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Kultur und Wissen
Zunehmende Schreckensmeldungen sollten uns nicht lähmen vor Angst
Angst ist kein guter Ratgeber
Von Rudolf Hänsel

Bereits zu Jahresbeginn blickte die Mehrheit der Deutschen mit Angst ins neue Jahr. Humanitäre Krisen, weltweite Terroranschläge sowie große Unzufriedenheit mit den Volksvertretern hatten im Vergleich zu den Vorjahren einen erdrutschartigen Stimmungsumschwung bewirkt. Seitdem die Terroranschläge verstärkt in unseren Nachbarländern und seit neuestem auch in unserem eigenen Land Schrecken und Verunsicherung auslösen, haben sich diese Ängste verstärkt. Vor Terrorismus fürchten sich heute bereits drei Viertel der Deutschen. Obwohl diese Reaktion nachvollziehbar ist, sollten die vermehrten Schreckensmeldungen uns Bürger nicht lähmen vor Angst, denn Angst ist kein guter Ratgeber. Vernünftiger wäre es, die Ursachen von erschreckenden politischen Ereignissen geopolitisch richtig einzuordnen, sich auf die eigenen Kräfte zu besinnen und sie zu mobilisieren, Mut und Zivilcourage zu zeigen und mit Gleichgesinnten gegen das Unrecht in der Welt aufzustehen. Die derzeitigen Friedensmärsche zehntausender ukrainischer Pilger nach Kiew sind ein Beispiel hierfür.

Bedrohungen unterschiedlicher Art nehmen zu

Die blutigen Terroranschläge im Nahen und Mittleren Osten, seit einiger Zeit auch in unserer Nachbarschaft und nun im eigenen Land sind jedoch nicht die einzigen Bedrohungen, die bei Jung und Alt Ängste auslösen. Das „Säbelrasseln“ der US-NATO an der russischen Grenze – 75 Jahre nach dem Überfall der Sowjetunion im Sommer 1941 mit maßgeblicher deutscher Beteiligung –, die durch Krieg und Armut ausgelösten unendlichen Flüchtlingsströme, die auch für unser Land eine kaum zu lösende menschliche, politische und wirtschaftliche Herausforderung darstellen und die weltweite exorbitante militärische Aufrüstung vor allem des Westens bewirken ein Übriges. So plant das US-Kriegsministerium laut „Global Research“ vom 8. Juli 2016 („The Doomsday Forum“) ein „Eine-Billion-Atomwaffenprogramm“ mit dem Ziel eines präemptiven (zuvorkommenden, vorbeugenden) Einsatzes von Kernwaffen gegen Russland, den Iran und Nordkorea. Russland ist in den Augen amerikanischer Kriegstreiber angeblich eine „Bedrohung der westlichen Welt“ und ein Atomkrieg wird deshalb als Mittel der Selbstverteidigung gesehen.

Schockierende Ereignisse können starke Ängste auslösen

Angst ist ein menschliches Grundgefühl, ein biologisch verankerter Mechanismus, der uns vor Gefahren schützt. Sie schärft die Wahrnehmung und lässt uns nach Informationen oder Lösungen suchen. Aber das, was derzeit passiert, löst bei vielen Mitmenschen sehr starke bis irrationale Ängste aus, die sie oft nur schwer kontrollieren können. Das bisherige Gefühl, in einem sicheren Land zu leben, ist verloren gegangen. So treibt die Angst vor Terroranschlägen Bürger massenweise in Waffengeschäfte. Die Zahl der „kleinen Waffenscheine“ für Reizstoff- und Schreckschusswaffen ist in Deutschland im ersten Halbjahr sprunghaft um fast 50 Prozent gestiegen. Solange die Selbstmordkommandos im Irak, in Afghanistan, Nordafrika oder Syrien zuschlugen, hat uns das nicht weiter berührt. Es waren verrückte Islamisten aus einem anderen Kulturkreis, der Ort des Geschehens war weit weg. Seitdem der Terror jedoch näher gekommen ist, mörderische Anschläge uns wie Blitze aus heiterem Himmel an irgendeinem beliebigen Ort treffen können und erste Todesopfer fordern, sind Verunsicherung und Angst plötzlich tägliche Begleiter geworden.

Angst ist kein guter Ratgeber

Die Angst kann ihre evolutionsgeschichtliche Funktion als ein die Sinne schärfender Schutzmechanismus nur dann erfüllen, wenn weder zu viel Angst das Handeln blockiert noch zu wenig Angst reale Gefahren und Risiken ausblendet. Starke Ängste sind also kontraproduktiv, weil sie uns lähmen und zu falschen Schlussforderungen verleiten können. Die individuellen Erscheinungsformen sind vielfältig: Der eine will von all dem Schrecklichen in der Welt nichts mehr wissen, steckt den Kopf in den Sand oder zieht sich von seinen Mitmenschen zurück. So ein Verhalten kann aber einsam und unaufmerksam machen und Ängste irrational verstärken. Ein anderer wird vielleicht in der Weise aktiv, dass er sein Haus oder seine Wohnung über die Maßen sichert und sich selbst mit Reizgas- oder Schreckschusswaffen eindeckt. Eingeschüchterte Bürger wenden sich oft auch Bürgerbewegungen oder Parteien zu, die ihnen vermeintlich Schutz und Sicherheit versprechen. Das kann bis hin zur Sehnsucht nach einem starken Führer bzw. Staatsmann führen, wie uns das Beispiel Türkei momentan zeigt. So genannte Verschwörungstheoretiker sind gar der Auffassung, dass Terroranschläge False-Flag-Operationen der jeweiligen Staatsregierung sein könnten, um gezielt Ängste in der Bevölkerung auszulösen. Verängstigte Bürger ließen sich nämlich leichter regieren, nähmen „außergewöhnliche Maßnahmen“ wie die Verhängung von Notstandsgesetzen und die Einschränkung demokratischer Freiheiten bereitwilliger hin.

Angst und Furcht können auch positive Kräfte mobilisieren

Angst ist nicht nur eine lähmende, sondern auch eine mobilisierende Emotion. Und zwar dann, wenn wir uns auf eine Gefahrensituation realistisch einstellen, sie weder überhöhen, noch bagatellisieren. Viele sind dann zu Leistungen fähig, die ihnen unter normalen Umständen nicht möglich gewesen wären. Sie wachsen in schwierigen Zeiten über sich hinaus; die Angst verleiht ihnen Flügel. Eine stabile psychische Konstitution, eine positive Lebenserfahrung im Umgang mit schwierigen Situationen und die richtige Einordnung erschreckender Vorkommnisse sind sicher eine wichtige Voraussetzung dafür. Ist man sich zum Beispiel bewusst, dass  Terroranschläge in erster Linie ein Resultat der militärischen Beteiligung an nicht enden wollenden Kriegen im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika sind, weiß man, dass es eine Lösung dieses schwerwiegenden Problems gäbe, wenn man sie wollte: diese Kriege sowie die Ausbeutung und Diskriminierung eines Großteils der Menschheit müssten sofort beendet und Wiedergutmachung geleistet werden. Die leiseste Hoffnung auf eine Problemlösung kann uns befähigen, dass wir uns auf die eigenen Kräfte besinnen und sie mobilisieren, dass wir Mut und Zivilcourage aufbringen und mit Gleichgesinnten gegen das Unrecht in der Welt aufstehen. Die furchtlosen Friedensmärsche zehntausender orthodoxer Christen nach Kiew, um gewaltlos gegen miserable Lebensumstände und den Krieg im Donbass zu protestieren, sind nur ein Beispiel von vielen.

Wie auf die Ängste unserer Jugend reagieren?

Unsere Kinder und Jugendlichen bekommen über Nachrichtensendungen in Radio und Fernsehen, über die sozialen Medien, über Gespräche der Erwachsenen und in Gesprächen mit Freunden die Terroranschläge, die Kriege und das Flüchtlingselend in der Welt selbstverständlich mit. Kinder- und Jugendstudien haben auf dieses Problem aufmerksam gemacht. Die Shell Jugendstudie sprach 2015 von einer angewachsenen Sorge in Bezug auf die internationale Politik. Demnach hatten 73 Prozent der 12- bis 25jährigen Angst vor möglichen Terroranschlägen und 62 Prozent vor möglichen Kriegen in Europa. Nach der World Vision Kinderstudie hatten bereits 2013 nahezu 40 Prozent der Kinder Angst vor Ausbruch eines Krieges. Eltern und Erzieher müssen deshalb alles versuchen, mit den Kindern und Jugendlichen über die Ereignisse um sie herum ins Gespräch zu kommen, ihnen Erklärungen anzubieten für die Geschehnisse, sie aufzuklären, ihnen die bestehenden Terror- und Kriegsängste und damit einhergehende Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit zu nehmen, der Jugend eine menschliche Anlaufstelle und Schutz zu bieten. Im Elternhaus wie in der Schule müsste der Jugend u.a.  vermittelt werden, dass Krieg, Gewalt, Terror kein Naturgesetz seien, dass der Mensch von Natur aus nicht böse sei, sondern dass irregeleitete Menschen dieses Unheil anrichten. Würden Werte wie Gewaltlosigkeit, Solidarität, Kooperation, Mitgefühl und Gemeinschaftsgefühl bereits in der Kinderstube gelegt und in der Schule bestätigt werden, sähe die Welt heute anders aus. Eine aufgeklärte und friedensfähige Jugend könnte dann dazu beitragen, die Welt in eine andere Bahn zu lenken.


Dr. Rudolf Hänsel ist Erziehungswissenschaftler und Diplom-Psychologe. Sie erreichen ihn unter www.psychologische-menschenkenntnis.de.

Online-Flyer Nr. 573  vom 03.08.2016



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