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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Kommentar
Vorwürfe gegen den Totengräber Israels
Belanglose Korruption
Von Uri Avnery

VOR VIELEN Jahren bekam ich einmal einen Anruf aus dem Büro des Ministerpräsidenten. Man sagte mir, Jizchak Rabin wolle mich unter vier Augen sprechen. Rabin machte mir selbst die Tür auf. Er war allein in der Wohnung. Er führte mich zu einem bequemen Sessel, füllte zwei große Gläser, eines für mich und eines für sich, mit Whisky und kam – er verabscheute Small Talk – ohne Umschweife zur Sache: „Uri, hast du beschlossen, alle Tauben in der Arbeitspartei umzubringen?“ Mein Nachrichtenmagazin Haolam Hazeh führte eine Kampagne gegen Korruption durch und hatte zwei bekannte Führer der Arbeitspartei, den neuen Präsidenten der Zentralbank und den Wohnungsbauminister, der Korruption beschuldigt. Beide gehörten tatsächlich dem gemäßigten Flügel der Partei an. Ich erklärte Rabin, dass ich im Kampf gegen Korruption bei Politikern keine Ausnahme machen könne, auch wenn sie meinen politischen Ansichten nahe ständen. Korruption war eine Sache, politische Überzeugung eine andere. 

DIE ERSTE Generation der Gründer Israels war frei von Korruption. Korruption war damals undenkbar. Tatsächlich wurde der Purismus bis zum Äußersten getrieben. Einmal wurde ein bekannter Führer der Arbeitspartei dafür kritisiert, dass er in einer Jerusalemer Vorstadt eine Villa für sich gebaut hatte. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf Korruption. Er hatte das Geld geerbt. Aber es wurde als Skandal angesehen, dass ein Führer der Arbeitspartei in einer privaten Villa leben würde. Ein „Kameraden-Gericht“ beschloss, ihn aus der Partei auszuschließen, und das war dann das Ende seiner Karriere. Zur selben Zeit wurde für den Außenminister eine offizielle Residenz gebaut, damit er ausländische Würdenträger in einer anständigen Umgebung empfangen könnte. Der damalige Minister Mosche Scharett fand es falsch, seine eigene private Wohnung zu behalten, und deshalb verkaufte er sie und spendete das Geld einigen wohltätigen Vereinen.

Staat aufgrund göttlichen Rechts ihr Eigentum

DIE NÄCHSTE Generation war ganz anders. Sie benahm sich, als wäre der Staat aufgrund göttlichen Rechts ihr Eigentum. Ihr typischster Vertreter war Mosche Dajan. Er war im Land geboren und David Ben-Gurion hatte ihn zum Stabschef ernannt. In dieser Eigenschaft ordnete er einige grenzüberschreitende „Vergeltungs-Überfälle“ an und dann 1956 den Angriff auf Ägypten, der mit einem durchschlagenden Sieg endete. (Hinter dem Rücken der ägyptischen Armee hatte ihn die französisch-britische Invasion des Suez-Kanal-Gebietes mit herbeigeführt.) Dajan war Amateurarchäologe. Er staffierte seine private Villa (zu dieser Zeit waren Villen bereits erlaubt) mit antiken Artefakten aus, die er überall im Land ausgrub. Das war vollkommen illegal, da unprofessionelle Grabungen die historischen Beweise zerstörten, zum Beispiel die Möglichkeit einer historischen Datierung. Aber alle drückten ein Auge zu. Schließlich war Dajan ein Nationalheld.

Dann veröffentlichte mein Magazin eine erschütternde Enthüllung: Dajan stellte die Artefakte nicht einfach nur in seinem Garten auf. Er verkaufte sie in alle Welt und versah sie mit einer persönlichen Notiz, die ihren Preis noch in die Höhe trieb. Diese Enthüllung verursachte einen riesigen Skandal und entfachte viel Hass – auf mich. In einer öffentlichen Umfrage im selben Jahr wurde ich zur „meistgehassten Person“ im Land gewählt und schlug damit sogar noch den Chef der Kommunistischen Partei. (Derartige Umfragen sind seither eingestellt worden.) Dajans Schwager General Eser Weizman schuf die Luftstreitkräfte und trug im Sechstagekrieg 1967 den legendären Sieg davon. Es war ein offenes Geheimnis, dass Weitzman von einem amerikanischen jüdischen Millionär ausgehalten wurde und in einer luxuriösen Villa in Cäsarea wohnte. Das war der renommierteste Ort im Land (in dem Benjamin Netanjahu jetzt seine eigene private Villa hat).

In Los Angeles nicht weniger ein Held als in Haifa

EINIGE Jahre lang war das allgemein in Mode. Jeder jüdische Millionär in Amerika hatte „seinen“ israelischen General, den er stilgerecht hielt und der sein Stolz und seine Freude war. Für einen reichen Juden war es als Statussymbol obligatorisch, dass er auf seinen Familienfesten einen israelischen General vorführen konnte. Zum Beispiel Ariel Scharon. Er war der Sohn armer Eltern, die in einem kooperativen Dorf gewohnt hatten. Er schloss seine Karriere bei der Armee ab und sieh da! plötzlich war er Eigentümer eines riesigen Landgutes. Ein ehemaliger Israeli, der inzwischen zu einem amerikanischen Multimillionär geworden war, hatte es ihm geschenkt. (Gerüchte meinten, der Millionär habe das Geld dafür von der Steuer abgesetzt.) Das war eine Zeit, in der israelische Generäle nicht nur zu Hause, sondern in aller Welt Helden waren. Mosche Dajan – er war leicht an seiner schwarzen Augenklappe zu erkennen – war in Los Angeles nicht weniger ein Held als in Haifa.

Alle diese Generäle (außer Eser Weizman, der aus einer reichen Familie stammte) wuchsen in sehr beschränkten Verhältnissen auf. Ihre Eltern waren Mitglieder von Kibbuzim (Gemeinschaftsdörfern) oder Moschawim (kooperativen Dörfern), die damals alle äußerst arm waren. Scharon, ein Junge aus einem Moschaw, erzählte mir, dass er jeden Tag eine halbe Stunde zu Fuß in sein Gymnasium und zurückgegangen sei, um das Fahrgeld für den Bus zu sparen. Das galt auch für die nächste Generation der Führer. Der ehemalige Ministerpräsident Ehud Olmert, der jetzt wegen Korruption im Gefängnis sitzt, wuchs in einem sehr armen Wohnviertel auf und wurde zu einem Menschen, der davon besessen ist, Kostbarkeiten zu besitzen. Der ehemalige Staatspräsident Mosche Kazaw, der mit ihm im Gefängnis sitzt, wurde wegen Vergewaltigung und nicht wegen Korruption verurteilt, aber auch er wuchs als neu Eingewanderter in Armut auf. (In einem gängigen Witz heißt es, dass der Wärter nach einem Konzert im Gefängnis verkündet habe: „Alle bleiben sitzen, bis der Präsident und der Ministerpräsident den Raum verlassen haben.“)

Der frühere Stabschef und Ministerpräsident Ehud Barak scheffelt jetzt ein großes Vermögen damit, dass er ausländische Regierungen „berät“. Er wuchs in einem armen Dorf auf. Mir selbst blieb diese Geldgier erspart, obwohl auch ich in äußerster Armut lebte, nachdem ich mit zehn Jahren nach Palästina gekommen war. Zum Glück für mich war ich bis zu dieser Zeit in wohlhabenden Lebensumständen in Deutschland aufgewachsen. Daraus, dass meine Familie und ich in Israel viel glücklicher waren, als wir in Deutschland gewesen waren, lernte ich, dass Glück nichts mit Reichtum zu tun hat.

Die israelische Öffentlichkeit schluckt alles

ALLES DAS geht mir durch den Kopf, weil wir fast täglich mit Korruptionsbeschuldigungen gegen Benjamin Netanjahu und seine sehr unbeliebte Frau Sarah überschwemmt werden. Sarah'le, wie sie allgemein genannt wird, ist eine ehemalige Stewardess. Sie und ihr Mann lernten sich auf einem Flug kennen. Sie scheint ein Hausdrache zu sein und die Angestellten ihrer offiziellen Residenz zu tyrannisieren. Einige von ihnen verklagten sie. Sie enthüllten, dass sie die öffentlichen Kassen für ihre privaten Bedürfnisse plündert. Aber was wirklich verstörend ist, ist, dass Sarah Netanjahu, die niemals von irgendjemandem (außer ihrem Mann) gewählt wurde, das Kommando über alle höheren Anstellungen im öffentlichen Dienst zu haben scheint. Niemand kann diese Höhen erklimmen, ohne dass er von ihr persönlich befragt und bestätigt worden wäre. Sie hat alle drei hohen Beamten der Gesetzesvollstreckung ernannt: den Rechtsberater (eigentlich der Ober-Staatsanwalt), den mächtigen Buchprüfer des Rechnungswesens und den Polizeichef.

Wenn es so ist, geschah es in weiser Voraussicht. Alle drei sitzen nun Tag und Nacht zusammen und beraten miteinander, was sie angesichts der Flut von Enthüllungen über Netanjahus finanzielle Familienangelegenheiten tun könnten. Sie bemühen sich verzweifelt darum, jede Anklage der Netanjahus zu verhindern, aber das wird immer schwieriger, da sie der Aufsicht des Obersten Gerichtshofes unterstellt sind. Über einige dieser Enthüllungen habe ich bereits berichtet, aber jede Woche tauchen neue auf. Es ist zu einer Art Nationalsport geworden. Es begann mit der Enthüllung, dass Netanjahu, bevor er Ministerpräsident wurde, also zu einer Zeit, als er einmal in der Regierung war und dann wieder nicht, von verschiedenen arglosen Gastgebern doppelt oder dreifach Geld für Erster-Klasse-Flugtickets kassiert hatte, ohne dass er das Geld als Einkommen erklärt hätte. Im israelischen Slang heißt das jetzt "Bibitours".

Seither ist er in alle möglichen Arten von Affären verwickelt, die an kriminelle Korruption grenzen und die in unterschiedlichen Stadien der „Überprüfung“ begriffen sind. Immerzu kommen auf der Liste neue hinzu. Die drei von Netanjahu ernannten Rechts-Beamten beraten sich ständig darüber, ob sie strafrechtliche Ermittlungen einleiten sollten. Diese könnten dazu führen, dass er vielleicht dazu gezwungen wäre - wenigsten zeitweise -, sein Amt niederzulegen. Der Höhepunkt war erreicht, als ein jüdischer Finanzmann, der in Frankreich wegen schweren Betruges angeklagt worden war, vor Gericht enthüllte, dass er Netanjahu insgeheim eine Million Euro geschenkt  und Bibis extrem hohe Hotelrechnungen in vielen Städten, darunter Städten der Französischen Riviera, bezahlt hatte. Die genauen Zahlen sind zweifelhaft, aber es wird nicht bestritten, dass Netanjahu von dem Mann, als dieser schon unter dem Verdacht der Korruption stand, große Geldsummen angenommen hat.

Die großzügigen israelischen Steuerzahler (darunter auch ich) zahlten für den fünftägigen Aufenthalt Bibis im letzten Herbst in New York eine Summe in Höhe von 600.000 Dollar. In dieser Summe – mehr als zehntausend Dollar am Tag – war auch die Bezahlung seines Privatfriseurs (1600 Dollar) und seiner Kosmetikerin (1750 Dollar) enthalten. Der Zweck dieser Reise war es, eine Rede vor der UN-Vollversammlung zu halten. Ich frage mich, wie viel jedes Wort seiner Rede gekostet hat. Die Information wurde durch die Anordnung des Gerichts gemäß dem Gesetz für Informationsfreiheit mitgeteilt. Die israelische Öffentlichkeit schluckt das alles. Niemand scheint darüber wütend zu werden. Es wimmelt von Witzen über das „Königspaar“. Vielen von Netanjahus Wählern, die meist arme Leute orientalisch-jüdischer Herkunft sind, beweisen die Enthüllungen nur, dass er ein schlauer Mensch ist, der es versteht, jede Gelegenheit zu nutzen, wie sie selbst es nur allzu gerne täten.

Netanjahu: Totengräber Israels

WIE SOLL man mit diesen Enthüllungen, die so viele Nachrichtensendungen im Fernsehen und Schlagzeilen der Zeitungen füllen, umgehen? Ich gebe zu, dass ich sie ziemlich gering achte. Was sind diese belanglosen Beispiele von Korruption verglichen mit Netanjahus Handlungen und Unterlassungen, die direkten Einfluss auf Israels Schicksal haben?

Für mich ist Benjamin Netanjahu der Totengräber unseres Staates, der Mann, der den Staat auf die Katastrophe zusteuert, der Mann, der jede Möglichkeit für Frieden verhindert. Erst diese Woche hat Netanjahu seinen Parteigenossen stolz verkündet, er werde „niemals“ zustimmen, Verhandlungen zu führen, die sich auf die arabische Friedensinitiative von 2002 gründeten. Darin heißt es, dass die Besetzung beendet, der Staat Palästina errichtet und die Siedlungen geräumt werden müssten. Viele Menschen glauben, dass diese Weigerung tödlich ist.

Warum sollten wir uns angesichts dieses Unheils über etwas so Geringfügiges wie Korruption aufregen? Aber ich erinnere mich an den Fall Al Capone, den Gangster, der schwere Verbrechen begangen hatte, darunter kaltblütigen Mord an vielen Menschen. Schließlich wurde er jedoch nur wegen Steuerhinterziehung verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Wenn Netanjahu nun wegen eines so belanglosen Vergehens wie Korruption angeklagt und damit zum Rücktritt gezwungen würde – wäre das nicht gerade das, was das Land braucht?


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Top-Foto:
Uri Avnery (arbeiterfotografie.com)


Online-Flyer Nr. 567  vom 22.06.2016

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