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Kommentar
»Angekommen«: Wie Angela Merkel, NATO, EU und Kapitallobby den globalen Wettlauf um die billigsten Arbeitsplätze organisieren.
Hol dir deinen Syrer
Von Werner Rügemer

Im Jahre 2012 sind offiziell 1,1 Millionen Menschen in die Bundesrepublik Deutschland zugewandert, 2013 waren es 1,2 Millionen. Gleichzeitig wanderte jeweils eine Dreiviertelmillion ab. Was also ist neu, wenn 2015 eine Million Menschen oder ein paar hunderttausend mehr zu uns kommen?

Angela Merkel
NRhZ-Archiv
 
Jetzt nennt man sie Flüchtlinge, aber das war die Mehrheit der früher Zugewanderten ebenfalls. Sie flohen (und fliehen) auch wegen eines Krieges, der nichts Gutes brachte, sondern zu einem zerstörerischen Nachkrieg führte, der weiter anhält. Sie verlassen das Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Albanien.
 
Der Krieg werde die Verhältnisse bessern, hatten die vermeintlich im Namen der Menschenrechte agierenden Aggressoren NATO und EU versprochen: wirtschaftlich, politisch, rechtlich, moralisch. Das Gegenteil ist eingetreten. Korruption, Staatszerfall, Arbeitslosigkeit. Dazu die Herrschaft von Oligarchen und verschiedenfarbigen Rechtskräften, von Nationalisten, Rassisten und Mafiosi. Es sind die zum neoliberalen Konzept gehörigen Verbündeten und Hilfstruppen (wie etwa in der Ukraine). Niemand würde vom »Westbalkan« flüchten, wenn es so wie zu Jugoslawiens Zeiten geblieben oder, wie versprochen, besser geworden wäre. Ähnliches gilt für die anderen Staaten, die Attacken derselben Aggressoren ausgeliefert waren und die Nachkriegsfolgen tragen müssen: Irak, Afghanistan, Libyen.
 
Nun flüchten Menschen vor ähnlichen Zuständen in Syrien. Auch dort sind die Angreifer in etwa dieselben, verstärkt durch antidemokratische Hilfs- und Terroristentruppen. Wenn wir das Assad-Regime mit der Herrschaft der von Obama und Merkel hofierten Machthaber vergleichen, kommt ersteres ziemlich gut weg: Es ist kein islamistischer Staat, im Vergleich zu den Lieblingsdiktaturen der westlichen »Wertegemeinschaft« wie Saudi-Arabien und Katar – Staaten, die u. a. Terroristen finanzieren, um das laizistische Syrien zu bekämpfen.
 
Arbeitsmarktstrategie
 
Was hat das mit Arbeitsplätzen in Deutschland zu tun? Gunnar Heinsohn erklärt es uns. Der Mann ist am NATO Defense College (NDC) in Rom für »Militärdemographie« zuständig und zugleich Mitarbeiter der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAK) in Berlin. Seine wissenschaftliche (?) Botschaft lautet: In den reichen NATO-Staaten schrumpfe die Bevölkerung. In der EU fehlten bei 1,5 Kindern pro Frau jährlich 2,1 Millionen Neugeborene. Es müssten also bis 2050 – mindestens so weit in die Zukunft wird geplant – 75 bis 100 Millionen Menschen irgendwie hinzukommen, oder mehr. Bei denen kämen im Durchschnitt zwei Kinder pro Frau zur Welt, hat der Forscher ausgerechnet. Es wäre nicht schlecht, wenn aber noch mehr Menschen in die EU kämen, vor allem solche, die arbeiten. Warum? Für das westliche Schrumpfmodell gilt es gerade heute als Markt- und Machtfaktor, möglichst viele Beschäftigte und Steuerzahler – sowie Verbraucher – bei sich leben zu haben.
 
In der EU gibt es zahlreiche Unqualifizierte und Arbeitslose, und es werde künftig noch mehr geben (»die Bedauernswerten« nennt Heinsohn sie). Auch deshalb müssten mehr Arbeitskräfte aus anderen Weltregionen geholt werden. »Jeder zehnte« könne eine Chance bekommen, lobt der Arbeitsplatzstratege. Zur NATO-geförderten Arbeitsmarktpolitik gehört es offenbar, die eigenen »Unqualifizierten« und Arbeitslosen im Abseits dahinvegetieren zu lassen.
 
Zuwanderer oder Flüchtlinge haben einen Vorteil: Sie stellen eine Auswahl der Fittesten dar. Vor allem haben sie sich erfolgreich im Wettlauf Richtung EU durchgesetzt. Dieser ist kein sportliches Ereignis, sondern etwas, das die Briten »Rat race« nennen.
 
Erstes Selektionskriterium: Sie sind angekommen. »Nur Asse passieren die Grenze«, sagt Heinsohn. Zweites: Sie sind noch erpressbarer und nehmen jede Arbeit an, ob hoch- oder nicht qualifiziert.
 
Die Auswahl kann nach Auffassung des Militärdemographen auch auf andere Weise organisiert werden. Zum Beispiel durch E-Learning. Damit »kommen schon jetzt die besten Lehrer kostenlos auf die Smartphones der isoliertesten Dörfer«, zum Beispiel in Afrika. Wenn dann die Lernwilligen – Schulen brauchen sie dort im Busch ja wohl nicht – vor Ort europäische Leistungstests bestehen, können sie sich in der EU bewerben. Aber nur ein winziger Bruchteil wird durchkommen. Doch: »Jeder Bewerber aus Afrika muss allerdings in Rechnung stellen, dass sich in Pakistan und Bangladesh ebenfalls viele Konkurrenten auf dieselben Lebenswege vorbereiten.«
 
Chef sagt: »Thank you, Angela«
 
Im NATO Defense College wird auch zur Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency Operations) und zur Rolle des Militärs in Revolutionen geforscht. Die aus den Erkenntnissen gewonnenen Vorschläge kursieren nicht nur in Militärkreisen. Als mediale Hilfstruppen haben sich u. a. die Frankfurter Allgemeine Zeitung, das Handelsblatt und die Achse des Guten von Henryk M. Broder hervorgetan.
 
Oberbefehlshaber Barack Obama lobte per Telefon seine Helferin aus Berlin: Thank you, Angela, dass ihr Deutschen so viele Flüchtlinge aus Syrien aufnehmt. Diese menschliche Großtat dient auch einem anderen Zweck: Das verhasste Assad-Regime wird nicht nur militärisch, sondern auch zivil destabilisiert. Die flüchtenden Akademiker lassen Schulen, Verwaltung, Krankenhäuser oder Ingenieurbüros personell ausbluten. Zurück bleiben die Schwächsten und Ärmsten. Unversorgt, arbeitslos, ohne Geld für die Schleuser. Heilige Fluchthelferin Angela: Warum hilfst du nicht auch diesen Menschen?
 
Regierungsvordenker Hans-Werner Sinn fordert: Mindestlohn senken, damit »wir« die Flüchtlinge besser »integrieren« können. Dass weitere »Freunde Angelas«, so die großen Unternehmerverbände, Flüchtlinge als Argument für eine Senkung der Mindestlöhne hernehmen, versteht sich von selbst. Nur werben sie jetzt zusätzlich damit, dies würde die »Integration« fördern. Weiteres Lohndumping wird so zur menschenfreundlichen Tat.
 
Facharbeiterlücke schließen
 
Es gibt weniger auffällige Organisatoren des Flüchtlingsrennens. Da ist der Arbeitsrechtsexperte Michael Sobik. Wenn Sie Unternehmer oder Manager sind, haben Sie dieser Tage vielleicht sein persönliches Rundschreiben erhalten: »Schließen Sie jetzt Ihre Facharbeiterlücke. Stellen Sie Flüchtlinge ein und tun dabei Gutes!«
 
Sobik mahnt zur Eile: »Der Wettbewerb der Industrie hat schon begonnen.« Er verweist auf Daimler-Chef Dieter Zetsche: »Er sucht in Flüchtlingscamps nach Mitarbeitern.« Und nicht nur er: »Headhunter« filzen demnach die Camps »nach neuen Fachkräften für die Industrie«. Der Experte rät seinen Kunden, kräftig auf die Tränendrüse zu drücken, das führe zu einem »positiven PR-Faktor«.
 
Sobik ist tätig für den Bildungsträger BWR Media, in dessen Seminaren zu Themen wie »außerordentliche Kündigungen von Betriebsratsmitgliedern« referiert wird. Der Laden gehört zum Bonner Rentrop-Verlag. Sobik preist in seinem Rundschreiben auch sein »Arbeitgeberhandbuch Mindestlohn« an: »Alle wichtigen Tips, Tricks und Kniffe für den Umgang« damit – christlich-deutsche Nächstenliebe in der Praxis.
 
Erlösen wir uns von dieser Heuchelei. Wir müssen Flüchtlingen in ihrer Not helfen, aber dies ist nur dann wahrhaftig, wenn wir gleichzeitig dazu beitragen, die kriegerische und menschenrechtswidrige Politik zu beenden, die Menschen aus ihren Ländern vertreibt. (PK)

Diesen Beitrag von Werner Rügemer haben wir mit Dank von der Zeitung "junge Welt" übernommen. Der Autor lebt in Köln, wurde zunächst bekannt durch sein Buch "Colonia Corrupta" (2002, 7. Auflage 2012), ist Lehrbeauftragter an der Universität Köln und beschäftigt sich mit den Hinter- und Abgründen von Wirtschaft und Politik weltweit. Er ist Vorstandsmitglied der aktion ./. arbeitsunrecht, gehört zum wissenschaftlichen Beirat von attac Deutschland und hat die Initiative Gemeingut in BürgerInnenhand (gib) mit gegründet. Er ist Mitglied im Deutschen Schriftstellerverband (ver.di), im PEN-Zentrum Deutschland und Initiator eines Aufrufs gegen das Freihandelsabkommen TTIP aus Arbeitnehmersicht. 2008 erhielt er den Kölner Karls-Preis der Neuen Rheinischen Zeitung.
 
 


Online-Flyer Nr. 529  vom 23.09.2015



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