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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Kommentar
Über den Prozess der Gleichschaltung
Die Tage der Nashörner
Von Uri Avnery

Vor Kurzem habe ich das deutsche Wort „Gleichschaltung“ genannt, eines der Wörter, die für das Nazi-Vokabular besonders typisch sind. Das Wort bedeutet, dass alles im Staat auf dieselbe Weise, nämlich die Nazi-Weise, miteinander verschaltet wird. Das war ein wesentlicher Teil der nazistischen Veränderung Deutschlands. Sie geschah jedoch nicht auf dramatische Weise. Die Ersetzung der Amtsinhaber ging allmählich, fast unmerklich vor sich. Am Ende waren alle wichtigen Posten im Land mit Nazi-Funktionären besetzt. Die extreme Rechte, die jetzt Israel regiert, übernimmt einen Posten nach dem anderen. Allmählich. Sehr, sehr allmählich.


"Und jetzt kommt der Gnadenstoß..." (Montage: NRhZ)

Wie in den Annalen des Faschismus schon oft


ES BEGANN gleich nach den Wahlen im letzten Jahr. Benjamin Netanjahu konnte eine Koalition aus extrem Rechten bilden, allerdings hatte sie nur eine hauchdünne Mehrheit. Wie es in den Annalen des Faschismus schon oft geschehen ist, brauchte er für eine bequeme Mehrheit eine „Zentrums-“Partei. Er fand sie in Mosche Kachlons Fraktion. Der ehemalige Likud-Mann Kachlon war beliebt, weil er bezahlbare Wohnungen versprach. Stattdessen sind die Wohnungspreise weiter gestiegen. (Kachlon ist ein Lächler. Er ist sehr liebenswürdig. Ein Kolumnist verglich ihn mit der Grinsekatze, das ist die Katze, die verschwand und nur ein Lächeln zurückließ. „Keine Katze mit einem Lächeln“, sagt Alice im Wunderland, „sondern ein Lächeln mit einer Katze“. Aber er ist die Katze, die jetzt die extreme Rechte an der Macht hält.)

Zur neuen Regierung gehört ein Sortiment unglaublicher Ernennungen. Die abscheulichste neue Ministerin ist Miri Regew. Sie ist eine primitive Frau, die für ihre stolze Vulgarität bekannt ist, und sie ist jetzt Kultusministerin. Nun ja, ich denke mal, dass selbst Vulgarität das Recht hat, vertreten zu werden. Frau Regew ist jetzt für die Zuteilung der staatlichen Mittel für Theater, Literatur, Ballett, Oper und dergleichen verantwortlich. Sie hat schon deutlich gemacht, dass die Betroffenen gut daran tun, der Regierungslinie zu folgen, wenn sie finanziert werden wollen. Am nächsten kommt ihr ihre Konkurrentin Ajelet Schaked (wörtlich: die Mandel-Gazelle). Ihr erklärtes Ziel ist die Unterwerfung des Obersten Gerichtshofes, des Stolzes Israels. Zwar ist das Gericht zurzeit ziemlich kleinlaut, aber manchmal widersetzt er sich doch noch repressiven neuen Gesetzen. Darum will Frau Mandel es mit „konservativen“ Richtern ausstaffieren. 

Der Gefährlichste der Sippschaft ist der Erziehungsminister Naftali Bennet. Er ist einer der extremsten nationalistisch-religiösen Politiker. Israel hat drei religiöse Bildungssysteme. Das ausschließlich „säkulare“ System wurde schon vor Jahren von früheren Ministern immer weiter reduziert. Wenn man Bennet, der von vielen als religiöser Faschist bezeichnet wird, die Verantwortung für die Bildung überträgt, heißt das, dass man den Bock zum Gärtner macht. Alle diese Minister sind, ebenso wie die anderen vom selben Schlag, fleißig dabei, die hohen Beamten durch Leute, die ihre Überzeugungen teilen, zu ersetzen. Das ist ein stetiger und äußerst gefährlicher Prozess.

Israels Torhüter

DANN SIND da noch die Torhüter. Eine der wichtigsten Personen in Israel trägt den Titel: „Rechtsberater der Regierung“. Er ist der höchste Justizbeamte, dem Generalstaatsanwalt übergeordnet und vom Justizminister unabhängig. Sein Rat ist rechtlich bindend und nur dem Obersten Gerichtshof unterworfen. Netanjahu hat einige Probleme mit der Justiz. Er und seine Familie reisen während seiner Amtszeit auf Kosten anderer in der Welt umher. Die Entscheidung des „Beraters“ zögerte die gerichtliche Verfolgung dieser und anderer Affären viele Jahre lang hinaus. Der letzte Rechtsberater, ein moralisch unbedenklicher ehemaliger Richter, der von Netanjahu in dieses Amt berufen worden war, wurde gerade – große  Überraschung – von Netanjahu durch den Regierungssekretär Awichai Mandelblit ersetzt. Der ist ein Kippa tragender Rechtsanwalt, der Netanjahu so nahe steht, wie es nicht näher sein könnte.

Um ganz sicherzugehen, wurde der Rechnungsprüfer, auch er ein sehr mächtiger Beamter in Israel, auf den Wunsch Netanjahus von der Mehrheit der Knesset-Abgeordneten gewählt. Auch Josef Schapiro ist ein ehemaliger Richter. Warum die Besetzung dieser beiden Stellen für Netanjahu ausschlaggebend ist, zeigt sich eben jetzt. Das ganze Land ist von einigen Gerichtsfällen fasziniert, in denen einige in der offiziellen Residenz des Ministerpräsidenten Angestellte bezeugten, dass Sarah Netanjahu ein unerträglicher, brüllender, hysterischer Hausdrache ist. Sie bestreitet auch ihre privaten Ausgaben aus der Staatskasse.

Um diesen Kreis zu vervollständigen, ist da noch der neue Polizeikommandant. Seit Jahren versinkt die Hohe Polizeiführung in einem Sumpf von Anschuldigungen wegen sexueller Vergehen und wegen Bestechung. Ein hoher Offizier hat Selbstmord begangen, einige andere wurden hinausgeworfen. Welche Lösung hätte besser sein können, als einen Außenseiter, einen hohen Schin-Bet-(Geheimdienst-)Offizier, dort unterzubringen? Glänzende Idee, aber jetzt ist durchgesickert, dass die Polizei unter seiner Führung sogar noch tiefer im Sumpf versunken ist. In einigen Fällen haben Polizisten ohne ersichtlichen Grund brutal und in der Öffentlichkeit Zivilisten geschlagen, sowohl Araber als auch Juden, und ihr Vorgehen wurde vollkommen von dem neuen Obersten Befehlshaber Roni Alscheich gedeckt.

Bollwerk Medien

DIE ISRAELISCHEN Medien werden von den Rechten als „Linke“ verunglimpft, als ein Bollwerk der „alten Elite“, die zu ersetzen die Rechten geschworen haben.
Leider ist diese Beschreibung ganz falsch. Von den beiden großen Zeitungen gehört die eine, Israel Hajom („Israel heute“), Netanjahu. Oder genauer gesagt, sie gehört dem amerikanischen Kasino-Mogul Sheldon Adelson, der „Bibis“ unterwürfiger freiwilliger Sklave und sein großzügiger Gönner ist. Die Zeitung, deren einziges Ziel es ist, Netanjahu persönlich zu dienen, wird in riesigen Mengen gratis verteilt. Das andere Massenblatt Jediot Acharonot („Neueste Nachrichten“) versucht damit zu konkurrieren, indem es noch rechter ist.

Die einzige andere wichtige Tageszeitung ist Haaretz („Das Land“). Sie kritisiert Netanjahu, ist weit kleiner und ständig vom finanziellen Untergang bedroht.
Israels drei Fernsehkanäle sind intellektuell eine Wüste. Außer den Nachrichten und einer winzigen Anzahl guter Sendungen haben sie keinen Inhalt und widmen sich in der Hauptsache „Reality“-Sendungen, die nichts mit der Realität zu tun haben. Wer ist dafür verantwortlich? Nun, natürlich der Medien-Minister. Und wer ist das? Wieder große Überraschung. Kein anderer als ein Mann namens Benjamin Netanjahu. Nach israelischem Gesetz kann der Ministerpräsident so viele Ministerämter für sich behalten, wie sein Herz begehrt. Das bedeutet gegenwärtig: einige dieser Ministerien, darunter das Außenministerium und das für die Medien.

Seit Monaten schlafen alle Medien-Leute schlecht. Alle drei Fernsehkanäle sind auf finanzielle Unterstützung durch die Regierung angewiesen. Einige mutige Fernseh-Persönlichkeiten wagen immer noch, die Regierung offen und sogar scharf zu kritisieren, aber ihre Anzahl wird immer kleiner. Als ich diese Woche im Fernsehen war und meinem Interviewer sagte, er und seine Kollegen würden wahrscheinlich in einem Jahr arbeitslos sein, lachte er nervös und fragte: „Was, erst in einem Jahr?“ Viele Fernsehjournalisten sind schon zu Nashörnern geworden. (Das ist ein israelischer Spitzname für Leute, die sich der Regierung unterworfen haben, denn sie müssen Dickhäuter sein.) Der Prozess der Nashornisierung schreitet stetig voran.

Gnadenstoß Lieberman

UND JETZT kommt der Gnadenstoß in Form von Avigdor Ivett Lieberman. Lieberman ist eine Furcht einflößende Person. In seiner Gegenwart würde sogar Donald Trump zusammenschrumpfen. Er ist ein Einwanderer aus dem sowjetischen Moldawien, ehemaliger Rausschmeißer in einer Bar und später enger Beistand Netanjahus. Jetzt ist er der extremste rechte Politiker auf der Bühne. Er hat vorgeschlagen, den Assuan-Staudamm in Ägypten zu bombardieren (wobei Millionen Menschen gestorben wären). Das war eine seiner eher gemäßigten Ideen. Er hat die Armee als zu zaghaft kritisiert und (vor nicht allzu langer Zeit) Netanjahu einen Betrüger, Feigling und Scharlatan genannt. Lieberman (lieber Mann) ist sehr durchtrieben. Es ist zu vermuten, dass er wenigstens einige Monate lang äußerst entgegenkommend, friedliebend und liberal sein wird. Schon diese Woche haben sich sowohl er als auch Netanjahu zu leidenschaftlichen Anhängern der Lösung „Zwei Staaten für zwei Völker“ erklärt. Das ist so, als hätte sich Benito Mussolini 1939 zum hingebungsvollen Pazifisten erklärt.

Es sieht so aus, als würde die sich ankündigende Konfrontation zwischen dem Verteidigungsminister und dem Generalstab der Armee zu einem bedeutsamen Ereignis: Der Zusammenstoß zwischen einer unwiderstehlichen Kraft und einem unbeweglichen Objekt. Die „israelische Verteidigungsarmee“ (so heißt die Armee auf Hebräisch), zu der auch Marine und Luftwaffe gehören, ist eine fast autonome Institution. Ihr offizieller Oberbefehlshaber ist die Regierung als Ganze. In ihrem Auftrag handelt der  Verteidigungsminister. Es ist eine gehorsame Armee. Nur selten hat sie der Regierung offen getrotzt. Ein Fall war der von 1967, als der Ministerpräsident Lewi Eschkol angesichts der wachsenden militärischen Bedrohung durch Ägypten auf der Sinaihalbinsel zögerte. Einige Generäle drohten ihm, sie würden alle zurücktreten, wenn er nicht den Befehl zum Angriff geben würde. Er kapitulierte.

Angesichts des vereinten Widerstandes des Armeekommandos ist der Minister fast machtlos. Aber er ist für ein riesiges Budget zuständig, für das bei Weitem größte in Israel. Er hat beherrschenden Einfluss auf die Ernennung des Armeekommandeurs („Stabschefs“) und hoher Offiziere. Und was noch schlimmer ist: Das niedrigere Offizierscorps und die gemeinen Soldaten wurden im nationalistischen Schulsystem ausgebildet. Die meisten von ihnen mögen jetzt Lieberman näher stehen als dem Stabschef. Das wurde vor kurzem durch den Fall Elor Asarija auf den Prüfstand gestellt. Der Soldat hatte auf einen schwer verwundeten, schon am Boden liegenden Palästinenser geschossen und ihn getötet. Viele Soldaten erklärten Asarija zum Nationalhelden. Asarija steht jetzt wegen Totschlages vor einem Militärgericht. Das Oberkommando der Armee ist der rechten Opposition gegenüber standhaft geblieben. Und, sieh da, wer zwängte seine beträchtliche Masse in den ohnehin schon überfüllten Gerichtssaal? Avigdor Lieberman. Er kam, um seiner Unterstützung für den Soldaten Ausdruck zu verleihen.

Selbst Netanjahu beugte sich dem Druck und rief den Vater des Soldaten an, um ihm seine Unterstützung zuzusagen. (Als wir im Fernsehen den Mörder vor Gericht sahen, waren wir überrascht, nur einen Jungen zu sehen, der verwirrt und desorientiert wirkte und dessen Mutter hinter ihm saß und seinen Kopf streichelte. Wehe dem Staat, der eine tödliche Waffe in die Hände eines so primitiven unreifen Jungen legt!) So weit sind wir nun also: Die Regierung untergräbt die Armee, und das Friedenslager setzt sein Vertrauen in das Oberkommando. Manche mögen wohl inbrünstig um einen Militärputsch zu einem Gott beten, an den sie nicht glauben.


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Top-Foto:
Uri Avnery (arbeiterfotografie.com)


Online-Flyer Nr. 565  vom 08.06.2016



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