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Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

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Globales
Wenn der hausgemachte Faschismus sein Haupt erhebt
Optimismus des Willens
Von Uri Avnery

NUN HABEN wir also einen weiteren Antisemiten. Masál Tow  (wörtlich: gutes Glück), wie wir auf Hebräisch sagen. Sein Name ist Ban Ki-moon und er ist der Generalsekretär der Vereinten Nationen. Faktisch ist er der höchste internationale Beamte, so etwas wie ein Welt-Ministerpräsident. Er hat gewagt, die israelische Regierung ebenso wie auch die Palästinensische Behörde dafür zu kritisieren, dass sie den Friedensprozess sabotierten und damit einen Frieden zwischen Israel und den Palästinensern so gut wie unmöglich machten. Er hob hervor, dass es einen weltweiten Konsens über eine „Zweistaatenlösung“ gebe, da sie die einzig mögliche Lösung sei.

Die Formulierung klang neutral, aber Ban drückte recht deutlich aus,  dass fast die gesamte Schuld auf Seiten Israels liege. Da die Palästinenser unter einer feindlichen Besetzung lebten, könnten sie auf keine Weise viel tun. Jeder, der Israel für irgendetwas tadelt, ist natürlich offenkundig ein Antisemit. Er ist das letzte Glied in der Kette, die mit Pharao, dem König von Ägypten, vor ein paar tausend Jahren begann.


Faten Mukarker vor der Mauer bei Bethlehem – Im Dezember und Januar fahre ich in den Nahen Osten, nach Palästina und Israel. Seit 1948 ist hier kein Tag ohne militärische Gewalt, Vertreibung, Folter, Zerstörung von Umwelt und Ökonomie vergangen. (Foto und Bildlegende: Ellen Diederich, 2005)

ICH KRITISIERE Ban nicht, außer dafür, dass er ein Mann der leisen Töne ist. Vielleicht ist das koreanischer Stil. Wenn ich – Gott behüte – an seiner Stelle gewesen wäre, wäre meine Formulierung sehr viel schärfer ausgefallen.

Im Gegensatz zum Augenschein gibt es, was Prognosen angeht, keinen großen Unterschied zwischen Ban und Bibi. Vor ein paar Wochen verkündete Benjamin Netanjahu, wir würden „immer und ewig durch das Schwert leben“. Das ist ein biblischer Satz, der auf die Ermahnung von König Sauls General Abner zurückgeht, der Davids General Joab zurief: „Soll das Schwert ohne Ende fressen?“ (Ich mochte Abner immer und nahm seinen – hebräisch Avner ausgesprochenen – Namen an.) 

Aber was einem Patrioten wie Netanjahu wohl ansteht, gehört sich für einen Judenhasser wie Ban durchaus nicht. Zum Teufel mit ihm.

NETANJAHU mochte vielleicht Bans Äußerung nicht, die „Zweistaatenlösung“ sei jetzt der Konsens der ganzen Welt. Der Welt vielleicht, aber Netanjahu und seine Vasallen ausgenommen. Das war nicht immer so. Ganz im Gegenteil.

Der Teilungsplan wurde zuerst von der British Royal Commission angenommen, die nach der Arabischen Revolte 1936 (von den Juden „die Ereignisse“ genannt) ernannt worden war. Bei dieser Revolte starben viele Araber, Juden und britische Soldaten. In diesem Plan wurde den Juden zwar nur ein kleiner Teil Palästinas zugeteilt, ein schmaler Streifen an der Küste, aber es war das erste Mal in der Geschichte der Moderne, dass überhaupt ein jüdischer Staat ins Auge gefasst wurde. Die Idee verursachte eine tiefe Spaltung der jüdischen Gemeinschaft in Palästina (der Jischuw), aber der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges machte dem Plan ein Ende.

Nach dem Krieg und dem Holocaust suchte man weltweit nach einer dauerhaften Lösung. Die Generalversammlung der neuen Vereinten Nationen beschloss die Teilung Palästinas in zwei Staaten, einen jüdischen und einen arabischen. Die jüdische Führung nahm diesen Plan der Form nach an, hatte aber die heimliche Absicht, ihr Staatsgebiet bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu vergrößern.

Diese Gelegenheit kam schon bald. Die Araber lehnten die Teilung ab und begannen einen Krieg, in dem wir ein viel größeres Territorium eroberten, das wir dann unserem frischgebackenen Staat anfügten.

Palästina von der Landkarte verschwunden

Bei Kriegsende Anfang 1949 sah die Situation so aus: Der vergrößerte jüdische Staat, der nun Israel genannt wurde, umfasste 78 Prozent des Landes, darunter Westjerusalem. Der Emir von Transjordanien behielt das Westufer des Jordans mit Ostjerusalem und änderte seinen Titel in König von Jordanien. Der König von Ägypten behielt den Gazastreifen. Palästina war von der Landkarte verschwunden.

ALS ICH (wegen meiner Wunden) aus der Armee entlassen wurde, war ich davon überzeugt, dass diese Situation zu einem dauerhaften Konflikt führen werde. Während des Krieges hatte ich viele arabische Dörfer und Städte gesehen, aus denen die Bewohner geflohen oder vertrieben worden waren, und ich war überzeugt, dass es ein palästinensisches Volk gebe – im Gegensatz zu israelischen Erklärungen und der weltweiten Meinung – und dass niemals Frieden sein könne, wenn diesem Volk ein eigener Nationalstaat verweigert würde.

Noch trug ich Uniform und suchte Partner bei der Bemühung, diese Überzeugung zu verbreiten. Ich fand einen jungen muslimischen arabischen Architekten in Haifa und einen junge Drusen-Scheich. (Die Drusen sind Araber, die sich vor vielen Jahrhunderten vom Islam trennten und eine neue Religion gründeten.)

Wir drei trafen uns einige Male in der Wohnung des Architekten, aber wir fanden kein Echo in der Öffentlichkeit. Die Regierungspolitik und die öffentliche Meinung in Israel bevorzugten den Status quo. Die Existenz eines palästinensischen Volkes wurde heftig geleugnet, Jordanien wurde de facto ein Verbündeter Israels – was es im Geheimen schon immer gewesen war.

Wenn in den frühen 1950er Jahren eine Umfrage über die internationale öffentliche Meinung in diesem Punkt abgehalten worden wäre, hätten sich vielleicht nur hundert Menschen auf der Welt gefunden, die für einen palästinensischen Staat gewesen wären. Einige arabische Staaten legten für die Idee ein Lippenbekenntnis ab, aber niemand nahm es ernst.

Meine Zeitschrift Ha’olam Haseh (diese Welt) und später die Partei, die ich gründete (sie trug denselben Namen), waren die einzigen Organisationen auf der Welt, die den Kampf fortführten. Golda Meir sagte bekanntlich: „So etwas wie ein palästinensisches Volk gibt es nicht“ (und, was weniger bekannt wurde: „Ich bin bereit, auf die Barrikaden zu steigen, um Uri Avnery aus der Knesset rauszukriegen!“).

Diese vollkommene Weigerung, die Rechte und auch nur die Existenz des palästinensischen Volkes anzuerkennen, wurde durch den Sechstagekrieg von 1967 weiter verstärkt, als Israel von dem, was von Palästina übriggeblieben war, Besitz ergriff. Die herrschende Doktrin war die „jordanische Option“: die Idee, dass, falls Israel das Westjordanland oder Teile davon zurückgeben würde, es sie König Hussein übergeben würde.

Leugnung der Existenz des palästinensischen Volkes

Darin waren sich von David Ben-Gurion bis Levi Eschkol und von Jitzchak Rabin bis Schimon Peres alle einig. Die Idee dabei war nicht nur die ererbte Leugnung der Existenz des palästinensischen Volkes, sondern auch die abwegige Überzeug, der König würde Jerusalem aufgeben, da seine Hauptstadt ja Amman war. Nur ein vollkommener Ignorant konnte glauben, dass der haschemitische König, ein direkter Nachkomme des Propheten, die drittheiligste Stadt des Islam Ungläubigen überlassen könnte.

Auch die prosowjetische israelische kommunistische Partei war für die jordanische Option. Das veranlasste mich zu dem Scherz in der Knesset, sie sei wahrscheinlich die einzige kommunistisch-monarchistische Partei auf der Welt. Das fand 1969 ein Ende, als Leonid Breschnew plötzlich den Kurs änderte und die „Zwei-Staaten-für-zwei Völker“-Formel übernahm. Die israelischen Kommunisten folgten ihm, fast bevor er noch die Worte ausgesprochen hatte.

Natürlich war der Likud niemals dazu bereit, auch nur einen Zentimeter von Eretz Israel aufzugeben. Offiziell erhebt er immer noch Anspruch auf das Ostufer des Jordans. Nur ein Erzlügner wie Netanjahu konnte der Welt öffentlich verkünden, er akzeptiere die „Zweistaatenlösung“. Kein Likud-Mitglied nahm das ernst.

Wenn also der höchste Diplomat der Welt sagt, es bestehe ein weltweiter Konsens für die Zweistaatenlösung, dann habe ich durchaus das Recht, einen Augenblick der Befriedigung zu genießen. Und Optimismus.

„OPTIMISTISCH“ ist der Titel meiner Memoiren, von denen der zweite Teil eben diese Woche herausgekommen ist. (Leider nur auf Hebräisch. Ich habe bisher noch keine Verleger für das Buch in anderen Sprachen gefunden.) Als der erste Teil erschien, hielten die Leute den Titel für verrückt. Jetzt sagen sie, er sei schwachsinnig.

Wenn der hausgemachte Faschismus sein Haupt erhebt

Optimistisch? Heutzutage? Wenn das israelische Friedenslager tief in Verzweiflung steckt? Wenn der hausgemachte Faschismus sein Haupt erhebt und die Regierung uns in Richtung nationaler Selbstmord führt?

Ich habe schon verschiedentlich zu erklären versucht, woher dieser irrationale Optimismus kommt: genetische Wurzeln, Lebenserfahrung, die Erkenntnis, dass Pessimisten gar nichts unternehmen, dass es die Optimisten sind, die versuchen, Wandel herbeizuführen. Um ein Motto Antonio Gramscis zu zitieren: „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“.

BAN war nicht der einzige Antisemit, der kürzlich demaskiert wurde. Ein weiterer ist der französische Außenminister Laurent Fabius. Wieso denn der? Fabius hatte vor Kurzem den Einfall, eine internationale Konferenz für israelisch-palästinensischen Frieden (natürlich nach Paris) einzuberufen. Er erklärte im Voraus, dass Frankreich, wenn sein Einfall nicht akzeptiert werde, den Staat Palästina offiziell anerkennen werde, womit er denen in Europa, die ihm darin folgen wollten, Tür und Tor öffnen würde. Damit erhebt sich eine semantische Frage. Nach zionistischem Sprachgebrauch kann nur ein Nichtjude Antisemit sein. Ein Jude, der dasselbe sagt, ist ein „jüdischer Selbsthasser“.

Fabius gehört einer jüdischen Familie an, die zum Katholizismus übergetreten ist. Nach jüdischem Gesetz (der Halacha) bleibt ein Jude ein Jude, auch wenn er gesündigt hat. Glaubenswechsel ist eine Sünde. Ist Fabius nun ein Nichtjude und deshalb Antisemit oder ist er ein jüdischer Sünder, ein Selbsthasser? Wie sollten wir ihn also nennen, wenn wir ihn verfluchen?


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Top-Foto:
Uri Avnery (arbeiterfotografie.com)


Online-Flyer Nr. 548  vom 10.02.2016



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