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Globales
Der Doppel-Bombenanschlag auf die linke kurdische Friedenskundgebung
Massenmord der Regierung in Ankara?
Von Peter Kleinert

Der Doppel-Bombenanschlag auf die linke Friedenskundgebung am Bahnhof der türkischen Hauptstadt Ankara vom vergangenen Samstag hat bisher laut Regierungsangaben mehr als 95 Menschen das Leben gekostet. Die prokurdische Partei HDP, die neben zahlreichen linken Organisationen an der Vorbereitung der mehrere tausend Demonstranten zählenden Kundgebung beteiligt war, sprach am Sonntag von 122 Ermordeten und etwa 250 Verletzten. Anfangs war offiziell nur von 86 Toten und 186 Verletzten die Rede gewesen. Der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, macht den türkischen Staat für den Massenmord durch Erdogan-freundliche Selbstmordattentäter verantwortlich. Auch in deutschen Städten wie Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Köln und Stuttgart gingen Kurden und Linke gegen Präsident Erdogan und seine AKP-Regierung auf die Straße.



Präsident Erdogan – der Größte und kein Attentäter
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Laut einem Bericht von Civaka Azad, dem Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit vom 10.10., hatten zu der Friedenskund-gebung die Gewerk-schaften DISK (Konföderation der Revolutionären ArbeiterInnen-Gewerkschaft) und KESK (Konföderation der Gewerkschaften der ArbeiterInnen des Öffentlichen Dienstes), sowie die Berufs-verbände TMMOB (Ingenieurs- und Architektenkammer der Türkei) und TTB (Ärztekammer der Türkei) aufgerufen. Dem Aufruf waren neben der Demokratischen Partei der Völker (HDP) auch zahlreiche linke und demokratische Parteien und Organisationen aus der Türkei gefolgt. Laut Angaben des HDP Abgeordneten Sırrı Süreyya Önder ereigneten sich die Bombenexplosionen auf der Kundgebung allesamt im Menschenblock der HDP.

Der Co-Vorsitzende des Kongra-Gel (Volkskongress Kurdistans), Remzi Kartal, hatte bereits am 9. Oktober in einem Interview mit dem Fernsehsender Med Nuçe TV erklärt, dass die PKK und der KCK am Sonntag eine vorübergehende Waffenruhe erklären würden. „Mit der Waffenruhe sollen die demokratischen Kräfte gestärkt werden. Alle, die eine Waffenruhe fordern, müssen nun diesen Prozess unterstützen“, so Kartal. Dass der Bombenanschlag sich nun einen Tag vor der angekündigten Waffenruhe ereignete, wird von vielen Kreisen als ein direkter Angriff auf die Bestrebungen für ein Ende der Auseinandersetzungen gewertet: „Wir haben es mit einem massenmordenden Staatsverständnis zu tun.“

Auch Selahattin Demirtaş macht die Regierung für den Bombenanschlag mitverantwortlich. In einer ersten Presseerklärung in Istanbul rief Demirtaş die Menschen dazu auf, nach Ankara zu blicken. „Dort liegen die Leichname der Opfer noch am Boden, es wird versucht, die Verletzten in Krankenhäuser zu transportieren. Und mitten in dieser Atmosphäre beschießt die Polizei die Menschenmenge mit Gasgranaten, die Krankenwagen werden nicht zum Tatort vorgelassen. Mitten in Ankara findet ein Massaker statt, aber zum Ort des Geschehens werden keine Krankenwagen vorgelassen, sondern Polizeikräfte. Anscheinend soll dort bewusst die Zahl der Todesopfer in die Höhe getrieben werden. Nun wird der Staatspräsident in die Öffentlichkeit treten, in unsere Augen schauen und alle Seiten zur Zurückhaltung aufrufen, während gleichzeitig die Polizeikräfte, die unter seinem Befehl stehen, die Verletzten am Tatort mit Gasgranaten beschießen“, so Demirtaş. Der HDP- Co-Vorsitzende sprach davon, dass man es „mit einem mafiosen, mörderischen und massenmordenden Staatsverständnis“ zu tun habe.

Zu der Bluttat kam es drei Wochen vor den vorgezogenen Neuwahlen für das Parlament. "Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk", sagte Selahattin Demirtas. "Ihr seid Mörder. An euren Händen klebt Blut." Demirtas kritisierte, die AKP-Regierung habe bisher weder den Anschlag auf prokurdische Aktivisten im Juli im südtürkischen Suruc noch den auf eine HDP-Wahlveranstaltung im Juni in der Kurdenmetropole Diyarbakir aufgeklärt. Den Anschlag in Suruc mit 34 Toten hatte die Regierung der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) zugeschrieben, die sich aber nie zu der Tat bekannte. Kurz nach dem Anschlag eskalierte der Konflikt zwischen der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Regierung, der seit Juli Hunderte Menschen das Leben kostete. 

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan behauptete nun am 10.10. offenbar im Hinblick auf die in drei Wochen anstehenden Wahlen zu dem Massenmord in Ankara: "Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff zutiefst, dessen Ziel die Einheit, Solidarität und der Frieden unseres Landes gewesen ist." Er versprach eine Aufklärung des Anschlags. Sein Nachfolger als Ministerpräsident, Ahmet Davutoglu, sagte dazu: "Es gibt sehr starke Hinweise darauf, dass dieser Anschlag von zwei Selbstmordattentätern verübt worden ist." Als mögliche Urheber der Tat nannte Davutoglu den "Islamischen Staat", die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und zwei linksextremistische Terrorgruppen. Anschläge der PKK auf eine prokurdische Demonstration wie diese werden allerdings auch von vielen Türken als schlechter Witz angesehen. 

Nach dem Anschlag demonstrierten ab Samstagabend in Istanbul und anderen türkischen Großstädten aber auch in Deutschland Tausende Menschen - vor allem Kurden - gegen die Regierung. Sprechöre waren u.a. "Dieb - Mörder - Erdogan". Auch die seit Jahren von der türkischen Regierung verbotene und in der Türkei, Syrien und dem Irak mit Bomben bekämpfte kurdische Arbeiterpartei PKK wurde von den Demonstranten zu Vergeltungsaktionen aufgefordert, während diese öffentlich ankündigte, bis auf weiteres nicht gegen die Regierung zu kämpfen. Voraussetzung sei, "dass keine Angriffe gegen die kurdische Bewegung, das Volk und Guerillakräfte ausgeführt werden." 

Im Internet waren auf Bildern Leichen zu sehen, die mit Flaggen und Blumen u.a. der HDP bedeckt sind. Diese teilte offiziell mit, Polizei sei erst nach 15 Minuten am Anschlagsort eingetroffen und hätte danach Tränengas gegen Menschen eingesetzt, die den hunderten Verletzten helfen wollten. 

In ersten Reaktionen aus dem Ausland wurde der Bombenanschlag auch als Angriff auf Demokratie und Meinungsfreiheit in der Türkei verurteilt. Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel schrieb an Ministerpräsident Davutoglu es habe sich bei diesen Attentaten um "besonders feige Akte" gehandelt, "die unmittelbar gegen Bürgerrechte, Demokratie und Frieden gerichtet sind.", Sie sah als deren Verursacher im Hintergrund allerdings nicht die Wahlkämpfer Davutoglu und Erdogan, sondern Terroristen. Auch Bundespräsident Joachim Gauck sprach von einem "Anschlag auf die Menschlichkeit, die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt". Ähnliche Beileidserklärungen trafen bei der türkischen Regierung auch von der US-Regierung und vom russische Präsidenten Putin ein. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg fasste dies alles zusammen: "Alle Bündnispartner stehen Seite an Seite im Kampf gegen die Geißel des Terrorismus." (PK)



Online-Flyer Nr. 532  vom 14.10.2015

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