NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

zurück  
Druckversion

Globales
Berlin erhöht den Druck auf die ukrainischen Oligarchen
Kontrollmission in Kiew
Von Hans Georg

Vor dem heutigen Ukraine-Gipfel (am 2.10.) in Paris erhöhte Berlin den Druck auf die ukrainischen Oligarchen. "Der Einfluss der Oligarchen auf Staat und Regierungshandeln" in Kiew müsse "signifikant eingeschränkt" werden, heißt es in einem aktuellen Papier aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Berlin sehe sich "verpflichtet", die "lückenlose Kontrolle" entsprechender Schritte zur "Transformation der Ukraine" einzufordern. Am gestrigen Donnerstag sind sechs Staatssekretäre und zwei Abteilungsleiter aus acht Bundesministerien nach Kiew aufgebrochen, um dort zwei Tage lang die "Vertiefung der Zusammenarbeit" zu planen, insbesondere aber "den Stand der Umsetzung der Reformen" in Augenschein zu nehmen.
 
Hintergrund ist der drohende ökonomische Zusammenbruch der Ukraine, der in Berlin nicht zuletzt den Machenschaften der Oligarchen angelastet wird; er wäre ein schwerer Schlag für das deutsche Polit-Establishment. Darüber hinaus bemüht sich die Bundesregierung, auf dem heutigen Ukraine-Gipfel die äußere Stabilisierung des Landes mit Hilfe des Minsk II-Abkommens voranzutreiben. Dies soll auf lange Sicht auch den Wiederaufbau der Wirtschaftsbeziehungen mit Russland und den erneuten Aufschwung des deutschen Ost-Geschäfts ermöglichen.
 
Führungsanspruch in Osteuropa
 
Vor dem heutigen Ukraine-Gipfel in Paris ist es Berlin gelungen, in einigen wichtigen Punkten die Umsetzung des Minsk II-Abkommens voranzubringen. Dies gilt aus mehreren Gründen als vordringlich. Zum einen droht eine Fortdauer des offenen Bürgerkriegs die ökonomisch weitgehend zerrüttete Ukraine weiter in den Ruin zu treiben, was die Kosten für ihre westlichen Unterstützer noch mehr ansteigen ließe. Daneben wird zumindest das Einfrieren des Konflikts in der Ostukraine für nötig gehalten, um die Beziehungen Deutschlands zu Russland auf wirtschaftlicher Ebene zu glätten; das aber wäre aus Berliner Perspektive wünschenswert, um zu einem erneuten Aufschwung im Ost-Geschäft zu kommen. Nicht zuletzt verkörpert der Minsk-Prozess, an dem die Vereinigten Staaten nicht beteiligt sind, den deutschen Führungsanspruch im Rahmen der westlichen Ukraine-Politik. Beobachter haben mehrfach darauf hingewiesen, dass Berlin darauf bestanden hat, den heutigen Gipfel in Paris abzuhalten und den Ukraine-Konflikt nicht - wie den Syrien-Krieg - am Rande der UN-Generalversammlung zu behandeln. In New York wäre es vermutlich unvermeidlich gewesen, Washington einzubeziehen. Genau dies aber ist aus deutscher Sicht nicht erwünscht.
 
Kämpfe eingefroren, Erdgas gesichert
 
Erfolge bei der Umsetzung von Minsk II konnten zuletzt insbesondere beim Waffenstillstand in der Ostukraine erzielt werden. Die Feuerpause, die dort seit dem 1. September gilt, wird relativ weitgehend eingehalten. Diese Woche ist es zudem gelungen, zu einer Einigung über den Abzug von Waffen zu gelangen. Demnach sollen die ukrainischen Streitkräfte und die ostukrainischen Kämpfer Panzer, Artillerie und Granatwerfer mit einem Kaliber von bis zu 120 Millimetern von der Frontlinie zurückziehen.[1] Darüber hinaus hat es schon am Wochenende eine Einigung bezüglich der Erdgasversorgung der Ukraine gegeben. Wenngleich der industrielle Gasverbrauch des Landes stark gesunken ist, weil die Industrie am Boden liegt, wird Kiew im kommenden Winter wohl dennoch Gas aus Russland importieren müssen - zumal Meteorologen niedrigere Temperaturen als letztes Jahr vorhersagen. Die Einfuhren aus der EU sind in den ersten siebeneinhalb Monaten 2015 zwar auf rund 7,4 Milliarden Kubikmeter Erdgas gesteigert worden - 6,9 Milliarden Kubikmeter aus der Slowakei, 0,4 Milliarden aus Ungarn, 0,1 Milliarden aus Polen -, doch können sie kurzfristig um höchstens ein weiteres Drittel gesteigert werden, urteilen Experten - und das reicht wohl nicht aus.[2] Moskau hat Kiew nun neue Lieferungen zu einem vergleichsweise günstigen Preis von 232 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter Gas zugesagt. Die Ukraine will schon im Oktober zwei Milliarden Kubikmeter importieren, um ihre Speicher rechtzeitig vor Beginn des Winters zu füllen.
 
Der Assoziierungsstreit
 
Unklar ist, ob Moskau im Gegenzug beim heutigen Pariser Gipfeltreffen auf Zugeständnisse in puncto EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine hoffen kann. Das Assoziierungsabkommen ist vor rund einem Jahr ratifiziert worden - allerdings mit der Maßgabe, dass es erst Anfang 2016 in Kraft tritt, und zwar ergänzt um Regelungen, die verhindern sollen, dass Russland gravierende Nachteile durch es hinnehmen muss (german-foreign-policy.com berichtete [3]). Die Option, parallel zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine ein Freihandelsabkommen mit der von Moskau geführten Eurasischen Union zu schließen, um derlei Nachteile zu vermeiden, ist mehrfach erwogen worden, wurde zuletzt aber nicht mehr öffentlich thematisiert. Ein Treffen von EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström mit dem russischen Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew und dem ukrainischen Außenminister Pawel Klimkin blieb Anfang September erfolglos; die Verhandlungen sollen im November fortgesetzt werden.[4] Der russische Premierminister Dmitri Medwedjew hat gestern bestätigt, Moskau werde Kiew bei Ausbleiben einer Einigung sämtliche Handelsprivilegien entziehen, um die russische Wirtschaft vor allem gegen die Durchleitung von EU-Billigexporten durch die assoziierte Ukraine nach Russland zu schützen.
 
Die Herrschaft der Oligarchen
 
Während Berlin am heutigen Freitag die Verhandlungen mit Moskau und Kiew vorantreibt, erhöht es zugleich den Druck auf die ukrainischen Oligarchen. Hintergrund ist die desolate Entwicklung des Landes, das ökonomisch schon seit Monaten vor dem Zusammenbruch steht.[5] Am gestrigen Donnerstag sind in einem außergewöhnlichen Schritt sechs deutsche Staatssekretäre und zwei Abteilungsleiter aus insgesamt acht Bundesministerien nach Kiew aufgebrochen, um dort "eine Vertiefung der Zusammenarbeit" und insbesondere "den Stand der Umsetzung der Reformen" zu thematisieren.[6] Letzteres bezieht sich vor allem auf die Tatsache, dass die korrupte Herrschaft der ukrainischen Oligarchen, die die Entwicklung der Ukraine bereits vor den Majdan-Protesten hemmte, trotz aller Lippenbekenntnisse fortbesteht. "Die Deoligarchisierung" habe bislang "wenig greifbare Resultate erzielt", stellte vor kurzem die vom Bundeswirtschaftsministerium finanzierte "Deutsche Beratergruppe Ukraine" fest: "Auf fast keinen Korruptionsskandal folgte ein Gerichtsverfahren, während sich die Oligarchen anscheinend eine starke Präsenz bei der Entscheidungsfindung bewahren." Zwar strebe Kiew offiziell die "Schaffung eines kompetitiveren Geschäftsklimas in der Ukraine" an, das für westliche Investoren attraktiv wäre, doch gebe es dazu offenbar nicht den tatsächlichen "politischen Willen".[7]
 
Lückenlose Kontrolle
 
Den in Berlin herrschenden Unmut über die mangelnde ökonomische Anpassung der Ukraine zeigt ein Positionspapier, das der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Franz Josef Jung und sein für die Ukraine zuständiger Fraktionskollege Karl-Georg Wellmann am Mittwoch vorgelegt haben. In dem Papier heißt es, "die Transformation der Ukraine" sei "angesichts der desolaten Wirtschaftslage dringend nötig". Insbesondere "eine umfassende Justizreform und die wirksame Bekämpfung der Korruption" seien "Schlüsselvoraussetzungen für eine erfolgreiche Modernisierung und ausländische Investitionen". Berlin sehe sich "verpflichtet", die Reformen und ihre Umsetzung jetzt "von Kiew nachdrücklich einzufordern" und "die erforderlichen Konditionen zu setzen": Es gehe um "strikte Konditionalität bis ins Detail und lückenlose Kontrolle". Es sollten "alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen für die weitere Entwicklung des Landes in die Verantwortung" genommen werden, heißt es weiter; dazu gehöre ausdrücklich, "dass der Einfluss der Oligarchen auf Staat und Regierungshandeln signifikant eingeschränkt wird". Die notwendigen Initiativen und Gesetze müssten umgehend "entschlossen umgesetzt werden".[8]
 
Für Investoren interessant
 
Jung und Wellmann benennen in dem Papier ausdrücklich ihre Vorstellungen von der Zukunft der Ukraine. "Das Land ist potenziell für Investoren sehr interessant", heißt es in dem Dokument: Es habe "ein großes technologisches Potenzial, gut ausgebildete Facharbeiter und Ingenieure und wichtige Bodenschätze".[9] Als möglicher Niedriglohnstandort der Zukunft werde die Ukraine von deutschen Firmen durchaus wahrgenommen, berichtet der Ukraine-Experte Reinhard Lauterbach: Der Automobilzulieferer Leoni denke laut Insidern mittlerweile über die Rückverlagerung von Produktionsstätten aus China in die Ukraine nach.[10] Einer profitablen Verallgemeinerung dieses Modells stehen allerdings noch der Bürgerkrieg und die Herrschaft der Oligarchen entgegen.
 
Mehr zur deutschen Ukraine-Politik: Vom Stigma befreit, Die freie Welt, "Faschistische Freiheitskämpfer", Die Restauration der Oligarchen (IV), Ukrainische Patrioten, Die europäische Wahl der Ukraine, Vom Nutzen des Waffenstillstands, Arbeitsteilige Aggression, Der Weg nach Westen, Faschisten als Vorbild, Widerspenstige Kollaborateure, Steinmeier und die Oligarchen und Ein Misstrauensreferendum. (PK)
 
 
[1] Ukrainische Konfliktparteien beschließen Waffenabzug. www.wienerzeitung.at 30.09.2015.
[2] Roland Götz: Erdgas für die Ukraine im Winter 2015/16: Wie viel, zu welchem Preis, von wem? Ukraine-Analysen Nr. 155, 16.09.2015.
[3] S. dazu Ein Lernprozess.
[4] Keine Lösung im Streit über EU-Abkommen mit der Ukraine. derstandard.at 07.09.2015.
[5] S. dazu Ein Misstrauensreferendum.
[6] Nach Kiew gereist sind die Staatssekretäre Stephan Steinlein (Auswärtiges Amt), Jörg Asmussen (Bundesministerium für Arbeit und Soziales), Werner Gather (Bundesministerium der Finanzen), Gunther Adler (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit), Rainer Bomba (Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur) und Friedrich Kitschelt (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit) sowie die Abteilungsleiter Marie Luise Graf-Schlicker (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz) und Eckhard Franz (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie). Hochrangige deutsche Unterstützung für die Ukraine. www.auswaertiges-amt.de 01.10.2015.
[7] Iryna Solonenko: Staat und Oligarchen: Ein neuer Gesellschaftsvertrag? Newsletter der Deutschen Beratergruppe Ukraine, Nr. 83, September 2015.
[8], [9] Franz Josef Jung, Karl-Georg Wellmann: Für eine aktive europäische Ukraine-Politik. Berlin, 30.09.2015.
[10] Reinhard Lauterbach: Strukturen ohne Inhalt. junge Welt 23.09.2015.
 
 
Diesen Artikel haben wir mit Dank von dem Blog gfp übernommen: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59215


Online-Flyer Nr. 530  vom 02.10.2015

Druckversion     



Startseite           nach oben

KÖLNER KLAGEMAUER


Für Frieden und Völkerverständigung
FOTOGALERIE