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Sport
Die WM 2006 hat die nationalistische Wende des Jahres 2006 entfaltet
Die Marke Deutschland
Von Hans Georg

Mit der Fußball-WM 2006 ist ein herausragendes außenpolitisches Erfolgsereignis für die Bundesrepublik von schwerem Korruptionsverdacht betroffen. Anlässlich der Veröffentlichung eines Presseberichts, dem zufolge die Fußball-WM "mutmaßlich gekauft" gewesen sei, hat die Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main inzwischen Untersuchungen aufgenommen. Über die Bedeutung der "mutmaßlich gekauften" Großveranstaltung hatten deutsche Diplomaten nach deren Ende geurteilt, die WM habe "die Marke Deutschland mehr verbessert" als alle sonst üblichen PR-Kampagnen; der massive "Imagegewinn" für die Bundesrepublik sei umso höher zu schätzen, als "das Image eines Landes ... im internationalen Wettbewerb ein wichtiger Standortfaktor" sei.

Treffen die Vorwürfe zu, dann beruhte der profitable deutsche Prestigegewinn auf offener Korruption. Ohnehin hat, wie ein Sportjournalist es beschreibt, eine "Deutschland AG" aus Politik und Wirtschaft mit millionenschwerem Lobbyismus für die Vergabe der WM gekämpft. Die womöglich "gekaufte" WM hat nicht nur das Prestige der Bundesrepublik verbessert, sie hat zudem einem weithin als "Party-Patriotismus" verharmlosten Nationalismus den Durchbruch verschafft, vor dessen rassistischen Folgen Sozialwissenschaftler seit Jahren warnen. 

Mutmaßlich gekauft

Von einem allgemeinen Korruptionsverdacht begleitet war die Vergabe der Fußball-WM 2006 an Deutschland von Anfang an. Zunächst hatte Südafrika als klarer Favorit gegolten; dies war vor allem in den Ländern Afrikas weithin mit spürbarer Genugtuung wahrgenommen worden, weil Fußball-Großevents, die auch auf dem afrikanischen Kontinent hoch populär sind, gewöhnlich in den wohlhabenden Ländern der westlichen Welt ausgetragen werden. Die Bundesrepublik erhielt bei der Vergabe schließlich die Hälfte der 24 Stimmen; dies reichte zum Gewinn, weil ein Wahlfunktionär vor der Abstimmung aus ungeklärten Gründen den Raum verließ, wodurch Berlin die Mehrheit sicher hatte. Wie es nun in einem Bericht der Wochenzeitschrift "Der Spiegel" heißt, verstärke sich der Verdacht, die WM sei "mutmaßlich gekauft" gewesen.[1] So habe das WM-Bewerbungskomitee eine schwarze Kasse unterhalten, in die der damalige Chef des Konzerns Adidas, Robert Louis-Dreyfus, 10,3 Millionen Schweizer Franken eingezahlt habe. Eingeweiht gewesen seien der Leiter des Bewerbungskomitees, Franz Beckenbauer, und "weitere hochrangige Fußballfunktionäre", darunter der heutige Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), Wolfgang Niersbach. Alle Betroffenen bestreiten die Vorwürfe vehement. 

Die Deutschland AG

Dabei wäre offene Korruption allenfalls ein Teil der Einflussmaßnahmen gewesen, mit denen das deutsche Establishment die Fußball-WM 2006 nach Deutschland holte. Dass dies nur mit verbaler Überzeugungsarbeit gelungen sei, habe, "wer die FIFA kennt, ... nie geglaubt", urteilt exemplarisch der Sportjournalist Oliver Fritsch.[2] Kurz vor der Entscheidung über die WM-Vergabe sei "eine Deutschland AG aus Politik und Wirtschaft tätig geworden, vor allem in Gegenden, in denen Mitglieder des Fifa-Exekutivkomitees lebten", berichtet Fritsch. So habe Daimler "Hunderte Millionen Euro in Hyundai" investiert; ein Sohn des Hyundai-Gründers habe dem Komitee angehört. "Volkswagen und die Bayer AG versprachen hohe Investitionen in Thailand und Südkorea", führt Fritsch fort. Auch Thailand stellte ein Mitglied des Komitees. Die rot-grüne Bundesregierung habe darüber hinaus "eine Woche vor der WM-Vergabe die Lieferung von Panzerfäusten an Saudi-Arabien" genehmigt, von wo ebenfalls ein an der Entscheidung beteiligter Funktionär kam. Der Medienbesitzer Leo Kirch habe "für Millionen Mark wertlose TV-Rechte an Freundschaftsspielen von Bayern München" gekauft, dessen Präsident damals Franz Beckenbauer gewesen sei. Eine von Kirchs Firmen habe darüber hinaus dem Fifa-Komiteemitglied Morawi Makudi aus Thailand "einen hohen Betrag" überwiesen: "Makudi wählte Deutschland." 

Imageförderlich und profitabel

Dass die Anstrengungen der "Deutschland AG" sich für die Beteiligten politisch sowie letzten Endes durchaus auch finanziell lohnten, lässt sich dem Abschlussbericht der Bundesregierung zur Fußball-WM 2006 entnehmen. Begeistert äußerten sich nach dem Event nicht zuletzt die deutschen Botschaften in aller Welt. "Die Fußball-WM in Deutschland war ohne Zweifel die beste PR-Maßnahme für die Bundesrepublik ... seit Bestehen", hieß es etwa: "Die WM hat die Marke Deutschland mehr verbessert als es eine Million politischer Pressekampagnen bewirkt hätte." "Insgesamt hat Deutschland einen erheblichen Imagegewinn erfahren", heißt es trocken im Abschlussbericht der Bundesregierung zur WM 2006; das sei umso wichtiger, als "das Image eines Landes ... im internationalen Wettbewerb ein wichtiger Standortfaktor" sei.[3] In einer repräsentativen Umfrage seien in einer Reihe von WM-Städten "1.281 Personen aus alles Welt ... zum Reise- und WM-Land Deutschland" befragt worden. Ein Ergebnis sei: "Mit der WM 2006 konnten neue Kundengruppen erschlossen werden." Rund drei Viertel der Befragten seien "eigens für die WM nach Deutschland gekommen", fast die Hälfte sei "zum ersten Mal nach Deutschland" gereist. Mehr als die Hälfte der Befragten habe den WM-Aufenthalt auch "für Shopping-Ausflüge" genutzt. Nun wollten "über 90 Prozent der Befragten Deutschland als Reiseland weiterempfehlen": "Langzeitwirkung und Nachhaltigkeit des sportlichen Großereignisses sind gegeben." 

Das Land nach vorne bringen

Einschneidende Wirkung hat zudem die nationalistische Wende des Jahres 2006 entfaltet, die ohne die Fußball-WM kaum zustande gekommen wäre. "Im Sommer 2006 gab es scheinbar auf einmal all das, was während gut 60 Jahren kaum jemand mehr in Deutschland vermisst zu haben schien", heißt es in einer kritischen Analyse: "Nationalflaggen an Autos und Lastkraftwagen, an Balkonen und an Fenstern, Trinkbecher in den Deutschlandfarben, modische Flip-Flops in Schwarz-Rot-Gold". Der Begriff "Party-Patriotismus" habe sich seitdem eingebürgert.[4] Zur WM 2006 sei es "auf einmal scheinbar normal" geworden, ein angeblich unverkrampftes Verhältnis zu Deutschland zu haben. Eine wissenschaftliche Untersuchung habe anschließend bestätigt, "dass durch die Fußballweltmeisterschaft 2006 'das Tragen von Nationalfarben einem Großteil der Jugendlichen selbstverständlich geworden'" sei, heißt es weiter. Diplomaten beurteilen dies als sehr vorteilhaft für Berlin: "Nach einer erfolgreichen WM bringt Patriotismus das Land nach vorne", hieß es bei der Botschaft der Bundesrepublik in Washington.[5] 

Das Märchen vom Party-Patriotismus

Wissenschaftler hingegen beurteilen die Folgen des neuen Nationalismus, der durch die womöglich gekaufte Fußball-WM befeuert wurde, jenseits machtpolitischer Aspekte durchaus negativ. Der "unbeschwerte Party-Patriotismus" sei "schon damals ein Märchen" gewesen, wird beispielsweise die Sozialpsychologin Julia Becker von der Universität Osnabrück zitiert. Studien belegten "im Gegenteil", dass das stetige Zeigen von Deutschlandfahnen "die Fremdenfeindlichkeit steigern" könne: "Wer sich stark mit Deutschland identifiziert, ist fremdenfeindlicher, wenn er die Flagge vor Augen hat."[6] Schon kurz nach der WM hatte ein Team von Sozialwissenschaftlern bestätigt, dass nach der Großveranstaltung nicht nur ein klarer "Anstieg des Nationalismus" in der Bundesrepublik zu verzeichnen sei, sondern dass die wachsende "nationale Identifikation mit Gesamtdeutschland" zu klarer Abwertung von Migranten führe. Es sei "in jedem Fall ... davon abzuraten, das Land ... unter Mithilfe der Massenmedien mit Identitäts- und Patriotismuskampagnen zu überziehen", hieß es in der Auswertung einer Studie.[7] Tatsächlich hat die "Deutschland AG" aus Politik und Wirtschaft derlei Kampagnen bei folgenden Fußball-Großveranstaltungen erneut unterstützt. Der erstarkte Nationalismus zeigt sich in diesen Tagen auf den deutschen Straßen.(PK)

 

[1] Staatsanwaltschaft prüft Anfangsverdacht für Ermittlungen. www.spiegel.de 17.10.2015.
[2] Oliver Fritsch: Die verkauften WM-Turniere. www.zeit.de 04.06.2015.
[3] Fußball-WM 2006. Abschlussbericht der Bundesregierung.
[4] Christian Russau: Ein Sommermärchen? Rückblicke auf die Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland. Heinrich-Böll-Stiftung, April 2014.
[5] Fußball-WM 2006. Abschlussbericht der Bundesregierung.
[6] Martina Schwager: Nationalstolz bei Fußball-WM kann in Fremdenfeindlichkeit umschlagen. www.migazin.de 26.06.2014.
[7] Julia Becker, Ulrich Wagner, Oliver Christ: Nationalismus und Patriotismus als Ursache von Fremdenfeindlichkeit. In: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 5, Frankfurt am Main 2007. S. dazu Ein Stück Volksverdummung.

 

Wir haben diesen Artikel mit Dank aus dem Blog http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59228 übernommen.



Online-Flyer Nr. 533  vom 21.10.2015



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