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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Kommentar
Anhänger von Rabbi Meir Kahane inzwischen in Israels Untergrund aktiv
Jüdische Terroristen
Von Uri Avnery

Einige meiner besten Freunde verlangen, dass ich einen Artikel schreibe, in dem ich die „Verwaltungshaft“ jüdischer Terroristen bedingungslos verurteile.   
Drei als Terroristen Verdächtigte wurden schon dementsprechend verhaftet.
Sie sind Mitglieder einer Gruppe, die den Lehren Rabbi Meir Kahanes folgt. (Derzeitiger Leiter der Gruppe ist sein Enkel.) Kahane war ein amerikanischer Rabbi, der in dieses Land kam und eine Gruppe bildete, die der Oberste Gerichtshof als rassistisch und antidemokratisch einstufte. Sie wurde verboten. Kahane wurde später in den USA von einem Araber ermordet. Eine Gruppe seiner Anhänger ist jetzt in Israel im Untergrund aktiv.


Rabbi Meir Kahane
NRhZ-Archiv
Dies ist eine der Gruppen, die zu einer geheimen Bewegung gehören, die im Allgemeinen „Preisschild“ oder „Bergspitzen-Jugend“ genannt wird. Sie haben verschiedene terroristische Taten verübt: christliche Kirchen und muslimische Moscheen in Brand gesteckt, arabische Bauern überfallen und ihre Olivenbäume zerstört. Keiner dieser Täter ist jemals von der Armee, die in den besetzten Gebieten als Polizeitruppe auftritt, noch von der Polizei im eigentlichen Israel festgenommen worden. Viele Offiziere der Armee wohnen in den Siedlungen des besetzten Westjordanlandes, die nach internationalem Recht illegal sind. 
Die israelische Öffentlichkeit hat bisher diesen Ausschreitungen wenig Aufmerksamkeit geschenkt, aber neuerdings sind Dinge geschehen, die sogar die selbstzufriedensten Israelis schockiert haben. Eines war der Brandanschlag auf eine arabische Wohnstätte im kleinen Dorf Douma im Westjordanland. Im Schutz der Dunkelheit wurde eine Brandbombe in das Haus einer armen arabischen Familie geworfen. Ein 18monatiges Baby verbrannte und sein Vater, seine Mutter und sein Bruder wurden schwer verletzt. Der Vater starb später im Krankenhaus.
Derartige Brandanschläge sind recht üblich, allerdings gelang es den jeweiligen arabischen Familien bisher immer, sich in Sicherheit zu bringen.
Eine weitere Gewalttat wurde in Jerusalem begangen, und zwar gegen Juden. Ein ultraorthodoxer Jude verübte einen Anschlag auf die jährlich stattfindende Gay-Pride-Parade im Stadtzentrum. Es gelang ihm, auf einige der Teilnehmer einzustechen. Ein 16jähriges Mädchen starb später an ihren Verletzungen. Der Täter hatte vor zehn Jahren genau dasselbe getan. Er verbüßte eine lange Haftstrafe, wurde vor ein paar Wochen entlassen und beging noch einmal dieselbe Tat. Er ist ein ultraorthodoxer Jude, hat aber anscheinend keine Verbindung zur kahanistischen Bande.  
Das war zu viel. Seit Jahren wurde kein Jude wegen eines terroristischen Anschlags verurteilt. Viele glauben, dass diese Taten in Absprache mit der Besatzungsarmee und dem Inlandsgeheimdienst Schin Bet begangen wurden. Jetzt gibt es jedoch einen Aufschrei in der Öffentlichkeit und die Behörden sind zu dem Schluss gekommen, sie müssten etwas unternehmen.
Daher die Verwaltungshaft-Anordnungen.
 
VERWALTUNGSHAFT ist ein Erbe der britischen Kolonialherren, die bis zum Mai 1948 in Palästina herrschten. Der israelische Staat übernahm sie und änderte sie nur geringfügig.
Diese Form der Haft ermöglicht einem Militärkommandeur, eine Person ohne Urteil ins Gefängnis zu sperren. Der Haftbefehl gilt für sechs Monate, kann jedoch unbegrenzt erneuert werden. Alle paar Monate muss der Gefangene einem ordentlichen Richter vorgeführt werden; Richter greifen jedoch nur in seltenen Fällen ein. Innerlich nehmen israelische Richter eine stramme Haltung an, wenn ein Offizier der Armee als Zeuge aussagt.
Die Gefangenen haben nicht das Recht, Beweismittel gegen sich einzusehen und ihren Anklägern gegenübergestellt zu werden. Ebenso wenig wird ihnen Rechtsbeistand gewährt. Der offizielle Grund für dieses Vorgehen ist, dass sie ohne die Aussagen von Informanten oder andere Quellen wertvoller Informationen, die geheim bleiben müssen, wenn man Terrorismus effektiv bekämpfen und Leben retten will, nicht vor Gericht gestellt werden dürfen.
 
DIESES MITTEL wird ständig gegen arabische Verdächtige eingesetzt. Zurzeit füllen viele Hunderte Araber in Verwaltungshaft die Gefängnisse; einige sind seit vielen Jahren in Haft. Seit dem Beginn der Besetzung 1967 wurden Hunderttausende Araber gemäß dieser Anordnung eingekerkert. Für junge Palästinenser ist das schon fast ein Ehrenabzeichen.
Kaum ein Jude ist jemals in Verwaltungshaft gehalten worden. Viele Jahre lang wurde dieses Mittel überhaupt nicht gegen Juden angewandt. Die drei Kahanisten, die diese Woche ins Gefängnis gesteckt wurden, sind die ersten seit sehr langer Zeit.
Militär- und Zivilbeamte erklären diese Haft zu einem wesentlichen und unersetzlichen Mittel zur Bekämpfung des jüdischen Terrorismus. Alle Kahanisten und andere faschistische Täter sind darin geübt, in Verhören zu schweigen. Da sie sicher sind, dass sie nicht gefoltert werden, gibt es für sie keinen Grund zum Sprechen. Sie lachen ihren Befragern ins Gesicht.
Arabische Gefangene genießen natürlich nicht dergleichen Privilegien. Sie wissen, dass sie, wenn sie nicht reden, gefoltert werden können. Das israelische Gesetz verbietet zwar Folter, aber das Gericht gestattet etwas, das „gemäßigter physischer Druck“ genannt wird, der schnell zu Ergebnissen führt.
Aber auch so schmachten viele Araber in der unbegrenzten Verwaltungshaft, weil es nicht genug legal gültige Beweise gibt, sie vor Gericht anzuklagen, ohne dass „Quellen“ gefährdet würden.
Zurzeit sind die drei Juden in Verwaltungshaft in drei verschiedenen Gefängnissen untergebracht und Schin Bet verspricht, bald würden noch mehr dazukommen.
 
VOR VIELEN JAHREN, als ich Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Haolam Hazeh war, veröffentlichten wir eine Zeit lang eine arabischsprachige Ausgabe. Eines Tages wurde einer meiner arabischen Angestellten – nennen wir ihn Ahmed – in Verwaltungshaft genommen.
Als wir Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um ihn freizubekommen, rief mich überraschenderweise Schin Bet an. Die Beziehungen zwischen dieser Organisation und mir waren vom ersten Tag des Staates Israel an angespannt. Das mag eine Untertreibung sein, da mich der Chef einmal offiziell als „Regierungsfeind Nummer 1“ bezeichnete.
Zu meinem äußersten Erstaunen lud mich ein hochrangiger Schin-Bet-Offizier zu einem Gespräch ein. „Ich werde Ihnen hochgeheime Informationen anvertrauen“, sagte er, „weil ich möchte, dass Sie unsere Probleme verstehen.“
Er sagte mir, dass seine Leute eines Boten habhaft geworden seien, der von einer der großen terroristischen Organisationen geschickt worden sei, um zu Mitarbeitern vor Ort Kontakt aufzunehmen. Einer davon sei unser Ahmed.
„Was meinen Sie, sollten wir tun? Wir können ihm keinen Prozess machen, weil wir keinen Beweis dafür haben, dass er der Organisation angehört. Aber wenn wir ihn ungeschoren lassen, kann das zu tödlich ausgehenden terroristischen Aktionen führen. Verwaltungshaft ist eine sichere Möglichkeit.“ 
Ich glaubte nicht, dass Ahmed Terrorist sei. Ich dachte noch darüber nach, was zu tun sei, als ich aus diesem Dilemma befreit wurde. Schin Bet wollte Ahmed unter der Bedingung freilassen, dass er das Land verlassen würde. Er ging in die USA und bekam eine Green Card (vielleicht mit Hilfe von Schin Bet). Bei einem meiner Vorträge dort sah ich ihn in der vordersten Reihe sitzen. Wir fielen einander um den Hals.
 
ICH ERZÄHLE diese Geschichte zum ersten Mal. Ich erzähle sie, um das Dilemma aufzuzeigen. Wenn man diese jüdischen Faschisten frei umherstreifen lässt, könnte das noch mehr Araber und Juden das Leben kosten und es könnte vielleicht eine Katastrophe auslösen, zum Beispiel, wenn sie muslimische Heiligtümer in Brand setzten. Es scheint keine anerkennbaren Beweise gegen sie zu geben. Wenn es in diesen Gruppen Schin-Bet-Informanten gibt, würde ihr Zeugnis vor Gericht sie enttarnen.   
Viele von uns beschuldigen Schin Bet und Polizei der äußersten Inkompetenz, wenn sie mit jüdischen Terroristen konfrontiert sind, während sie äußerst effizient sind, wenn sie es mit arabischen Terroristen zu tun haben. Und was noch schlimmer ist: Wir verdächtigen Schin Bet, er sei von den Siedlern infiltriert und arbeite mit ihnen zusammen. Wenn man Schin Bet des Mittels der Verwaltungshaft beraubt, schwächt man ihn noch mehr oder versieht ihn wenigstens mit einer Ausrede für sein völliges Versagen.
In meiner seligen Kindheit erlebte ich den Zusammenbruch der demokratischen Weimarer Republik in Deutschland. Die SA-Leute streiften durch die Straßen, schlugen Menschen zusammen, die jüdisch aussahen, und veranstalteten Schusswechsel mit Kommunisten. Die Regierung war ohnmächtig. Polizei und Armee waren von Adolf Hitlers Parteigängern durchsetzt. Richter verhängten schwere Strafen über Kommunisten, ließen dagegen die Nazi-„Patrioten“ ungeschoren davonkommen.
Jahre später, als Deutschland in Schutt und Asche lag, wurde die Weimarer Republik (nach der Stadt, in der ihre Verfassung geschrieben worden war, benannt) der Feigheit beschuldigt, weil sie nicht gewagt habe, Mittel, die ihr zur Verfügung standen, darunter undemokratische Notstandsermächtigungen, einzusetzen, um rechtzeitig die Nazis zu bekämpfen. Möchte die israelische Republik Gefahr laufen, dasselbe Schicksal zu erleiden?
Es ist wirklich ein Dilemma. Es fordert wirkliche Antworten. Nicht die einfachen Antworten, die aus dem Handbuch der Liberalen verlesen werden, sondern verantwortungsbewusste Antworten. Antworten, die in der realen Welt relevant sind.
Ich glaube, dass die Kahanisten und andere faschistische Gruppen im heutigen Israel weit gefährlicher sind, als die meisten anderen Menschen glauben. Sie sind nicht eine Handvoll Unkraut, wie man uns glauben machen will. Sie sind ein Krebsgeschwür, das in unserem nationalen Körper schnell streuen kann.
Das kommt mir bekannt vor.
 
ES IST ein schwieriges Dilemma. Jedenfalls für mich.
Befürworten wir Verwaltungshaft, eine Haft ohne Prozess und demokratische Schutzmaßnahmen, retten damit das Leben von Arabern und Juden und verhindern damit vielleicht schlimmere Katastrophen?
Oder halten wir streng an demokratischen Prinzipien fest und lassen alle frei, die in Verwaltungshaft sind, Araber und Juden gleichermaßen, und wissen doch, dass einige von ihnen ihre Mordserie fortsetzen werden?
Nach langwieriger Gewissenserforschung habe ich mich für die zweite Möglichkeit entschieden. Und zwar aus moralischen wie aus pragmatischen Gründen.
Moralisch gebe ich zu bedenken, dass man Pest nicht mit Cholera bekämpfen kann. Verwaltungshaft bleibt ein faschistisches Mittel, auch wenn es gegen Faschisten eingesetzt wird.
Praktisch gesehen: Sie hilft nicht weiter. Die Verhafteten werden durch andere, vielleicht noch schlimmere, ersetzt.
Außerdem besteht die Gefahr, dass die Verhaftung einiger als Entschuldigung dafür dienen kann, dass man nichts gegen die vielen anderen unternimmt.
Um diese Pest zu bekämpfen, brauchen wir bessere Ärzte. Schin Bet, Polizei und Armee müssen von Faschisten-Sympathisanten gereinigt werden, Offiziere, die loyal zur israelischen Republik stehen, müssen ihre Plätze einnehmen. Juden und Araber müssen gleich behandelt werden.
Wie die Bibel gebietet: „Dein Lager sei rein!“ (PK)

Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer Mitarbeiterinnen für die NRhZ rezensiert.
Für die Übersetzung dieses Buches und von Avnerys Artikeln aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie hat auch ein neues eBuch bei Amazon veröffentlicht: "Ira Chernus, Amerikanische Nationalmythen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft". Alle ihre eBücher findet man unter http://www.amazon.com/s/ref=nb_sb_noss?url=search-alias%3Daps&field-keywords.
http://ingridvonheiseler.formatlabor.net
 
 

 
 
 


Online-Flyer Nr. 524  vom 14.08.2015



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