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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Literatur
Teheran, Ende November 1978
Sonne der Mitternacht
Von Nader Naderpour (1929-2000), sinngemäß übersetzt aus dem Persischen von Afsane Bahar

1
Der Mann sagte:
„Die Sonne wird in jener Ecke aufgehen.“
(Er zeigte mit seiner Fingerspitze auf einen Punkt.)
Wir blickten in jener Richtung:
ein roter Punkt brannte in der vernebelten Ferne der Nacht.
Der Mann sagte:
„Die Sonne wird ab jetzt nicht mehr der alte Wüstenwanderer sein,
der die Morgenröte mit dem Abendrot verbindet,
sondern er wird ein groß gewachsener Jüngling sein mit schmaler Taille,
mit Weizen farbenem Haar und goldenen Augen,
der ein Seidenkleid trägt so rein und klar wie Salz und Licht,
der eine Halbkrone aufgesetzt hat wie der Kamm von Wiedehopfen,
der Stiefeln angezogen hat, roter als Entenfüße,
der ein Pferd reitet und nicht rastet,
um euch zum Besichtigen der Welt aufzurufen.
In meiner Vorstellung sah ich die ganze junge Sonne,
das Entzücken der Begegnung war so groß, dass ich weinte ...

2
Obwohl wir sahen, dass die Nacht durch und durch dunkel war,
sagte der Mann: „Jenes Wunder ist nah.“
So blickten wir nochmal in der Richtung, die er zeigte:
auf einmal entfachte der Blitz ein Feuer an jenem versprochenen Ort,
ein Teil der dunklen Nacht verbrannte in jenem blutigen Feuer.
Ein Greis trat aus der Flamme heraus:
unter seinem Hut, der der jüdischen Hauptbedeckung glich,
verbreitete er das Haar wie Stroh um seinen Kopf,
er trug einen Ghaba,*
der den Sklaven der vergangenen Zeiten gehörte,
sein fetter Körper war klein,
sein roter, zorniger Blick war weinend,
sein lahmes Bein war wie bei jenem alten Wüstenwanderer nackt,
seine verbrannte Klaue war voller Blut.
Im Horizont weilte er ein Moment wie der erste Morgen,
danach machte er eine Kehrtwende.
Wir alle sahen die falsche Sonne in der Mitternacht,
das Weinen war so heftig, dass ich lachte ...


* Ghaba ist eine lange Männerbekleidung im Iran.

Online-Flyer Nr. 603  vom 08.03.2017



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