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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Krieg und Frieden
Weshalb werden Forderungen der Palästinenser vom Westen kaum unterstützt?
"Die Angriffe sind Akte der Verzweiflung"
Von Raoul Rigault

Michael Warschawski wurde 1949 als Sohn eines Oberrabbiners in Straßburg geboren. 1965, im Alter von 16 Jahren, ging er nach Jerusalem, um den Talmud zu studieren, schloß sich dort 1967 der trotzkistischen und antizionistischen Organisation Matzpen („Kompass“) an, deren gleichnamige Zeitschrift er 1971 bis 1984 herausgab. 1967 bis 1971 studierte er an der Hebräischen Universität in Jerusalem Philosophie. 1984 gründete er das Alternative Information Center (AIC), das Aktivisten der israelischen und palästinensischen Linken und der Friedensbewegung zusammenfasst. Jetzt wurde er für die junge Welt von Raoul Rigault interviewt, von der wir diesen Text mit Dank übernommen haben.

Raoul Rigault: Israels Regierung und auch ein Großteil der Opposition behaupten einmütig, für die militanten Proteste der Palästinenser gebe es keinen Grund. Sie müssten von der Autonomiebehörde sofort beendet werden. Ist das nicht ziemlich illusorisch?

Michael Warschawski: Viele Leute, auch im Ausland, haben ein kurzes Gedächtnis. Die spontane Gewalt der Palästinenser, die wir seit einigen Tagen erleben, ist kein Selbstzweck und keineswegs unbegründet, wie man uns weismachen will. Es gibt Gründe, warum sie gerade jetzt aufflammt: Erstens ist die Zeit abgelaufen, die die palästinensische Bevölkerung dem Chef der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, eingeräumt hatte, ein Abkommen mit Israel auszuhandeln. Ich glaube, alle – Abbas eingeschlossen – haben begriffen, dass es keinen israelischen Partner gibt, der ernsthaft verhandeln will. Das einzige Interesse der Regierung sind fruchtlose Gespräche, um Zeit zu gewinnen. Dies ist das Ende der Illusion vom sogenannten Friedensprozess. Zweiter Grund ist die lange Reihe schwerwiegender Provokationen der israelischen Regierung, angefangen mit den Ereignissen um den Zugang zur Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg. Wobei man den ständigen Ausbau der Siedlungen im Westjordanland und Ost-Jerusalem nicht vergessen darf. 

Warum glaubt man Benjamin Netanjahus Beteuerungen nicht, auf dem Tempelberg keine Veränderungen vornehmen zu wollen?

Weil radikale Gruppen und Organisationen, die häufig von Abgeordneten und Ministern unterstützt werden, mit ihren Aktionen versuchen, eine jüdische und israelische Souveränität über den Tempelberg herzustellen, und damit zu dieser neuen Intifada beigetragen haben. Genauso wie die zahlreichen Polizeiangriffe an diesem für alle Muslime heiligen Ort, die selbst unter den christlichen Palästinensern für Empörung sorgen. Wenn diese Provokationen nicht aufhören, ist alles möglich. 

Wie sind die Lebensumstände der arabischen Bevölkerung in Jerusalem, die ja den Kern des aktuellen Aufstands bilden?

Das ist die schlimmste Situation, in der ein Palästinenser – Hebron ausgenommen – heute leben kann. Während die einseitige Annexion des 1967 militärisch besetzten arabischen Teils der Stadt den dort Lebenden zunächst einige Vorteile gebracht hat wie den Zugang zum israelischen Gesundheitswesen, musste eine ganze Generation dann unaufhörliche Aggressionen in ihren Vierteln ertragen, deren Ziel es war, die arabischen Gebiete zu isolieren und sie mit großen israelischen Siedlungen zu umgeben. So soll Jerusalem eine rein israelische Stadt werden. Die Palästinenser in Jerusalem stehen im Zentrum dieser Pläne und sind aufgrund der Mauer gleichzeitig von der Westbank abgeschnitten. Die Angriffe mit Küchenmessern, Teppichschneidern oder Schraubenziehern auf israelische Soldaten, Polizisten und Zivilisten sind Akte der Verzweiflung. 

Warum hört man dazu nichts von der israelischen Linken?

Wenn wir von der Labour Party und von Peace Now sprechen, muss man feststellen, dass das, was mal als moderate linke Kräfte bezeichnet wurde, de facto nicht mehr existiert. Natürlich gibt es immer noch die radikale Linke. Die ist aber nur noch in der Lage, ein paar hundert Menschen zu mobilisieren, nicht mehr die Tausende, die man früher bei ihren Demonstrationen sah. 

Warum gibt es vor allem im Westen heutzutage sowenig Verständnis und Unterstützung für die Forderungen der Palästinenser?

Es besteht ein Unterschied zwischen der öffentlichen Meinung und der sogenannten internationalen Gemeinschaft. Die erstere kritisiert durchaus die Politik der israelischen Regierung und ist zu einem großen Teil für eine Lösung, die auf Recht und Gerechtigkeit beruht. Die Staatengemeinschaft hingegen ist stark von den hiesigen Machthabern beeinflusst. Sie hat skandalöserweise zu einem »Ende der Gewalt beider Seiten aufgerufen« und wohlweislich darauf verzichtet, irgendeine UN-Resolution gegen den Kolonialstaat Israel zu beschließen. Sie behandelt Israel weiterhin als zuverlässigen Partner, mit dem man gut Geschäfte machen kann. Obendrein verkauft Netanjahu Israel als einen Hort der Stabilität in einer kriselnden Region, wo extremistische Bewegungen wie der IS agieren. Mit diesen Ängsten des Westens spielt er. Auch deshalb gelingt es ihm, EU und USA auf seine Seite zu ziehen. (PK)



Online-Flyer Nr. 534  vom 28.10.2015



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