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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Globales
Seit einer Woche gleichzeitig Angriffe auf den IS und Lager der kurdischen PKK
Ankaras neuer Krieg
Von Hans Georg

Mit zustimmendem Lob und gleichzeitig scharfer Kritik reagiert Berlin auf die türkischen Luftschläge gegen den "Islamischen Staat" (IS) und die PKK. Ankara hat in der vergangenen Woche seine Unterstützung für den IS eingestellt und Angriffe auf die Organisation in Nordsyrien gestartet, nachdem diese mehrfach Anschläge auf türkischem Territorium verübt hatte. Vorausgegangen war eine mehrjährige Beihilfe Ankaras für den IS, die lange Zeit von den westlichen Mächten, auch Deutschland, wohlwollend zur Kenntnis genommen worden war - als Teil des Krieges gegen die Regierung von Bashar al Assad in Syrien. Mit dem aktuellen Kurswechsel vollzieht Ankara den Schwenk nach, den der Westen letztes Jahr eingeleitet hat, als er den Krieg gegen den IS begann. Scharfe Kritik übt Berlin an den türkischen Attacken gegen Lager der PKK im Nordirak. Hintergrund sind türkische Pläne für einen Einmarsch in Nordsyrien, die zu einer Kollision mit den PKK-nahen kurdischen Kräften dort führen dürften. Die Bundesregierung lehnt einen solchen Einmarsch klar ab: Er würde entweder Ankara stärken, das in jüngster Zeit regelmäßig gegen Berlin opponiert, oder aber einen weiteren Nachbarstaat der EU zum Schauplatz eines bewaffneten Konflikts machen - zwischen den türkischen Streitkräften und kurdischsprachigen Einheiten.

Unterstützung für Jihadisten
 
Die türkische Regierung hatte den "Islamischen Staat" (IS) lange unterstützt - insbesondere, indem sie es ihm gestattete, die Gebiete entlang der Grenze zu Syrien als Operationsbasis zu nutzen, aber auch durch die Behandlung verletzter IS-Kämpfer in türkischen Krankenhäusern. Zudem ist immer wieder von Waffenlieferungen berichtet worden und davon, dass der IS ungehindert Erdöl aus den von ihm okkupierten Territorien Syriens über Mittelsmänner in der Türkei verkaufen konnte, um sich zu finanzieren. Beim Bemühen, Bashar al Assad zu stürzen, hat Ankara auch noch andere jihadistische Organisationen gefördert, "zum Beispiel die Al-Nusra-Front, die sie zusammen mit Saudi-Arabien ausbildet und bewaffnet", berichtet Günter Seufert, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).[1] Die Al Nusra-Front ist der syrische Ableger des Terrornetzwerks Al Qaida. Nach dem IS-Terroranschlag in Suruç am 20. Juli mit 32 Todesopfern und über 100 Verletzten hieß es mit Bezug auf die lange währende türkische Beihilfe für den IS in deutschen Medien, da hätten "die Geister, die Erdoğan rief", zugeschlagen und sich gegen ihren ehemaligen Förderer, die Türkei, gewandt. Das ist nicht falsch, greift aber deutlich zu kurz.
 
Mit Billigung des Westens
 
Tatsächlich förderte Ankara die Jihadisten in Syrien bis 2014 nicht im Alleingang, sondern in Kenntnis und mit Billigung des Westens - auch Deutschlands. In jüngster Zeit ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass "die Rekrutierungsorte des IS in der Türkei der lokalen Bevölkerung bekannt" gewesen seien: "Wenn die Menschen wissen, wie diese Organisationen arbeiten, wie sie sich treffen und wie sie rekrutieren, weiß der Staat das nicht auch?", wird zum Beispiel der Menschenrechtler Osman Süzen zitiert.[2] Dieselbe rhetorische Frage könnte der Bundesregierung gestellt werden, nicht nur, weil der Bundesnachrichtendienst (BND), wie seit letztem Jahr bekannt ist, die Türkei offiziell als "Aufklärungsziel" führt.[3] Seit die Bundeswehr in Kahramanmaraş in der Südost-Türkei stationiert ist, muss davon ausgegangen werden, dass sie in ihrem Operationsgebiet die allgemein üblichen Aufklärungstätigkeiten durchführt. Zudem sind Polizei und Geheimdienste seit Jahren intensiv mit der Ausreise deutscher Jihadisten nach Syrien befasst, die gewöhnlich über Netzwerke in der Türkei bewerkstelligt wird. Trotz seiner mutmaßlich detaillierten Kenntnis über die Aktivitäten der Jihadisten in der Türkei schritt Berlin bis zum Beginn des Krieges gegen den IS nicht gegen dessen Förderung durch Ankara ein. Das Motiv, das diverse westliche Staaten zur wohlwollenden Billigung der türkisch-saudischen Unterstützung für den IS trieb, benannte der US-Militärgeheimdienst DIA bereits im August 2012 ganz offen: Ein "salafistisches Fürstentum" in Ostsyrien könne helfen, so hieß es, die Regierung in Damaskus zu isolieren.[4]
 
Kurswechsel
 
Mit ihrem aktuellen Kurswechsel gegenüber dem IS gibt die Türkei westlichem Druck nach, der - wie SWP-Experte Seufert bestätigt - seit vergangenem auf Ankara Jahr ausgeübt wird, also in etwa seit dem Zeitpunkt, zu dem der Westen eine Wende vollzog und seinen aktuellen Krieg gegen den IS vorzubereiten begann, da dieser aus dem Ruder lief und sich nicht mehr nur gegen die Assad-Regierung, sondern auch gegen den Westen wandte.[5] "Die Amerikaner und die europäischen Staaten" forderten Ankara bereits "seit anderthalb Jahren" auf, sich ihrem Schwenk anzuschließen und gegen den IS vorzugehen, berichtet Seufert.[6] Dies führe seit kurzem zu Konsequenzen; so sei es bereits einige Wochen vor dem Anschlag von Suruç zu Festnahmen gekommen, und zwar "nicht aufgrund von bereits begangenen Anschlägen, sondern Festnahmen von IS-Unterstützern". Das Militär melde "jetzt wöchentlich ..., wieviele Leute an der Grenze zu Syrien abgefangen worden sind". "Es gibt Leute, die glauben, dass dieser jüngste Anschlag" - das Attentat von Suruç - "eine Rache des IS gegen diese neue Politik der Türkei war", berichtet Seufert. In Berlin wird Ankaras Kurswechsel gegenüber dem IS ausdrücklich gelobt: "Es ist wichtig, dass sich auch die Staaten der Region gegen den IS-Terror engagieren", erklärte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am Freitag, nachdem Ankara nicht nur US-Luftschläge gegen den IS von türkischem Territorium aus gestattet, sondern auch eigene Angriffe geflogen hatte.[7]
 
Die türkische "Schutzzone"
 
Scharfe Kritik äußert die Bundesregierung hingegen daran, dass das türkische Militär parallel zu den Angriffen auf Stellungen des IS auch Lager der PKK im Nordirak bombardiert. Der Hintergrund ist komplex. Ankara will seit Jahren eine sogenannte Schutzzone im Norden Syriens etablieren - angeblich, um die dortige Bevölkerung gegen Angriffe syrischer Regierungstruppen zu schützen, tatsächlich jedoch, um einen bis zu 50 Kilometer breiten und mindestens 90 Kilometer langen Landstreifen auf syrischem Territorium nördlich von Aleppo unter Kontrolle zu nehmen. Dies soll die Gründung eines einheitlichen kurdischsprachigen Verwaltungsgebietes in Nordsyrien verhindern, das nach Lage der Dinge PKK-nahen Kräften unterstünde; diese sind - im Unterschied zu der kooperationsbereiten konservativen Kurdenregierung des Nordirak - der Türkei gegenüber nicht willfährig. Bis vor kurzem verhinderte der IS die Gründung eines einheitlichen kurdischen Gebietes in Nordsyrien. Jetzt aber kann Ankara nicht mehr auf seine Hilfsdienste zurückgreifen - und wird deswegen selbst aktiv. Das türkische Militär hat den Krieg gegen die PKK wieder aufgenommen - womöglich in Vorbereitung auf einen Einmarsch in Syrien, über den Beobachter in jüngster Zeit ohnehin wieder verstärkt spekulieren. Zuletzt ist in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden, dass Aufständische unter anderem in den Gebieten um Aleppo und Idlib die Einführung einer neuen Währung vorbereiten - der türkischen Lira.[8]
 
Deutsche Interessen
 
Deutschen Interessen widerspräche ein Einmarsch der türkischen Streitkräfte in Syrien. Ginge er über die Bühne, ohne unkontrolliert zu eskalieren, würde er Ankara stärken, das in jüngster Zeit immer wieder gegen Berlin opponiert hat (german-foreign-policy.com berichtete [9]). Eskalierte er jedoch und trüge damit dazu bei, den Syrien-Krieg mit einem weiteren Krieg zwischen türkischen Truppen und kurdischsprachigen Einheiten unterschiedlichster Herkunft zu verflechten, dann geriete nach der Ukraine und mehreren Ländern Nordafrikas noch ein weiterer Nachbarstaat der EU unmittelbar in einen bewaffneten Konflikt - mit kaum absehbaren Folgen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat daher am vergangenen Sonntag nach einem Telefongespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu offiziell mitteilen lassen, Berlin werde Ankara zwar "im Kampf gegen den Terrorismus" unterstützen, fordere allerdings gleichzeitig, am "Friedensprozess" mit der kurdischsprachigen Bevölkerung der Türkei festzuhalten.[10] Dies schlösse Angriffe auf Stellungen der PKK im Nordirak wie auch einen Einmarsch in Syrien faktisch aus. Mit Merkels Forderung schwillt der Konflikt zwischen Berlin und Ankara weiter an. (PK)
 
[1] Türkei-Experte: Wende Ankaras in der Syrienpolitik. www.dw.com 21.07.2015.
[2] Michael Martens: Explosive Stimmung. Frankfurter Allgemeine Zeitung 25.07.2015.
[3] Beifang im Netz. Der Spiegel 34/2014.
[4] S. dazu Vom Nutzen des Jihad (I), Vom Nutzen des Jihad (II) und Ein salafistisches Fürstentum.
[5] S. dazu Vormarsch auf Bagdad.
[6] Türkei-Experte: Wende Ankaras in der Syrienpolitik. www.dw.com 21.07.2015.
[7] Türkei bombardiert IS-Stellungen - und Lager der PKK. www.spiegel.de 25.07.2015.
[8] Mohammed al-Khatieb: Syria's opposition plans to replace Syrian pound with Turkish lira. www.al-monitor.com 15.07.2015.
[9] S. dazu Islamisten als Partner und Berliner Prioritäten.
[10] Merkel: Friedensgespräche mit Kurden fortsetzen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 27.07.2015.
 
Diesen Beitrag haben wir mit Dank von german foreign policy übernommen.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59169


Online-Flyer Nr. 521  vom 29.07.2015

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