Gericht gestellt wurde, versuchten meine Freunde und ich – wir alle gehörten zur israelischen Friedensbewegung Gusch Schalom (Friedensblock) – im Gerichtssaal unsere Solidarität mit ihm zu zeigen. Wir wurden von bewaffneten Wächtern hinausgeworfen. Einer meiner Freunde verlor bei diesem glorreichen Kampf einen Zehennagel.

VOR JAHREN nannte ich Barghuti den „palästinensischen Mandela“. Trotz den Unterschieden in Körpergröße und Hautfarbe gab es eine grundlegende Ähnlichkeit zwischen den beiden: Beide waren Männer des Friedens, sie rechtfertigten jedoch den Einsatz von Gewalt gegen ihre Unterdrücker. Während sich das Apartheidregime in Südafrika jedoch mit der Verurteilung zu einem Mal lebenslänglich begnügte, wurde Barghuti zu lächerlichen fünfmal lebenslänglich und weiteren 40 Jahren verurteilt – für Gewaltakte, die seine Fatah Tanzim-Bewegung ausgeführt hatte.

(Gusch Schalom veröffentlichte diese Woche eine Erklärung, in der es hieß, nach derselben Logik hätte Menachem Begin von den Briten für seinen Bombenanschlag auf das König-David-Hotel zu 91mal lebenslänglich verurteilt werden müssen. Dabei verloren 91 Menschen das Leben, darunter viele Juden.) Und noch eine Ähnlichkeit zwischen Mandela und Barghuti gibt es: Als das Apartheidregime durch eine Verbindung von „Terrorismus“, Streiks mit Einsatz von Gewalt und weltweitem Boykott vernichtet wurde, erstand Mandela als der natürliche Führer des neuen Südafrikas. Viele erwarten, dass Barghuti, sobald der palästinensische Staat errichtet worden ist, nach Mahmoud Abbas dort Präsident wird.

Seine Persönlichkeit weckt Vertrauen und macht ihn zum natürlichen Schlichter innerer Konflikte. Angehörige der Hamas, die die Gegner der Fatah sind, sind durchaus geneigt, auf Marwan zu hören. Er ist der ideale Vermittler zwischen den beiden Bewegungen. Vor ein paar Jahren unterzeichneten viele Gefangene, die den beiden Organisationen angehörten, eine gemeinsame Forderung nach nationaler Einheit und stellten konkrete Bedingungen auf. Daraus wurde nichts. Das kann übrigens ein zusätzlicher Grund für die Ablehnung eines jeden Vorschlags, Barghuti freizulassen, durch die israelische Regierung sein,  auch als ein Gefangenenaustausch eine praktische Gelegenheit dafür bot. Barghuti in Freiheit könnte ein starker Mittelsmann für die Einheit Palästinas werden, und das ist das Letzte, was die israelischen Oberherren wollen.

Divide et impera – „teile und herrsche“ – ist seit der römischen Zeit ein leitendes Prinzip eines jeden Regimes, das ein anderes Volk unterdrückt. Damit waren die israelischen Behörden unglaublich erfolgreich. Die politische Geografie bot die besten Voraussetzungen: Das Westjordanland ist durch ein etwa 50 Kilometer breites israelisches Gebiet vom Gazastreifen abgeschnitten. Die Hamas gewann den Gazastreifen durch Wahlen und Gewalt und weigert sich, die Führung der PLO (Palästinensische Freiheits-Organisation) zu akzeptieren. Letztere ist eine Vereinigung von eher säkularen Organisationen und regiert das Westjordanland. Das ist für nationale Befreiungsorganisationen keine ungewöhnliche Situation. Gewöhnlich spalten sie sich zur großen Freude ihrer Unterdrücker in extremere und weniger extreme Flügel auf. Das Letzte, was die israelische Regierung tun wird, ist, Barghuti freilassen, denn damit würde sie ihm ermöglichen, die nationale Einheit der Palästinenser wiederherzustellen. Gott behüte.

DIE GEFANGENEN im Hungerstreik fordern nicht ihre Freilassung, sondern bessere Haftbedingungen. Sie fordern unter anderem häufigere und längere Besuche von Ehefrauen und Familie, ein Ende der Folter, besseres Essen und dergleichen. Sie gemahnen uns auch, dass eine „Besatzungsmacht“ gemäß dem Völkerrecht Gefangene aus den besetzten Gebieten nicht ins Heimatland der Besetzer bringen darf. Genau das aber geschieht mit fast allen palästinensischen „Sicherheitsgefangenen“.

Letzte Woche veröffentlichte die New York Times einen Kommentar von Barghuti, in dem er diese Forderungen formulierte. Dass sie das tat, zeigt ihre bessere Seite. In der Redaktionsnotiz wird der Autor als palästinensischer Politiker und Parlamentsabgeordneter bezeichnet. Das war mutig von der Zeitung. (Damit stellte sie so ungefähr ihr Ansehen bei mir wieder her, das sie durch die Verurteilung Bashar al-Assads dafür, dass er Giftgas eingesetzt hätte, verspielt hatte – und das ohne die Spur eines Beweises.) Aber Mut hat seine Grenzen. Schon am nächsten Tag veröffentlichte die NYT eine Redaktionsnotiz, in der festgestellt wird, Barghuti sei wegen Mordes verurteilt worden. Es war eine jämmerliche Kapitulation gegenüber dem zionistischen Druck.

Der Mann, der diesen Sieg für sich in Anspruch nahm, ist ein Individuum, das ich besonders widerwärtig finde. Er heißt Michael Oren und ist jetzt Vizeministerpräsident in Israel, wurde jedoch in den USA geboren und gehört zu der Untergruppe amerikanischer Juden, die Super-super-Patrioten Israels sind. Er nahm die israelische Staatsangehörigkeit und einen israelischen Namen an, um israelischer Botschafter in den USA zu werden. In diesem Amt erregte er dadurch besondere Aufmerksamkeit, dass er eine besonders bösartige anti-arabische Rhetorik benutzte. Sie war so extrem, dass dagegen sogar Benjamin Netanjahu gemäßigt wirkte.

Ich bezweifele, dass dieser Mensch jemals irgendein Opfer für seinen Patriotismus gebracht hat, im Gegenteil: Er hat daraus eine glänzende Karriere gemacht. Er spricht voller Verachtung von Barghuti, der einen großen Teil seines Lebens im Gefängnis und im Exil zugebracht hat. Er nennt Barghutis Artikel in der New York Times einen „journalistischen Terrorakt“. Das muss gerade er sagen.

EIN HUNGERSTREIK ist eine sehr mutige Tat. Er ist die letzte Waffe der am wenigsten geschützten Menschen auf der Erde – der Gefangenen. Die abscheuliche Margaret Thatcher ließ zu, dass Iren im Hungerstreik im Gefängnis verhungerten. Die israelischen Behörden wollten die Palästinenser im Hungerstreik zwangsernähren. Die israelische Ärzte-Vereinigung verweigerte – verdienstvollerweise – die Zusammenarbeit, da dergleichen in der Vergangenheit zum Tod der Opfer geführt hatte. Das setzte dieser Art von Folter ein Ende. Barghuti fordert, dass die palästinensischen politischen Gefangenen als Kriegsgefangene behandelt werden. Unmöglich! Jedenfalls sollte man fordern, dass alle Gefangenen menschlich behandelt werden. Das bedeutet, dass der Freiheitsentzug die einzige Strafe sein sollte und dass in den Gefängnissen bestmögliche Bedingungen herrschen sollten.

In einigen israelischen Gefängnissen scheint eine Art modus vivendi zwischen den Gefängnisbehörden und den palästinensischen Gefangenen gefunden worden zu sein. In anderen nicht. Dort hat man den Eindruck, dass das Gefängnispersonal der Feind der Gefangenen ist und ihnen das Leben so schwer wie möglich macht. Das ist jetzt als Reaktion auf den Streik schlimmer geworden. Diese Politik ist grausam, illegal und kontraproduktiv. Gegen einen Hungerstreik kann man nicht gewinnen. Die Gefangenen müssen gewinnen, besonders wenn die Anständigen in aller Welt zuschauen. Vielleicht sogar die NYT. Ich warte auf den Tag, an dem ich Marwan als freien Mann in seiner Wohnung in Ramallah besuchen kann. Umso mehr, wenn Ramallah zu jener Zeit eine Stadt in einem freien Staat Palästina ist.


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Online-Flyer Nr. 610  vom 26.04.2017



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