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Kultur und Wissen
‘El Ninho’ stellt das Wetter auf den Kopf
Kleiner Junge - große Kapriolen
Von Harald Schauff

‘El Ninho’ bedeutet im Spanischen soviel wie ‘kleiner Junge’. Das klingt harmlos. Doch wenn dieser kleine Junge tobt, sind die Folgen global spürbar und weitaus verheerender als bei quengelnden Kleinkindern. Dabei beginnt der Bube sein Ungemach unscheinbar mit einer leichten Erhöhung der Wassertemperatur im östlichen Pazifik. Steigt jene an der Oberfläche um 0,4 Grad an, ist laut Definition ein Bübchen im Anmarsch. November letzten Jahre wurden bereits Temperatursteigerungen zwischen 2 und 6 Grad gemessen. Dieser Bube kommt höchst ungezogen daher. Er heizt des Ost-Pazifik gewaltig auf. Die Folge: Luft- und Meeresströmungen wechseln ihre Routen. Zusätzliche Verdunstung führt der Atmosphäre mehr Energie zu. Das globale Wettersystem gerät durcheinander:

Südamerika bekommt sintflutartige Niederschläge ab, die normalerweise über Südostasien niedergehen. Dort verzeichnet man wie in Australien und im südlichen Afrika extreme Hitze und Dürre. Kalifornien wird von heftigen Stürmen heimgesucht. 32.000 Todesopfer und einen wirtschaftlichen Schaden in Höhe von 90 Mrd. Dollar forderte der ‘El Ninho’ von 1997/98. Der gegenwärtige könnte sich als noch schlimmer entpuppen. Seine Hitze fachte gigantische Brände auf Borneo und Sumatra an. Orang-Utans verloren ihren Lebensraum, 40 Millionen Menschen litten infolge des gelben, beißenden Rauches an Atemwegsbeschwerden. Entzündet hatte die Feuer jedoch nicht ‘El Ninho’. Es waren Kleinbauern und Farmer, die u.a. für Palmölplantagen Raum schaffen wollten.

Eindeutig aufs Konto von ‘El Ninho’ gehen dafür zwei Rekordstürme: ‘Chapala’ tobte sich über dem Südosten des bürgerkriegsgeschüttelten Jemen aus, der mächtigste jemals dort gemessene Wirbelsturm. Bereits im Oktober tauchte vor Mexikos Küsten der nicht minder gewaltige Hurrikan ‘Patricia’ auf. Zuvor hatte sich in beiden Regionen das Wasser deutlich erwärmt. Eine derartige Erwärmung wirkt sich auch auf den Ozean als Lebensraum aus: Vor Perus Küste steigt kein kaltes Wasser mehr zur Oberfläche auf, weil das wärmere Oberflächenwasser nicht mehr durch Passatwinde gen Asien fort geweht wird. Dadurch stirbt das im kalten Wasser lebende Plankton. Deshalb verlassen die Sardellen, die sich vom Plankton ernähren, die Region. Perus Fischereiflotten haben nichts mehr zum Fangen und bleiben in den Häfen. Mensch und Tier werden in Mitleidenschaft gezogen. An kalifornischen Küsten werden giftige Seeschlangen aus den Tropen angespült, außerdem Millionen toter roter Krebse. Auch Schwärme von Weißen Haien mit bis zu 6 m langen Exemplaren wurden gesichtet. Das Meer ist aus dem Lot. Ein positiver Nebeneffekt: In Chile hat sich eine der trockensten und lebensfeindlichsten Gegenden der Erde, die Atacama-Wüste in ein paradiesisches Blütenmeer verwandelt.

Der aktuelle ‘El Ninho’ ist einer der heftigsten, wenn nicht gar der allerheftigste seit 1950. Da es sich zunächst um ein natürliches Phänomen handelt, könnten sich Skeptiker eines menschengemachten Klimawandels bestätigt sehen: Siehe da, es sind die Natur und ihr böser Bube. Der Mensch trägt doch keine Schuld an den Extremwetterlagen. So mögen sie denken und sich beruhigt zurücklehnen im Fahrersitz ihrer fossilen SUV-Feinstaubschleuder. Zu früh. Der Kieler Klimaforscher Mojib Latif, der das Phänomen des ‘kleinen Jungen’ seit drei Jahrzehnten studiert, hegt den Verdacht, dass der Treibhauseffekt den Buben größer und tobsüchtiger gedeihen lässt, als er von Natur aus ist. ‘El Ninhos’ von der Stärke des aktuellen traten bisher nur zweimal auf: 1982/83 u. 1997/98. In diesen Zeiträumen nahm die globale Erwärmung bereits Fahrt auf. Noch sind sich die Forscher uneinig in dieser Frage. Latif schätzt, in 100 Jahren würde man Näheres wissen.


Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe April 2016, erschienen.

Online-Flyer Nr. 558  vom 20.04.2016



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