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Aktuelles
Durch Abschuss des russischen Militärjets Vorgehen gegen den IS erschwert
Ein Rückschlag für Syrien
Von Hans Georg

Zum wiederholten Male legte Deutschlands NATO-Partner Türkei dem Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) Steine in den Weg. Mit dem Abschuss eines russischen Militärjets, der am gestrigen Dienstag auf syrischem Territorium niederging, hat die Türkei das jüngst vom UN-Sicherheitsrat geforderte internationale Vorgehen gegen den IS weiter erschwert. Zudem hat sie die Verhandlungen über eine politische Lösung für den Syrien-Krieg, die zuletzt Fortschritte gemacht hatten, weiter verkompliziert. Damit folgt das Land, das zu den wichtigsten Verbündeten Deutschlands im Nahen und Mittleren Osten zählt, präzise seiner bisherigen Politik: Lange unterstützte Ankara den IS direkt - mit logistischer Hilfe und mit Ausrüstung; inzwischen ist es dazu übergegangen, den Kampf gegen den IS zu torpedieren, unter anderem mit Attacken auf bewaffnete Verbände der kurdischsprachigen Minderheit Syriens. Berlin fordert nun, wie die anderen NATO-Hauptmächte auch, die Türkei zur Deeskalation gegenüber Russland auf. Hatte es die türkische Unterstützung für den IS lange Zeit stillschweigend gebilligt, weil damit der gemeinsame Feind Assad geschwächt wurde, orientiert es zusammen mit seinen transatlantischen Verbündeten nach den Pariser Terroranschlägen verstärkt auf den "Anti-Terror-Kampf". Zudem sieht die Bundesregierung Chancen, ihren Einfluss im Nahen und Mittleren Osten nach einem Waffenstillstand im Syrien-Krieg zu vergrößern. 

Erstmals seit 1952

Auslöser für die jüngsten Mahnungen in Richtung Türkei war der Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe am gestrigen Dienstag. Ankara hatte die Attacke mit der Erklärung begründet, das russische Flugzeug sei in den türkischen Luftraum eingedrungen. Moskau bestreitet dies - und verweist darauf, dass der Militärflieger auf syrischem Territorium niedergegangen sei, mehrere Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Noch nicht geklärt ist das Schicksal der beiden Piloten, die sich mit dem Fallschirm aus dem Flieger retten konnten. Hatten syrische Milizionäre zunächst angegeben, beide noch in der Luft erschossen zu haben, so behaupten türkische Stellen nun, sie seien noch am Leben. Belege dafür gibt es nicht. Bei einem fehlgeschlagenen Rettungsversuch ist noch ein dritter russischer Soldat getötet worden. US-amerikanische Medien erinnern daran, dass der bisher letzte Abschuss eines russischen bzw. sowjetischen Militärfliegers durch Streitkräfte eines NATO-Staates mehr als 60 Jahre zurückliegt: 1952 wurden im Zusammenhang mit dem Korea-Krieg vier sowjetische MiGs von einem Kampfjet der US-Luftwaffe vom Himmel geholt.[1] 

Ein Stoß in den Rücken

Russland hat - wie zu erwarten - mit scharfen Worten auf den Angriff reagiert. "Wir werden nicht dulden, dass solche Verbrechen wie das heutige begangen werden", erklärte Präsident Wladimir Putin und kündigte "ernste Konsequenzen" für die russisch-türkischen Beziehungen an. Der Abschuss des russischen Kampfjets sei ein "Stoß in den Rücken" für einen gemeinsamen Kampf gegen den IS.[2] Tatsächlich legt der türkische Angriff einem solchen gemeinsamen Vorgehen, wie es am vergangenen Freitag der UN-Sicherheitsrat in einer einstimmig beschlossenen Resolution gefordert hat, neue Steine in den Weg. Auch die gedeihliche Entwicklung der jüngsten Syrien-Verhandlungen, die zuletzt Fortschritte zu machen schienen, steht nach der Eskalation der Spannungen zwischen Russland und der Türkei in Frage. Ankara hat damit zum wiederholten Male dem IS Vorteile verschafft - zu einem Zeitpunkt, zu dem dieser seine Anschläge in aller Welt dramatisch ausweitet. Nach den Attentaten von unter anderem Sharm el Sheikh, Beirut und Paris hat der IS sich gestern zum Angriff auf ein Hotel von Wahlbeobachtern auf der Sinai-Halbinsel bekannt. Dabei kamen acht Menschen zu Tode. 

Unterstützung für den IS

Beispiele dafür, dass Deutschlands NATO-Partner Türkei den IS direkt unterstützte oder doch zumindest den Kampf gegen ihn umfassend behinderte, sind zahlreich vorhanden. Bereits im November vergangenen Jahres hat der US-Wissenschaftler David L. Phillips vom Institute for the Study of Human Rights an der New Yorker Columbia University ein Forschungspapier publiziert, das zahlreiche Belege für die Verbindungen zwischen der Türkei und dem IS zusammenstellt.[3] Demnach hat die Türkei - im Kampf gegen die Regierung von Bashar al Assad - den IS zunächst logistisch unterstützt, indem sie seinen Kämpfern die Grenze zu Syrien faktisch offenhielt. Sie hat dem IS darüber hinaus auch militärisches Equipment zur Verfügung gestellt und Berichten zufolge sogar einige seiner Milizionäre trainiert. Sie hat es nicht verhindert, dass die Organisation in der Türkei um Mitglieder warb; sie hat außerdem verwundeten IS-Kämpfern medizinische Behandlung in grenznahen türkischen Krankenhäusern eingeräumt und dem Verkauf von Öl, einer wichtigen Finanzquelle des IS, nichts in den Weg gestellt. Ein Bericht des US-Journalisten Seymour Hersh, dem zufolge türkische Regierungsstellen sogar Kenntnis über den Einsatz von Giftgas durch den IS besessen haben sollen, ist bislang weder bestätigt noch widerlegt worden.[4] 

Nur ein Lippenbekenntnis

Auch die Bundesregierung hat die Unterstützung ihres NATO-Partners für den IS jahrelang ohne Umschweife akzeptiert - weil Ankara damit half, die Regierung von Bashar al Assad zu schwächen. Differenzen entstanden erst, als die NATO-Hauptmächte Mitte 2014 begannen, dem allzu sehr erstarkenden IS Schranken zu setzen. Die Türkei hat den Kurswechsel allenfalls per Lippenbekenntnis geteilt. Tatsächlich hat sie jedoch, wie David L. Phillips festhält, den IS etwa im Kampf um Kobane weiter unterstützt und ihm Bewegungsfreiheit in der Türkei gewährt, eventuell sogar Waffen zur Verfügung gestellt.[5] Ankara hat die "Volksverteidigungseinheiten" (Yekîneyên Parastina Gel, YPG), die in der kurdischsprachigen Minderheit Syriens gebildet wurden, selbst dann noch bekämpft, als die USA dazu übergingen, sie im Krieg gegen den IS zu fördern. Wie Phillips berichtet, haben - neben diversen weiteren Obstruktionen - türkische Kampfflugzeuge Einheiten der YPG mindestens zweimal bombardiert.[6] 

Aufruf zur Deeskalation

Das türkische Störfeuer stößt mittlerweile in Berlin wie in weiteren NATO-Staaten auf Protest: Der Kampf gegen den IS gewinnt nach den Pariser Terroranschlägen für mehrere NATO-Mächte neues Gewicht; die Bundesregierung setzt zudem darauf, ihren Einfluss in Nah- und Mittelost im Rahmen der aktuellen Syrien-Verhandlungen sowie der Stationierung einer UN-Blauhelmtruppe auszubauen, wie sie für die Zeit nach dem erhofften Abschluss eines Waffenstillstandsabkommens in Aussicht genommen wird (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Bei dem gestrigen Abschuss des russischen Jets handle es sich um einen "ernsten Zwischenfall", der die Bemühungen um eine politische Lösung des Syrien-Krieges belaste, erklärte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier am gestrigen Dienstag: "Das kann bedeuten, dass wir nicht nur einen Rückschlag erleben werden, sondern dass der Hoffnungsschimmer, den wir gerade erst erarbeitet haben, zerstört wird."[8] Er hoffe auf "Besonnenheit", teilte Steinmeier mit. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini äußerte, es gehe darum, "eine Eskalation zu vermeiden". Die NATO stützte zwar verbal ihr türkisches Mitglied, doch drangen US-Präsident Barack Obama und Frankreichs Präsident François Hollande darauf, eine Eskalation zu vermeiden. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg schloss sich nach der gestrigen Sondersitzung des NATO-Rats in Brüssel an: "Ich rufe zu Ruhe und zu Deeskalation auf".[9] Der britische Premierminister David Cameron hatte bereits vor dem NATO-Treffen Ankara unverhohlen zur Aufnahme von Gesprächen mit Moskau gedrängt. 

Eng gebunden

Die Gefahr einer weiteren Eskalation wäre weitaus geringer, hätte Berlin nicht - ganz wie die übrigen NATO-Staaten - die türkische Unterstützung für den IS lange Zeit stillschweigend gebilligt, um Vorteile im Kampf gegen Assad zu erlangen. Hinzu kommt, dass Berlin und Brüssel sich zurzeit im Rahmen der EU-Flüchtlingsabwehr erneut eng an Ankara binden und damit ihren politischen Spielraum gegenüber der türkischen Regierung spürbar verringern. Die Bundesrepublik kann sich von der Obstruktion ihres Verbündeten deshalb nur eingeschränkt lösen - ein Umstand, der einen Schatten auf die Syrien-Verhandlungen und auf den Kampf gegen den IS wirft. 

Mehr zum Thema: Machtkampf in Nahost, Spitzendiplomat fordert Bundeswehr-Einsatz in Syrien, Zynische Optionen, Deutschlands ordnungspolitischer Radius, Konstanten westlicher Weltpolitik, Die syrische Spur und Truppensteller für Syrien. (PK)

 

[1] Thomas Gibbons-Neff: The last time a Russian jet was shot down by a NATO jet was in 1952. www.washingtonpost.com 24.11.2015.
[2] Putin droht Türkei mit "ernsten Konsequenzen". Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.11.2015.
[3] David L. Phillips: Research Paper: ISIS-Turkey Links. www.huffingtonpost.com 09.11.2014.
[4] Seymour M. Hersh: The Red Line and the Rat Line. www.lrb.co.uk 17.04.2014.
[5] David L. Phillips: Research Paper: ISIS-Turkey Links. www.huffingtonpost.com 09.11.2014.
[6] David L. Phillips: U.S. and Turkey on a Collision Course in Syria. www.huffingtonpost.com 02.11.2015.
[7] S. dazu Truppensteller für Syrien.
[8] Putin droht Türkei mit "ernsten Konsequenzen". Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.11.2015.
[9] Nato warnt Türkei vor Eskalation mit Russland. www.spiegel.de 24.11.2015. 

Diesen Artikel haben wir mit Dank übernommen von http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59259



Online-Flyer Nr. 538  vom 25.11.2015

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