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Globales
Antwort auf die Frage: Ist Israel ein „jüdischer und demokratischer Staat“
Extrem, extremer, am extremsten
Von Uri Avnery

ES IST wohlbekannt, dass Israel ein „jüdischer und demokratischer Staat“ ist. Das ist die offizielle Bezeichnung. Nun gut... WAS „jüdisch“ angeht: Es ist eine neue Art Judentum, eine Mutation. Seit etwa 2000 Jahren sind die Juden dafür bekannt, dass sie weise, schlau, friedliebend, menschlich, progressiv, liberal, ja sogar sozialistisch sind. Wenn heute jemand diese Eigenschaften nennt, so ist der Staat Israel nicht der erste Name, der dem Zuhörer dabei einfällt. Weit entfernt.

Was „demokratisch“ angeht, trifft das mehr oder weniger für die Zeit von der Staatsgründung 1948 bis zum Sechstagekrieg 1967 zu, dem Krieg, in dem Israel unglücklicherweise das Westjordanland, den Gazastreifen, Ostjerusalem und die Golanhöhen eroberte. Und natürlich die Sinai-Halbinsel, die später an Ägypten zurückgegeben wurde. (Ich sage „mehr oder weniger“ demokratisch, weil es nirgendwo in der Welt einen vollkommen demokratischen Staat gibt.)


Gaza-City, 2006, Bericht über den Horror: „Die israelischen Panzer zerstören gerade unseren Garten, alle Bäume, einfach alles. Wir alle sitzen im Keller…“ (Foto: privat)

Seit 1967 ist Israel eine gemischte Schöpfung: halb demokratisch, halb diktatorisch. Wie ein Ei, das zur Hälfte frisch und zur Hälfte verdorben ist. Die besetzten Gebiete – daran sollten wir uns erinnern – gehören zu vier verschiedenen Kategorien:

(a) Ostjerusalem wurde 1967 von Israel annektiert und wird von Israel jetzt als Teil seiner Hauptstadt betrachtet. Seine palästinensischen Bewohner haben sich weder um die israelische Staatsbürgerschaft beworben noch haben sie sie bekommen. Sie sind bloße „Einwohner“ ohne jede Staatsbürgerschaft. 

(b) Die Golanhöhen gehörten früher zu Syrien und wurden von Israel annektiert und von sonst niemandem anerkannt. Die wenigen arabisch-drusischen Bewohner, die dort geblieben sind, wurden widerstrebend zu israelischen Bürgern.

(c) Der Gazastreifen ist in Absprache zwischen Israel und Ägypten vollkommen von der Welt abgeschnitten. Die israelische Flotte schneidet ihn auf See von der Welt ab. Das Minimum, das die Bewohner zum Überleben brauchen, darf durch Israel gebracht werden. Der verstorbene Ariel Sharon entfernte die wenigen jüdischen Siedlungen aus diesem Gebiet. Israel erhebt keinen Anspruch darauf. Dort leben zu viele Araber.

(d) Das Westjordanland, das die israelische Regierung und die rechten Israelis mit seinen biblischen Namen „Judäa und Samaria“ nennen, ist die Heimat des größten Teils des palästinensischen Volkes, wahrscheinlich sind es 3,5 Millionen. Um dieses Gebiet wird die wichtigste Schlacht geführt.

SEIT DEN ersten Tagen der Besetzung von 1967 waren rechte Israelis darauf erpicht, das Westjordanland Israel anzuschließen. Unter dem Wahlspruch: „das ganze Eretz Israel“ begannen sie eine Kampagne, das ganze Gebiet zu annektieren, die palästinensische Bevölkerung zu vertreiben und dort so viele jüdische Siedlungen wie nur möglich zu errichten. 

Die Extremisten machten nie ein Hehl aus ihrer Absicht, das Land ganz und gar von allen Nichtjuden zu reinigen und ein Großisrael vom Mittelmeer bis zum Jordan zu errichten.

Dieses Ziel ist sehr schwer zu erreichen. Während unseres sogenannten „Unabhängigkeitskrieges“ 1948 eroberte Israel ein weit größeres Gebiet, als ihm von den Vereinten Nationen zugestanden wurde, aber das vergab man ihm. Die Hälfte der palästinensischen Bevölkerung des Landes wurde vertrieben oder floh. Die vollendete Tatsache wurde mehr oder weniger von der Welt akzeptiert, weil sie mit militärischen Mitteln in einem von der arabischen Seite begonnenen Krieg hergestellt worden und weil das bald nach dem Holocaust geschehen war.

1967 war die Situation eine ganz andere. Die Gründe des damaligen Krieges waren strittig, David hatte sich in Goliath verwandelt, ein weltweiter Kalter Krieg war im Gange. Israels Eroberungen wurden nicht anerkannt, nicht einmal von seinem Beschützer, den USA.

Trotz einigen erneuten israelisch-arabischen Kriegen, dem Ende des Kalten Krieges und vielen anderen Veränderungen hat sich diese Situation nicht verändert.

Israel nennt sich immer noch einen „jüdischen und demokratischen Staat“. Die Bevölkerung „Großisraels“ ist jetzt zur Hälfte jüdisch und zur Hälfte arabisch und die Araber nehmen zu. Das eigentliche Israel ist noch mehr oder weniger demokratisch. In den besetzten palästinensischen Gebieten herrscht eine diktatorische „Militärregierung“ und Hunderttausende jüdischer Siedler versuchen die palästinensische arabische Bevölkerung mit allen verfügbaren Mitteln zu vertreiben, darunter betrügerische Aneignung von Land und Terrorismus („Vergeltung“ genannt).

Im eigentlichen Israel gehört die Regierung der extremen Rechten an und sie hat einige Elemente, die andernorts „faschistisch“ genannt würden. Das Zentrum und die Linke sind ohnmächtig. Der einzige wirkliche politische Kampf findet zwischen der radikalen Rechten und der noch radikaleren extremen Rechten statt.

IN DIESER WOCHE entbrannte ein wütender Kampf zwischen Benjamin Netanjahu und seinem Verteidigungsminister Bogie Ja’alon, beide vom Likud, auf der einen und dem Bildungsminister Naftali Bennet, dem Führer der Partei Jüdisches Heim, auf der anderen Seite. Der unbändig ehrgeizige Rechte Bennet macht durchaus kein Geheimnis aus seiner Absicht, Netanjahu so bald wie möglich abzulösen.

Die Sprache, die die beiden Parteien benutzen, würde sogar zwischen Regierungskoalition und Opposition als extrem beurteilt. Zwischen Partnern der Regierungskoalition ist sie sogar in Israel, milde gesagt, ungewöhnlich.

Im Vergleich damit ist die Sprache des Oppositionsführers Jitzchak Herzog geradezu höflich. Bennett sagte, Netanjahu und Ja’alon böten alte und überholte Ideen feil und litten an „geistiger Lähmung“. Damit würden sie den ohnehin schon wackeligen Stand Israels in der Welt noch mehr erschüttern. Netanjahu und das ehemalige Kibbuzmitglied und der ehemalige Stabschef Ja’alon bezichtigte Bennet des Diebstahls. Sie sagen, immer wenn eine gute Idee im Kabinett erwogen wird, würde Bennet aus dem Raum rennen und behaupten, es wäre seine gewesen. Ja’alon nannte Bennet „kindisch“ und „verantwortunglos“.

Welche Seite hat recht? Leider beide. Zwischen ihnen steht (oder besser: sitzt) der gegenwärtige Stabschef der Armee Gadi Eisenkot. Zwar klingt sein Name deutsch, er ist jedoch der Sohn von Immigranten aus Marokko. In Israel sind die Armee-Chefs seltsamerweise im Allgemeinen gemäßigter als die Politiker.

Der General schlug vor, die Lebensbedingungen der arabischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten zu verbessern, unter anderem sollte den Menschen in Gaza gestattet werden, einen Hafen zu bauen und mit der Welt im Allgemeinen in Kontakt zu treten. Erstaunlich.

ALLES DAS ereignete sich bei einer Konferenz der sogenannten Sicherheitsexperten, in der jeder zu Wort kam. Die Führer der Oppositionsparteien nahmen daran teil: Jitzchak Herzog von der Arbeitspartei, Jair Lapid von der gemäßigten Partei „Es gibt eine Zukunft“ und andere kamen zu Wort, aber ihre Reden waren so langweilig, dass über sie nur aus Fairness berichtet wurde. Sie griffen von hier und da ein paar Ideen auf, nannten sie „meinen Plan“ – Frieden, wenn er überhaupt erwähnt wurde, wurde auf die sehr, sehr ferne Zukunft verschoben.

Frieden, sagt man, ist etwas Hübsches, er ist der Stoff, aus dem Träume gemacht sind. Nichts für ernsthafte Politiker. Übrig bleibt eine wütender Kampf zwischen den Weit-Rechten und den Noch-weiter-Rechten. Der ehemalige High-tech-Unternehmer Bennett trägt eine Kippa auf dem kahlen Kopf (ehrlich gesagt, wundere ich mich immer, wie sie sich dort hält, vielleicht aus reiner Willenskraft). Er macht kein Hehl aus seiner Überzeugung, dass er zum Besten der Nation den festgefahrenen Netanjahu so bald wie möglich ablösen will.

Bennett beschuldigt die inkompetente politische Führung, unsere tapferen Soldaten und ihre Befehlshaber im Stich zu lassen – eine Beschuldigung, die geradewegs aus Mein Kampf stammt, der gerade auf Hebräisch erscheint.

Netanjahus einzig möglicher Nachfolger innerhalb seines Likud ist Ja’alon, ein Mann, dem jedes Charisma und politische Talent fehlt. Damit Bennet und sein Jüdisches Heim Erfolg haben, müssen sie allerdings den Likud bei den Wahlen überholen – und das ist sehr schwierig. Hier kommt die Kippa ins Spiel: göttliches Eingreifen mag erforderlich sein.

Da wir gerade von göttlichem Eingreifen sprechen: In der letzten Woche kritisierte die schwedische Außenministerin Margot Wallström Israels Rechtssystem dafür, dass es unterschiedliche Gesetze für Juden und Araber habe. Netanjahu reagierte scharf und sieh da! ein paar Tage darauf war die schwedische Press voller Geschichten über die Korruptheit Wallströms: Sie habe weniger Miete für ihre Regierungswohnung gezahlt, als sie hätte zahlen sollen.

ALLES DAS könnte ja ganz lustig sein, wenn es nicht um die Zukunft Israels ginge. Frieden ist ein schmutziges Wort. Das Ende der Besetzung ist nicht in Sicht. Die Vereinigte (arabische) Partei ist nicht im Rennen. (Fast) dasselbe gilt für Meretz.

Bei den Linken ist Verzweiflung ein Synonym für Faulheit. Es gibt eine sanfte Debatte über die Idee, dass uns nur die Außenwelt vor uns selbst retten könne. Das wird jetzt von unserem angesehenen ehemaligen Generaldirektor des Außenministeriums Alon Lyel, einem sehr tapferen ehemaligen Beamten, propagiert. Ich glaube das nicht. Die Idee, zu den Gojim zu rennen, damit sie die Juden vor sich selbst retten, hat keine Chancen, große Beliebtheit zu erlangen. 

In einem Punkt hat Bennett recht: Sowohl geistige als auch praktische Stagnation ist keine Lösung. Die Dinge müssen wieder in Bewegung kommen. Ich hoffe inbrünstig, dass die junge Generation neue Kräfte und neue Ideen hervorbringen wird, die Netanjahu, Bennett und ihresgleichen beiseiteschieben werden.

Was unsere vielgelobte Demokratie angeht: Es stellt sich heraus, dass eine von der Regierung finanzierte Gruppe seit Jahren einen Privatdetektiv bezahlt hat, dessen Aufgabe es war, die Papierkörbe der Friedensaktivisten zu durchwühlen, um Informationen über Menschenrechts- und Friedens-Vereinigungen und –Persönlichkeiten zu bekommen.

Zum Glück schreddere ich alles.


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Top-Foto:
Uri Avnery (arbeiterfotografie.com)


Online-Flyer Nr. 546  vom 27.01.2016



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