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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Globales
Die Palästinenser, die ihr Heimatland verloren hatten, bewunderten ihn
Gamal Abd-al-Nasser und ich
Von Uri Avnery

Diese Woche vor 45 Jahren starb Gamal Abd-al-Nasser mit nur 52 Jahren. Das ist jedoch kein Ereignis, das der Vergangenheit angehört. Es hat weiterhin auch auf die Gegenwart sehr großen Einfluss und wird wahrscheinlich auch die Zukunft beeinflussen. 1948 bin ich ihm mehrere Male begegnet. Ich sagte manchmal zum Spaß: „Wir waren einander sehr nahe, aber wir wurden einander nie ordentlich vorgestellt!“
 

Gamal Abd-al-Nasser
NRhZ-Archiv
Das geschah folgendermaßen: Im Juli versuchten wir verzweifelt, den Anmarsch der ägyptischen Armee auf Tel Aviv aufzuhalten. Der Eckpfeiler unserer Front war ein Dorf namens Negba. Eines Abends erfuhren wir, dass eine ägyptische Einheit uns die Straße zu diesem Kibbuz abgeschnitten und sich dort verschanzt habe.
Die Kompanie, zu der ich gehörte, war eine mobile Kommandoeinheit in Jeeps. Auf jedem Jeep waren zwei Maschinengewehre. Wir bekamen den Befehl, die Stellung zu stürmen und sie, koste es, was es wolle, wieder einzunehmen. Es war eine verrückte Idee. Schließlich benutzt man keine Jeeps, um Soldaten, die sich verschanzt haben, anzugreifen. Aber auch die Kommandeure waren verzweifelt.
In der Dunkelheit fuhren wir also die enge Straße entlang, bis wir die ägyptische Stellung erreicht hatten. Dort empfing uns ein mörderischer Beschuss. Wir wichen zurück, aber dann gesellte sich der Bataillon-Kommandant zu uns und führte einen weiteren Angriff an. Dieses Mal überrannten wir die Ägypter buchstäblich und fühlten menschliche Körper unter unseren Rädern. Die Ägypter flohen. Ihr Kommandant war verwundet. Später erfuhr ich, dass er ein Major namens Gamal Abd-al-Nasser gewesen war.
Danach wendete sich das Kriegsglück. Wir bekamen die Oberhand und umzingelten eine ganze ägyptische Brigade. Ich gehörte zur Belagerungsstreitmacht, als ich schwer verwundet wurde. Auf der Gegenseite war Major Abd-al-Nasser.
 
VIER JAHRE darauf rief mich Gingi ganz aufgeregt an: „Ich muss dich sofort sprechen!“, sagte er.
Gingi ist ein hebräisches Slang-Wort für Ingwer, “ginger”, wie die Briten einen Rothaarigen nennen. Dieser spezielle Gingi war ein kleiner, sehr dunkler Jemenit. Er hatte den Spitznamen Gingi bekommen, weil er sehr schwarzes Haar hatte – damals war das unsere Art von Humor.
Gingi (sein wirklicher Name war Jerucham Cohen) hatte während des Krieges als Adjutant des Kommandeurs der Südfront Jigal Alon gedient. Während des Kampfes war ein kurzer Waffenstillstand vereinbart worden, um beiden Seiten zu ermöglichen, ihre Toten und Verwundeten zu bergen, die zwischen den Linien liegen geblieben waren. Gingi sprach arabisch und wurde geschickt, um mit dem Abgesandten der eingeschlossenen ägyptischen Streitkräfte zu verhandeln: Es war Major Abd-al-Nasser.
Wie es so geht, entstand im Laufe einiger Begegnungen eine Freundschaft zwischen den beiden Männern. Als der Ägypter einmal sehr deprimiert war, versuchte Gigi ihn zu trösten und sagte: „Nur Mut, Gamal, du wirst hier lebend rauskommen und Kinder haben!“
Die Prophezeiung erfüllte sich. Der Krieg endete, die eingeschlossene Brigade kehrte nach Kairo zurück und die Soldaten wurden als Helden empfangen. Jerucham wurde dazu bestimmt, an der israelisch-ägyptischen Waffenstillstandskommission teilzunehmen. Eines Tages sagte sein ägyptischer Kollege zu ihm: „Oberstleutnant Abd-al-Nasser hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass ihm ein Sohn geboren worden ist.“
Jerucham kaufte einen Strampelanzug und übergab ihn dem Kollegen bei ihrem nächsten Treffen. Nasser schickte ihm seinen Dank, zusammen mit einer Kuchenauswahl aus dem berühmten Groppi-Cafè in Kairo.
 
IM SOMMER 1952 rebellierte die ägyptische Armee und veranlasste nach einem unblutigen Putsch den Playboy-König Faruk dazu, seine Sachen zu packen. Der Putsch wurde von einer Gruppe „freier Offiziere“ durchgeführt und vom 51jährigen General Muhammad Naguib geleitet.
Ich veröffentlichte in meiner Zeitschrift eine Gratulationsadresse an die Offiziere.
Als ich mich mit Gingi traf, sagte er: „Kümmere dich nicht um Naguib. Er ist nur ein Strohmann. Der wirkliche Führer ist ein Bursche namens Nasser!“ Auf diese Weise bekam meine Zeitschrift einen Welt-Knüller: Lange vor allen anderen in der Welt enthüllten wir, dass der wirkliche Führer ein Offizier namens Abd-al-Nasser war.
(Ein Wort über arabische Namen. Gamal heißt Kamel, für Araber ist es ein Symbol der Schönheit. Abd-al-Nasser – Abd-an-Nasser ausgesprochen – bedeutet „Diener [Allahs] des Siegreichen“. Als wir ihn nur Nasser nannten, wie wir es alle taten, nannten wir ihn mit einem der 99 Namen Allahs.)
Als Nasser zum offiziellen Führer wurde, erzählte mir Jerucham ganz im Geheimen, dass er gerade eine erstaunliche Einladung bekommen habe: Nasser hatte ihn eingeladen, ihn ganz privat in Kairo zu besuchen.
„Nimm die Einladung an!“, beschwor ich ihn. „Das kann eine historische Öffnung werden!“
Aber Jerucham war ein gehorsamer Staatsbürger. Er bat das Außenministerium um Erlaubnis. Der bekannte Friedens-Liebhaber Mosche Scharett verbot ihm, die Einladung anzunehmen. „Wenn Nasser mit Israel sprechen will, muss er sich ans Außenministerium wenden“, sagte er Jerucham. Das war natürlich das Ende der Geschichte.
 
NASSER WAR ein neuer Araber-Typ: groß, gut aussehend, charismatisch und ein faszinierender Redner. David Ben-Gurion, der schon alt wurde, fürchtete sich vor ihm und vielleicht beneidete er ihn auch. Deshalb verschwor er sich mit den Franzosen, ihn zu stürzen.
Nach einem kurzen freiwilligen Exil in einem Kibbuz kehrte Ben-Gurion 1955 auf seinen Posten als Verteidigungsminister zurück. Das Erste, was er tat, war, die ägyptische Armee in Gaza anzugreifen. Nach Plan oder aus Versehen wurden viele ägyptische Soldaten getötet. Nasser war wütend und fühlte sich gedemütigt. Er wandte sich an die Sowjets und bekam ganze Schiffsladungen mit Waffen.
Seit 1954 befand sich Frankreich im Krieg mit der algerischen Befreiungsbewegung. Da die Franzosen sich nicht vorstellen konnten, dass die Algerier sich aus eigenem Antrieb gegen Frankreich erhoben hätten, beschuldigten sie Nasser, er habe sie aufgehetzt. Die Briten traten dem Klub bei, weil Nasser gerade die Britisch-Französische Gesellschaft verstaatlicht hatte, die den Suez-Kanal betrieb.
Daraus ergab sich das Suez-Abenteuer von 1956: Israel griff die ägyptische Armee in der Wüste Sinai an, während die Franzosen und die Briten in ihrem Rücken landeten. Die ägyptische Armee war so gut wie eingeschlossen und ihr wurde befohlen, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Einige ägyptische Soldaten ließen ihre Stiefel in der Wüste zurück. Israel war von dem durchschlagenden Sieg berauscht.
Aber sowohl die Amerikaner als auch die Sowjets waren wütend. US-Präsident Eisenhauer und Sowjet-Präsident Bulganin stellten Ultimaten und die drei verschworenen Mächte mussten sich vollkommen zurückziehen. „Ike“ war der letzte amerikanische Präsident, der es wagte, Israel und den US-Juden entgegenzutreten.
Über Nacht wurde Nasser der Held der gesamten arabischen Welt. Die Verwirklichung seiner Vision von einer panarabischen Nation rückte in den Bereich des Möglichen. Die Palästinenser, die ihr Heimatland verloren hatten, da es zwischen Israel, Jordanien und Ägypten aufgeteilt worden war, sahen ihre Zukunft in einer solchen umfassenden Nation und bewunderten Nasser.
In Israel wurde Nasser zum schlimmsten Feind, zum personifizierten Teufel. Er wurde offiziell und in allen Medien „der ägyptische Tyrann“ genannt und oft auch „der zweite Hitler“. Als ich vorschlug, mit ihm Frieden zu schießen, hielten mich die Leute für verrückt.
 
NASSER ließ sich von seiner enormen Beliebtheit in der ganzen arabischen Welt dazu hinreißen, Dummheiten zu machen. Als der israelische Stabschef Jitzchak Rabin die Syrer mit einer Invasion bedrohte, hielt Nasser die Gelegenheit für gekommen, seine Führung zu beweisen. Er warnte Israel und schickte seine Armee in die entmilitarisierte Wüste Sinai.
In Israel fürchteten sich die Menschen. Alle außer mir (und der Armee). Ein paar Monate zuvor war ich im Geheimen informiert worden, dass ein führender israelischer General Freunden anvertraut hatte: „Ich bete jeden Abend, dass Nasser seine Armee in den Sinai schickt. Dort werden wir sie vernichten!“
Und so geschah es. Zu spät erkannte Nasser, dass er in eine Falle gegangen war (wie meine Zeitschrift als Schlagzeile verkündete). Um die Katastrophe abzuwenden, stieß er die Drohung aus, die den Israelis das Blut gerinnen ließ: Er werde „Israel ins Meer werfen“, und er schickte hochrangige Abgesandte nach Washington, damit sie dort dringend darum bäten, Israel aufzuhalten.
Es war zu spät. Nach langem Zögern und nachdem sie die ausdrückliche Erlaubnis von Präsident Johnson bekommen hatte, griff die israelische Armee an und zerschlug die ägyptischen, die jordanischen und die syrischen Streitkräfte innerhalb von sechs Tagen.
Das hatte zwei historische Ergebnisse: Israel wurde zu einer Kolonialmacht und dem panarabischen Nationalismus war das Rückgrat gebrochen worden.
 
NASSER BLIEB noch drei Jahre an der Macht, aber er war nur noch ein Schatten seines ehemaligen Ichs. Offensichtlich war er nachdenklich geworden.
Eines Tages bat mich mein französischer Freund, der bekannte Journalist Eric Rouleau, dringend, nach Paris zu kommen. Rouleau war ein in Ägypten geborener Jude und arbeitete für die renommierte französische Zeitung Le Monde. Er kannte sich mit der ägyptischen Elite aus. Er sagte mir, dass Nasser ihm gerade ein langes Interview gegeben habe. Wie vereinbart, schickte er Nasser vor der Veröffentlichung den Text zur Bestätigung. Nach einigen Überlegungen strich Nasser den wichtigen Abschnitt: ein Friedensangebot an Israel. Es war im Wesentlichen das Angebot, das neun Jahre später die Grundlage für die Friedensvereinbarung zwischen Sadat und Begin bilden sollte.
Aber Rouleau hatte ja das ganze Interview aufgenommen. Er bot mir den Text an, damit ich ihn unter dem Siegel der Verschwiegenheit an die israelische Regierung weitergeben könnte.
Ich eilte nach Hause und rief ein wichtiges Mitglied der israelischen Regierung an, den Finanzminister Pinchas Sapir, der als das am meisten friedliebende Regierungsmitglied galt. Er empfing mich sofort, hörte mir zu und – zeigte überhaupt kein Interesse. Ein paar Tage später, während der Krise des „schwarzen Septembers“ in Jordanien, starb Nasser plötzlich.
 
MIT IHM starb die Vision vom panarabischen Nationalismus, von der Wiedergeburt der arabischen Nation unter der Fahne einer europäischen Idee, die sich auf rationales säkulares Denken gründete.
In der arabischen Welt entstand ein spirituelles und politisches Vakuum. Aber, wie wir wissen, verabscheut die Natur die Leere.
Nasser war tot und nach dem gewaltsamen Ende seiner Nachfolger und Nachahmer: Sadat, Mubarrak, Gaddafi und Saddam, stand das Vakuum für eine neue Macht offen: für den salafistischen Islamismus.
Ich habe in der Vergangenheit oft gewarnt, dass, wenn wir Nasser und den arabischen Nationalismus zerstören, religiöse Kräfte in den Vordergrund treten würden: Anstelle eines Kampfes zwischen rationalen Feinden, der in einem rationalen Frieden enden könnte, werde es der Anfang eines Religionskrieges sein, der per definitionem irrational sein und keine Kompromisse zulassen werde.
Genau an dieser Stelle stehen wir heute. An Nassers Stelle haben wir Daesh. Anstelle einer arabischen Welt, die von einem Charismatiker geführt wurde, der den arabischen Massen an allen Orten das Gefühl von Würde und Erneuerung gab, stehen wir nun einem Feind gegenüber, der öffentliche Enthauptungen glorifiziert und der uns ins siebente Jahrhundert zurückversetzen will. 
Ich gebe der israelischen und amerikanischen politischen Blindheit und puren Dummheit die Schuld an dieser gefährlichen Entwicklung. Ich hoffe, wir haben noch Zeit genug, diese rückgängig zu machen. (PK)


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer Mitarbeiterinnen für die NRhZ rezensiert.
Für die Übersetzung dieses Buches und von Avnerys Artikeln aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie hat auch ein neues eBuch bei Amazon veröffentlicht: "Ira Chernus, Amerikanische Nationalmythen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft". Alle ihre Bücher findet man unter http://www.amazon.com/s/ref=nb_sb_noss?url=search-alias%3Daps&field-keywords.
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Online-Flyer Nr. 531  vom 07.10.2015

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