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Medien
Ein unerhörter Verdacht: Verfolgung von Netzpolitik.org nur vordergründig
Ritt gegen Osten mit Netzpolitik.org?
Von Dietrich Schulze und Peter Kleinert

In der Informationsflut über den angeblichen Landesverrat von Netzpolitik.org ist häufig die Rede davon, dass die Anklage vom Verfassungsschutz-Chef Maaßen inszeniert worden sei, um ein unliebsames Netzorgan abzustrafen. Es gibt inzwischen noch eine völlig andere Vermutung über die Inszenierung. Albrecht Müller, einer der anerkanntesten unabhängigen Kritiker der herrschenden Politik und Herausgeber der NachDenkSeiten, hat am 13. August eine solche zu enormem Nachdenken anstiftende Vermutung veröffentlicht (1), einen unerhörten Verdacht.


Quelle: Netzpolitik.org

Hier die Schlusspassage seines Beitrags unter dem Titel „Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.“ unter der Zwischenüberschrift „P.S.: Verfolgung wegen Landesverrats – eine Inszenierung?“

„Im Netz wird kommuniziert, der Angriff auf Netzpolitik.org wegen Landesverrats sei inszeniert worden. Das kann ich weder widerlegen noch belegen. Aber einiges spricht dafür: davon profitiert das Medium außerordentlich, es hat Glaubwürdigkeit, Bekanntheit und finanzielle Mittel gewonnen. Davon profitierte Frau Merkel, weil sie sich als Verteidigerin der Netzfreiheit profilieren konnte, und sie wird davon profitieren, dass sie mit Netzpolitik.org ein glaubwürdiges Organ notfalls an ihrer Seite hat, wenn es gegen den Osten zu reiten gilt. Es profitierten die deutschen Medien, weil sie sich für ihre Kolleginnen und Kollegen tapfer geschlagen haben. Und auch sonst haben sie reihenweise von diesem Vorgang gewonnen: Vor allem der Generalbundesanwalt, der in den verdienten Vorruhestand entgleiten kann.“
 
Das würde bedeuten, die Hinweisgeber (Whistleblower) aus dem Bundesverfassungsschutz, die die inkriminierten Passagen an Netzpolitk.org lanciert haben, sind keine Whistleblower, wie allgemein angenommen, sondern anonyme Erfüllungsgehilfen ihrer Vorgesetzten. Ein fast unglaublicher Verdacht, der wenn er zutreffen sollte, praktisch nicht beweisbar ist. Die beiden Erfüllungsgehilfen werden wegen zugesagter Vorteile die Klappe halten. Netzpolitik.org kann die angeblichen Whistleblower um keinen Preis benennen. Hans-Georg Maaßen, Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, wird trotz vorliegender Beweise nicht gemaßregelt werden, weil er zu viel weiß. Das Bauernopfer, Generalbundesanwalt Harald Range, hat seinen Abgang geschickt in Szene gesetzt. Die Schwarz-Rote Bundesregierung hat sich als Verteidiger der Pressefreiheit profiliert.
Wie soll dieses fein eingefädelte Geflecht, falls der Verdacht stichhaltig ist, auffliegen können?
 
Wie konnte Albrecht Müller auf eine solche Vermutung kommen? Er hat sich eines ganz einfachen Mittels bedient, nach Gemeinsamkeiten der Streitenden gesucht und eine wesentliche Übereinstimmung zwischen Regierung und Netzpolitik.org gefunden, nämlich das böse Russland.


Albrecht Müller
Quelle: Nachdenkseiten
Nach intensiven Ausführungen über die reale Pressefreiheit heißt es in Müllers Artikel:
„In anderen westlichen Ländern steht es nicht besser als bei uns. Eine wirklich demokratische Willensbildung muss man mit der Lupe suchen.

Berlusconi hat sein Finanz- und Medienimperium benutzt, um die politische Macht zu ergattern und Italien in seinem Sinne zu verändern. In Frankreich bestimmen Wirtschaftskonzerne die Medien, in den USA und Großbritannien über weite Strecken der australische Medienkonzern Murdoch. Die Washington Post gehört dem Amazon-Gründer Jeff Bezos. Die New York Times lässt sich auf die Interessen der US-amerikanischen Regierung ein. – Und dennoch wird hierzulande von der westlichen Pressefreiheit geschwärmt, und es wird diese in Kontrast gesetzt zu den Verhältnissen zum Beispiel in Russland.
In Bezug auf Russland ist das Feindbild nach wie vor voll intakt. Das gilt auch für den Umgang mit den russischen Medien.
Die hier in Deutschland tätigen russischen Medien werden in der Regel geschnitten. Am Beispiel von Netzpolitik.org kann man den Umgang beispielhaft studieren. »Warum wir keine Interviews für Russia Today (RTdeutsch) geben« erklärte Netzpolitik schon 2014. (2).

In einem Interview mit Funkhaus Europa des WDR findet sich eine Erklärung für den Rauswurf russischer Journalisten:

Funkhaus Europa: »Vor dem Gespräch würde ich gerne auf einen Tweet eingehen, den Sie gerade gepostet haben. ‚Gerade russisches Fernsehen rausgeschmissen‘, heißt es, die ungefragt im Büro standen mit Verweis auf Pressefreiheit in Russland. Was ist denn da im Moment bei Ihnen los?«
Markus Beckedahl: »Hier stehen viele Journalisten Schlange, um über diesen Angriff auf die Pressefreiheit zu berichten. Zwischendurch stand auf einmal ungefragt ein russisches Fernsehteam, das auch darüber berichten wollte; wir haben sie mit Verweis auf die Situation und der nicht vorhandenen Pressefreiheit in Russland sofort wieder rausgeschmissen.«

Den Macher von Netzpolitik.org Markus Beckedahl muss man wegen seines intakten Feindbildes füglich bewundern. Ja, wir sind die Guten, und dort sind die Bösen, das funktioniert auch bei der Berichterstattung zum Ukraine-Konflikt. – Mich erinnern solche Einlassungen an die Auseinandersetzungen, die wir Ende der Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts an der FU Berlin mit Herrn Wohlrabe vom RCDS (Ring christlich-demokratischer Studenten) hatten. Auch damals gab es bei Wohlrabe und seinen Freunden ein festgefügtes Welt- und Feindbild.
Es stört auch, dass die in Deutschland und der sonstigen westlichen Welt tätigen russischen Medien von der russischen Regierung bezahlt werden. Netzpolitik.org widmet dieser Frage einen eigenen Beitrag (3) von Markus Beckedahl am 05. Oktober 2014:
»Russland baut seine Propaganda-Aktivitäten aus und Deutschland ist einer der Zielmärkte. Darüber berichtet das Wall Street Journal und ich gehe mal davon aus, dass die für russische Propaganda empfängliche Zielgruppe das Medium wiederum als USA-Propaganda entlarven wird: Russland startet seine Propaganda-Offensive in Berlin.«
Dass Russland einige Medien im Westen finanziert und dass die russische Regierung meint, ein Gegengewicht gegen westliche Informationsarbeit zu bilden, ist kein Geheimnis. Jeder kann sich seinen Reim darauf machen. Viele von uns können sich aber keinen Reim darauf machen, warum die Bild-Zeitung Kampagnen gegen Griechenland fährt und warum das ZDF wochenlang Propaganda für die Privatvorsorge im Alter macht und was der Hintergrund dessen ist, dass der Spiegel von einem einigermaßen kritischen Organ zu einem Propagandaorgan geworden ist. Die meisten kennen die Eigentumsverhältnisse bei der Washington Post und bei Le Monde nicht. Und die meisten wissen auch nichts von der Verfilzung der New York Times mit der US-amerikanischen Regierung zur Einleitung von Kriegen.
Welches russische Medium hat in den letzten 15 Jahren, also nach der Wende von 1989, Kriege mit vorbereitet, wie dies die New York Times gemacht hat? Diese Frage sollten sich deutsche Journalisten/innen mal stellen.

Auch wir, die NachDenkSeiten, verweisen ständig auf Artikel zum Beispiel der New York Times, und wir arrangieren sogar die Übersetzung von Kolumnen aus der New York Times. Kontaktsperre gibt es nicht. Wie ist das mit den russischen Medien?
Hier einschlägige Hinweise auf die Freiheit des Mediums New York Times:
Die New York Times (NYT) arbeitet auf das Engste mit der US-Regierung zusammen. So unterstützte die Zeitung laut Ray McGovern (4) den illegalen Angriffskrieg gegen den Irak, indem sie z.B. im Auftrag der Regierung gefälschte Hinweise auf ein Atomwaffenprogramm veröffentlichte. Dieser Krieg kostete Hundertausenden Menschen das Leben. Das hält den damals verantwortlichen Reporter, Michael R. Gordon, nicht davon ab, heute desinformierende und bewusst irreführende Artikel zur Ukraine zu schreiben, die Russen und Präsident Putin zu dämonisieren und damit erneut Propaganda zu verbreiten, die einen Krieg mindestens billigend in Kauf nimmt. Seine Kollegen in der Redaktion stehen ihm in nichts nach, Robert Parry schreibt regelmäßig darüber (5).
Nach einer ersten Enthüllung über das nicht genehmigte Abhörprogramm der NSA im Oktober 2004 wurde auf Druck der Regierung – das beinhaltete mehrere Treffen hochrangiger Regierungsvertreter mit Redakteuren der Zeitung – jede weitere Berichterstattung über ein Jahr lang verhindert. So schildert es der investigative Journalist der NYT James Risen [6]. Erst nach einer Besprechung des Herausgebers der NYT, Arthur Sulzberger Jr., mit Präsident Bush im Oval Office sei im Dezember 2005 die Fortsetzung gedruckt worden.
Fast täglich veröffentliche die NYT Falschmeldungen im Auftrag anonymer Regierungsquellen, wie Glenn Greenwald kürzlich beklagte (7). Besonders schwer wiege die Tatsache, dass diese Meldungen von „Journalisten“ auf der ganzen Welt als Wahrheiten verkündet würden.“
 
Soweit Albrecht Müllers Artikel in den NachDenkSeiten, der mit der eingangs zitierten Passage endet.
 
Die Gemeinsamkeit ist also die Partnerschaft beim gemeinsamen neudeutschen Ritt gegen den Osten, völlig gedeckt durch die Pressefreiheit, aber nicht durch die deutsche Geschichte. Am 70. Jahrestag der Befreiung – nichts gelernt. Der Osten, d.h. die Sowjetunion, hat die größten Opfer unter den Alliierten erbracht. Ohne den Opfermut der russischen Menschen hätte der Faschismus gesiegt.
 
Die Neue Rheinische Zeitung bedankt sich bei Albrecht Müller für die Genehmigung zur Übernahme von Teilen seines hochinteressanten Beitrags. (PK)
 
Quellen:
(1) http://www.nachdenkseiten.de/?p=27208#more-27208
(2) https://netzpolitik.org/2014/warum-wir-keine-interviews-fuer-rtdeutsch-geben/
(3) https://netzpolitik.org/2014/russland-baut-propaganda-in-berlin-aus/
(4) http://www.hintergrund.de/201409093233/globales/kriege/qwir-haben-keine-freie-presse-mehrq.html
(5) https://consortiumnews.com/2015/06/22/nyts-orwellian-view-of-ukraine/
(6) http://www.westendverlag.de/buecher-themen/programm/krieg-um-jeden-preis-james-risen.html#.Vc9l2pcgSSp
(7) https://firstlook.org/theintercept/2015/07/21/spirit-judy-miller-alive-well-nyt-great-damage/


Online-Flyer Nr. 524  vom 19.08.2015



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