NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

zurück  
Druckversion

Globales
Katastrophale Zustände an den europäischen Grenzen politisch gewollt
Relative Menschenwürde
Von Hans Georg

Die EU wird die Grenzschutzbehörde Frontex an die Grenzen Griechenlands zu Albanien und zu Mazedonien entsenden und damit ihre Abschottung in die Wege leiten. Dies haben die Staats- und Regierungschefs mehrerer EU- und Nicht-EU-Länder am frühen Morgen des letzten Montags beschlossen. Zusätzlich sollen Polizisten aus anderen EU-Staaten in Slowenien eingesetzt werden, um auch dort die Grenzkontrolle zu unterstützen. Darüber hinaus müssten die Abschiebungen nach Afghanistan ausgeweitet werden, hieß es in Berlin. Ursache sei, dass immer mehr Menschen vor dem dort wieder aufflammenden Krieg flöhen; dabei gebe es im Land "stabile Stammesgebiete", in die afghanische Flüchtlinge völlig problemlos abgeschoben werden könnten.


Flüchtlinge unter Kontrolle
Quelle: Spiegel/kindler edition
Während anonyme deutsche Geheimdienstler und Polizisten zum ersten Male in einer koordinierten Aktion an die Öffentlichkeit gingen und drohten, die Flüchtlinge schüfen ernste "Sicherheitsprobleme", mit denen man ebensowenig fertig werden könne wie mit den "Reaktionen auf Seiten der deutschen Bevölkerung", deuten Berichte darauf hin, dass die zurzeit katastrophalen Zustände an den europäischen Grenzen politisch gewollt sind: Während grenznahe deutsche Gemeinden völlig überlastet sind, stehen unweit davon Aufnahmezentren für Flüchtlinge leer; die Hilfe zahlreicher freiwilliger Unterstützer wird nicht abgerufen und verpufft. 

 

Erste Schritte

Die EU wird die Grenzschutzbehörde Frontex an die Grenzen Griechenlands zu Albanien und Mazedonien entsenden. Dies haben die Staats- und Regierungschefs mehrerer EU- und Nicht-EU-Staaten [1] in der Nacht vom Sonntag auf Montag beschlossen. Mit der Maßnahme sollen die gegenwärtig von zahlreichen Flüchtlingen vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak genutzten Fluchtrouten aus der Türkei über Griechenland nach Deutschland unter strikte Kontrolle gebracht und perspektivisch abgeschottet werden. An der griechisch-albanischen Grenze sind bereits jetzt zum selben Zweck Beamte der Bundespolizei im Einsatz, ebenso an der serbisch-ungarischen Grenze.[2] Wie auf dem Treffen weiter beschlossen wurde, sollen außerdem 400 Polizisten aus anderen EU-Staaten nach Slowenien entsandt werden, um dort den Behörden in ihren Bemühungen um die Sicherung der Grenzen zur Seite zu stehen. Des weiteren soll, um "die Migrationsströme in den Griff zu bekommen", die Registrierung der Flüchtlinge wieder regulär vorgenommen werden; dies ermöglicht es Deutschland, sie bei Bedarf jederzeit abzuschieben - jeweils in das Land, in dem sie erstmals EU-Territorium betreten haben (entsprechend der "Dublin 3"-Norm).[3] Mit den Beschlüssen sind zentrale Elemente festgelegt worden, die für die Zukunft die erneute Abschottung der EU vorbereiten. Sie seien "ein Beitrag für einen vernünftigen Umgang" mit der Massenflucht aus dem Nahen und Mittleren Osten, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Treffen. Doch müssten weitere Schritte folgen. 

Stabile Stammesgebiete

Ausgeweitet werden sollen so schnell wie möglich auch die Abschiebungen nach Afghanistan - mit Hilfe eines sogenannten Rückübernahmeabkommens entweder Brüssels oder Berlins mit Kabul. Dies verlautete aus Regierungskreisen. In den vergangenen Jahren sind nur sehr wenige Menschen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben worden, weil die eskalierenden Spannungen in weiten Teilen des Landes dies eigentlich nicht zulassen. Nun flammt der Krieg in Afghanistan wieder auf - und treibt erneut Zehntausende auf die Flucht.[4] Mittlerweile bilden Afghanen die zweitgrößte Gruppe unter den Asylsuchenden in der EU. Dass sie faktisch von einem Abschiebestopp profitierten, werde im Bundesinnenministerium "nicht mehr als tragbar angesehen", hieß es nun. Afghanistan dürfe nicht mit Syrien verglichen werden; vielmehr sei "die Sicherheitslage am Hindukusch ... regional sehr unterschiedlich": "So könnten Personen sehr wohl nach Kabul und in stabile Stammesgebiete zurückgebracht werden."[5] Ergänzend drang das Bundeskanzleramt auf eine medial vorgebrachte "Abschreckungskampagne", die die afghanische Bevölkerung von einer Flucht nach Deutschland abhalten soll. Vorbild seien entsprechende Kampagnen in Südosteuropa, hieß es in Berlin. 

Wortmeldung aus dem BND

Während Berlin die harte Abschottung der EU-Außengrenzen und die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber forciert, setzen erstmals Beamte aus Geheimdiensten und Repressionsapparaten in einer koordinierten Aktion die Bundesregierung öffentlich unter Druck. Eine anonyme Gruppe von Geheimdienstlern und Polizisten hat am Wochenende ein Papier in die Öffentlichkeit lanciert, in dem es heißt, mit der Öffnung für Flüchtlinge "importiere" die Bundesrepublik "islamistischen Extremismus, arabischen Antisemitismus, nationale und ethnische Konflikte anderer Völker sowie ein anderes Rechts- und Gesellschaftsverständnis".[6] Die Autoren aus Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND) und Bundespolizei warnen: "Die deutschen Sicherheitsbehörden sind und werden nicht in der Lage sein, diese importierten Sicherheitsprobleme und die hierdurch entstehenden Reaktionen auf Seiten der deutschen Bevölkerung zu lösen." Die Drohung bezieht sich auf die wachsenden rassistischen Demonstrationen wie Pegida und auf terroristische Aktivitäten von Neonazis. Zitiert wird auch ein "Zehn-Punkte-Programm" des ehemaligen BND-Präsidenten August Hanning. Hanning, seit sechs Jahren im Ruhestand, mischt sich nun öffentlich in die Debatte ein und fordert, "die Grenze für Migranten ohne Einreiseerlaubnis entsprechend der Gesetzeslage sofort zu schließen und Reisende ohne Einreiseerlaubnis sofort zurückzuweisen".[7] 

Politisch gewollt

Wie verschiedene Berichte nahelegen, sind die katastrophalen Zustände an den europäischen Grenzen, die am Wochenende die Forderung nach einer Lösung der Krise haben lauter werden lassen, nicht nur der Überlastung der Behörden geschuldet, sondern womöglich politisch gewollt. Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner hatte sich vor dem EU-Treffen beschwert, von den 6.500 Flüchtlingen, die pro Tag nach Österreich kämen und nach Deutschland weiterreisen wollten, nehme die Bundesrepublik lediglich 4.500 auf. Tatsächlich mussten in den vergangenen Nächten in Österreich hunderte Flüchtlinge bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt im Freien übernachten, weil die deutsche Bundespolizei zeitweise die Grenze schloss. Deutsche Medien berichteten zur Begründung von einer vollständigen Überlastung grenznaher deutscher Kommunen. Tatsächlich jedoch stehen große Aufnahmezentren in der Bundesrepublik seit Wochen leer. So heißt es etwa aus München, im Aufnahmezentrum in der dortigen Richelstraße sei seit Mitte September kein Flüchtling mehr angekommen, obwohl man die Einrichtung, in der zuvor Tausende beherbergt worden seien, dank großen Einsatzes freiwilliger Helfer neu hergerichtet habe. Ähnliches wird aus einer weiteren Unterkunft in München-Dornach berichtet. "Es spielen sich dramatische Situationen an den Grenzen ab, die Menschen stehen im Regen, während wir hier weiterhin im Stand-by-Modus sind", wurde ein Unterstützer von der Flüchtlingshilfe am Münchener Hauptbahnhof zitiert. Manche vermuteten, dies sei politisch "gewünscht", hieß es in einem Bericht: Dadurch werde das Bild vermittelt, dass die Kommunen völlig überfordert sind", während in Wirklichkeit "Kapazitäten und vorhandenes Engagement nicht genutzt werden".[8] Für die gut 5.000 freiwilligen Helfer, die sich in München hätten registrieren lassen, sei die Lage frustrierend. 

Ein Verfassungsbruch

Während die anhaltend große Hilfsbereitschaft nennenswerter Teile der deutschen Bevölkerung offen düpiert wird, höhlt die Bundesregierung das Asylrecht weiter aus. Die am Samstag in Kraft gesetzte Gesetzesverschärfung ist, wie die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl feststellt, ein klarer "Verfassungsbruch". Dem neuen Gesetz zufolge müssen Asylbewerber bis zu einem halben Jahr lang in einer Erstaufnahmeeinrichtung verbleiben, um gegebenenfalls direkt abgeschoben werden zu können. Vor allem aber erhalten Flüchtlinge in Zukunft so weit wie möglich kein Geld mehr, sondern Sachleistungen. Abgelehnte Asylbewerber, denen vorgeworfen wird, nicht hinreichend an ihrer Abschiebung mitgewirkt zu haben, werden unterhalb des offiziellen Existenzminimums leben müssen. "Sie bekommen kein Bargeld, und selbst der Anspruch auf Bekleidung soll gestrichen werden", moniert Pro Asyl.[9] Dies sei grundgesetzwidrig. Tatsächlich hatte das Bundesverfassungsgericht schon im Jahr 2012 die deutsche Praxis, Asylsuchenden mit rund 220 Euro im Monat viel weniger als die Leistungen nach Hartz IV (364 Euro) zuzugestehen, als illegal eingestuft. "Die Menschenwürde" dürfe "nicht differenziert werden aus einem migrationspolitischen Interesse heraus", erklärte Verfassungsrichter Johannes Masing damals. Zuvor hatte der Prozessvertreter der Regierung, Kay Hailbronner, dafür plädiert, die Menschenwürde nicht absolut zu setzen, sondern sie "in einem großen europapolitischen und migrationspolitischen Kontext" zu betrachten, sie also für Flüchtlinge zu relativieren.[10] Dies geschieht jetzt erneut.(PK)

Mehr zum Thema: Der "Hotspot Approach" zur Flüchtlingsabwehr, Ausgelagert, Von Analphabeten und Flutungen und Krieg gegen Flüchtlinge.

 

[1] Vertreten waren Albanien, Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Kroatien, Mazedonien, Österreich, Rumänien, Serbien, Slowenien, Ungarn.
[2] Eckart Lohse: Nicht mehr als eine Momentaufnahme. Frankfurter Allgemeine Zeitung 22.10.2015.
[3] Treffen der Staats- und Regierungschefs zu den Flüchtlingsströmen auf der Westbalkanroute. ec.europa.eu 26.10.2015.
[4] S. dazu Weiter scheitern.
[5] Thomas Gutschker, Friederike Böge: Afghanen sollen abgeschoben werden. www.faz.net 25.10.2015.
[6], [7] Stefan Aust, Claus Christian Malzahn: Sicherheitsbeamte warten sehnsüchtig auf Merkels "Go". www.welt.de 25.10.2015.
[8] Inga Rahmsdorf: Flüchtlingshelfer sind frustriert. www.sueddeutsche.de 22.10.2015.
[9] PRO ASYL will Klagen gegen das Asylverschärfungsgesetz unterstützen. www.proasyl.de 16.10.2015.
[10] Jörg Kronauer: Ein bisschen Hunger, dann gehen die schon. www.lotta-magazin.de 15.01.2013

 

Diesen Bericht haben wir mit Dank übernommen von http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59233



Online-Flyer Nr. 534  vom 28.10.2015

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE