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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Kommentar
Gedanken anläßlich einer Äußerung von Ken Livingstone
Diese komischen Antisemiten
Von Uri Avnery

ÜBER ANTISEMITEN muss ich lachen. Sie sind so komisch. Ich weiß, dass viele diese Äußerung für frivol, wenn nicht gar anstößig halten werden, wenn man all das Schreckliche bedenkt, das Antisemiten die Jahrhunderte hindurch angerichtet haben, darunter den Holocaust. Aber heutzutage sind sie einfach lächerlich. In dem, was sie glauben. In dem, was sie sagen. Lächerlich.

NEHMEN WIR einmal den ehemaligen Bürgermeister von London, Ken Livingstone. Das, was er sagt, ist wirklich blöde. Selbst für einen Politiker. Er sagte zum Beispiel, Hitler sei Zionist oder ein Unterstützer der Zionisten gewesen. Hitler? Ein Zionist? Adolf Hitler war ein pathologischer Hasser von Juden und allem Jüdischen. Tatsächlich war sein Antisemitismus so sehr von zentraler Bedeutung für seinen Glauben, dass er alles andere übertraf. Noch als er die endgültige militärische Niederlage vor sich sah, zog er Züge von wichtigen militärischen Aufgaben ab, um darin Juden in die Vernichtungslager zu transportieren.

Einige glauben, dass er wegen seines Antisemitismus den Krieg (und die Weltherrschaft) verlor. Wenn die jüdischen Naturwissenschaftler – z. B. Einstein – als deutsche Patrioten in Deutschland geblieben wären, hätte Hitler durchaus vor den Amerikanern die Atombombe bekommen können. Das hätte den Lauf der Weltgeschichte geändert. Niemand weiß, woher sein Hass gegen die Juden kam. Er mochte den jüdischen Arzt seiner von ihm angebeteten Mutter. Als er noch davon träumte, ein großer Maler zu werden, hatte er einen jüdischen Freund und besuchte ihn bei sich zu Hause. Irgendwo auf seinem Weg wurde er dann zum abgrundtiefen Judenhasser. Theorien dafür gibt es massenhaft, eine definitive Antwort jedoch nicht. Aber es geschah schon früh, solange er noch in Wien war. Die Idee, dass dieser Mensch in irgendeiner Lebensphase ein Unterstützer zionistischer Juden hätte gewesen sein können, ist über alle Vorstellungen absurd.

Ein Körnchen Wahrheit

WIE ALLE Absurditäten enthält auch diese ein Körnchen Wahrheit. Vor dem Holocaust wollten Antisemiten die Juden aus Europa vertreiben. Das Wesen des Zionismus ist es, die Juden aus aller Welt ins Eretz Israel (Palästina) zu bringen. Diese beiden einander vollkommen entgegengesetzten Bewegungen hatten also etwas gemeinsam. Dem Gründer der zionistischen Bewegung Theodor Herzl war das von Anfang an klar. Er ging ins antisemitische zaristische Russland, um führende Politiker davon zu überzeugen, dass sie ihn unterstützen sollten, und versprach ihnen, sie von ihren Juden zu befreien. Im Laufe der Zeit wurden viele derartige Bemühungen unternommen. Eine wenig bekannt gewordene wurde am Vorabend des Zweiten Weltkrieges unternommen, als die rechte zionistische Irgun-Untergrundbewegung (vollständiger Name: Nationale Militärorganisation) eine Vereinbarung mit der antisemitischen Führung der polnischen Armee traf: In Polen wurden militärische Trainings-Zentren für junge Juden errichtet. Sie sollten für die Invasion in Palästina vorbereitet werden, damit polnische Juden dorthin würden auswandern können. Der Krieg setzte diesen Bemühungen ein Ende.

Zur selben Zeit beschäftigte sich der berüchtigte Adolf Eichmann in Wien damit, „die Judenfrage zu lösen“. Er beraubte die Juden all ihres Eigentums und erlaubte ihnen auszuwandern. Als später das Ende des Krieges schon nahe war, machte er den zionistischen Führern in Budapest das absurde Angebot: Wenn die Alliierten zehntausend Lastwagen nach Deutschland schickten, würde er die Vernichtung der ungarischen Juden (zehntausend Juden am Tag!) aufhalten. Meiner Meinung nach gehörte das in Wirklichkeit zu einem getarnten Versuch Heinrich Himmlers, mit den westlichen Alliierten einen separaten Frieden zu schließen.

Nachdem Eichmann in Argentinien entführt worden war, saß er in seinem israelischen Gefängnis und schrieb eine faszinierende Autobiografie, in der es hieß, dass er die Zionisten immer den anderen Juden vorgezogen habe, weil sie die positivere biologische Substanz der Juden verkörpert hätten. Die direkteste Verbindung zwischen Nazis und Zionisten kam schon sehr früh zustande. Als die Nazis Anfang 1933 in Deutschland an die Macht kamen, erklärten die amerikanischen Juden einen Boykott gegen deutsche Waren. Die Nazis reagierten mit einem eintägigen Boykott gegen jüdische Geschäfte in Deutschland. (Ich erinnere mich daran, weil mein Vater mich an diesem Tag zu Hause behielt.)

Zur selben Zeit wurde zwischen Nazideutschland und der zionistischen Führung ein offizieller Vertrag unterzeichnet. Er hieß „Palästina-Transfer“ (hebräisch: Ha'awara). Er beinhaltete, dass wohlhabenden Juden erlaubt werde, Teile ihres Vermögens in Form von deutschen Waren nach Palästina zu „transferieren“. Das brach den Boykott gegen Deutschland und bedeutete gleichzeitig einen großen Aufschwung für die notleidende jüdische Wirtschaft in Palästina. Das ist bis heute ein kontrovers diskutiertes Kapitel der Geschichte. Rechtsgerichtete Zionisten verurteilten die Vereinbarung; sie selbst wurden allerdings von den linken Führern, die die zionistische Gesellschaft in Palästina regierten, „Faschisten“ genannt. Die Vereinbarung trug ganz gewiss zum Überleben der zionistischen Wirtschaft vor dem Krieg bei, bis dann der Zweite Weltkrieg ausbrach und die große britische Armee in Ägypten dringend alles benötigte, was wir produzieren konnten.

Die bloße Idee ist schon lächerlich

ALL DIESE Ereignisse hatten mit einer Versöhnung zwischen Zionisten und Nazis nicht das Geringste zu tun. Die bloße Idee ist schon lächerlich. Bis zum Zweiten Weltkrieg konnte Hitler nicht einmal davon träumen, die Juden en masse zu töten. Es war undenkbar. Er hätte sich damit begnügen müssen, die Juden aus Deutschland oder aus Europa zu vertreiben, wie es schon einige Male zuvor geschehen war: in Spanien, in England und an vielen anderen Orten. Offensichtlich war Palästina der Bestimmungsort, aber Palästina wurde von Großbritannien regiert, das aus Angst vor Reaktionen der Araber nur eine Handvoll Juden ins Land ließ. Zu dieser Zeit gewann bei der Naziführung noch eine andere Option Popularität: Alle Juden nach Madagaskar transportieren, das zum Französischen Reich gehörte. Daraus wurde nichts.

Alles das änderte sich vollkommen, als der Krieg ausbrach. Eine neue Realität übernahm die Führung. Mit der Invasion Nazideutschlands 1941 in die Sowjetunion verlor das menschliche Leben seinen Wert. Die in der Genfer Konventionen festgeschriebene „anständige“ Kriegsführung wurde über Bord geworfen. Hunderttausende und dann Millionen schlachteten einander ab. Für Hitler schuf das eine Gelegenheit, an die zu denken er zuvor vielleicht nicht gewagt hatte: Die Juden nicht „transferieren“, sondern töten. Das war der Beginn des Holocaust, zunächst durch Massenerschießungen, Hungertod und Krankheit und dann in den Gaskammern. Es war durchaus nicht nötig, dass ihn jemand dazu drängte. Die Geschichte, die vor kurzem kursierte, dass Hitler vom Großmufti von Jerusalem Hadschi Amin al-Husseini, einem Allah ergebenen Semiten, zum Mord an den Juden angespornt worden wäre, ist ebenso lächerlich wie all die anderen Geschichten.

Nichts wirklich Neues

HITLER WAR kein eigenständiger Denker. In seinen Anschauungen gab es nichts wirklich Neues. Der Antisemitismus ist ebenso alt wie das Christentum. Lange Zeit über war er ein fester Bestandteil davon und ist es vielleicht immer noch. Jeshua Ben-Josef, auch Jesus genannt, war Jude. Als er wegen Gotteslästerung gekreuzigt wurde, hielt eine kleine Gemeinde von jüdischen Anhängern in Jerusalem an seinen Lehren fest. Sie wurden vom jüdischen Establishment in Jerusalem verfolgt und fanatischer Hass zwischen beiden Seiten entstand. Dies wäre eine historische Bagatelle geblieben, wenn sich nicht etwas Außergewöhnliches ereignet hätte. Mit Hilfe eines weiteren jüdischen Rabbi, Saul, der seinen Namen in Paulus änderte, wurde aus der Anhängerschaft an Jesus eine Weltreligion. Die alte Kultur der Vielgötterei brach zusammen. Die abstrakte jüdische Religion zog viele Patrizier an, aber die Massen der Sklaven und Proletarier waren von der Geschichte des gekreuzigten Sohnes Gottes und seiner jungfräulichen Mutter entzückt. Das Christentum setzte sich durch und mit ihm der Hass gegen die Juden.

Ich glaube, dass sich keiner von den christlichen Jungen und keines von den christlichen Mädchen, die in ihrer Kindheit den grauenerregenden Geschichten darüber ausgesetzt waren, wie die Juden nach dem Blut des sanften Jesus schrieen, jemals vollkommen von ihrem Judenhass hat befreien können. Und tatsächlich ist der Judenhass die Jahrhunderte hindurch ein Kennzeichen des Christentums gewesen. Massenvertreibungen, das Abschlachten von Juden in Deutschland und Palästina durch die Kreuzfahrer, die spanische Inquisition, die russischen Pogrome, der Holocaust und unzählbare weitere Manifestationen begleiten die jüdische Geschichte. (Es ist traurig, dass das alles die Juden im modernen Israel nicht immun dagegen macht, andere zu hassen.) Ich will noch einmal hervorheben, dass in muslimischen Ländern nichts dergleichen geschah. Als ich das vor kurzem erwähnte, griffen mich einige Professoren orientalisch-jüdischer Herkunft wütend an. Sie nannten etwa ein halbes Dutzend Bespiele von muslimischen Herrschern, die Juden misshandelt hatten – ein halbes Dutzend in 1400 Jahren! Es sieht so aus, als ob einige orientalische Juden die europäischen Juden um ihre Leiden beneideten und auch darin mit ihnen wetteifern wollten.
Pogrom ist kein arabisches Wort. Es ist ein russisches.

Es ist der Ton, der die Musik macht

ZURÜCK ZU den heutigen Antisemiten. Man hätte hoffen können, dass sie nach dem Holocaust einfach verschwinden würden. Aber da sind sie wieder – in verschiedenen Kleidungen und Verkleidungen. Es geht nicht vor allem um das, was sie sagen. Es ist der Ton, der die Musik macht. Man kann mit ihren Argumenten argumentieren. Sicherlich. Es gibt da einige unangenehme Tatsachen. Sicherlich. Aber es kommt auf die Musik an. Ah, die Musik. Man kann antiisraelisch sein. Warum auch nicht? Man kann die Politik der aufeinander folgenden israelischen Regierungen verurteilen. Auch ich verurteile sie. Man kann Antizionist sein. Man muss allerdings deutlich machen, welche Art von Zionismus man nicht mag. Aber alles das hat nichts mit wirklichem, waschechtem Antisemitismus zu tun. Jemand, der mit echter konspiratorischer Gesinnung ausgestattet ist – die mir leider abgeht –, könnte behaupten, dass die heutigen Antisemiten von hinterhältigen Zionisten finanziert werden, die das Ziel verfolgen, die Juden von dort, wo sie sind, nach Israel zu treiben. Wenn ich heute am Strand in Tel Aviv französisch sprechen höre, vermute ich, sie müssen damit Erfolg haben.


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.



Top-Foto:
Uri Avnery (arbeiterfotografie.com)



Siehe dazu auch:

London: Aussagen zu Israel führen zum Parteiausschluss
Hitler ein Zionist – hat Ken Livingstone das gesagt?
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id= 22775

Online-Flyer Nr. 561  vom 11.05.2016

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