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Aktueller Online-Flyer vom 23. April 2024  

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Globales
Faschistischer "Rechter Sektor" will Regierung in der Ukraine stürzen
Ein Misstrauensreferendum
Von Hans Georg

Im Berliner Polit-Establishment wird der Ruf nach einer Ausweitung der Unterstützungszahlungen an die Ukraine laut. Das Land stehe ökonomisch am Abgrund und benötige "insbesondere finanzielle Hilfen", heißt es in einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe des Fachblattes "Internationale Politik". "Wichtig" sei es auch, "eine rege Tätigkeit von Auslandsinvestoren in der Ukraine" zu fördern, heißt es in einem zweiten Beitrag, der "die Voraussetzungen für den Erfolg" einer "echten Reformierung" in der prowestlich gewendeten Ukraine deutlich "verbessert" nennt. Tatsächlich kann sich der ukrainische Staatspräsident, ein Oligarch, der aktuell die Zustimmung von gerade einmal 13 Prozent der Bevölkerung genießt, zurzeit nur mit Mühe gegen faschistische Putschbestrebungen an der Macht halten.

Video von einer "Rechter Sektor"-Demonstration in Kiew (V)
Quelle: RT Deutsch
 
Der Führer der faschistischen Organisation "Rechter Sektor" hat soeben eine landesweite Agitation zum Sturz der Regierung angekündigt. Die politische Zuspitzung erfolgt in einer Situation, in der weite Teile der Bevölkerung dramatisch verarmen und die Preise für Strom, Wasser und vor allem für Erdgas für Privathaushalte um dreistellige Raten in die Höhe schießen. Keine eineinhalb Jahre nach dem von Berlin unterstützten Umsturz ist die Lage in der Ukraine desolat.
 
"Mehr Finanzhilfen"
 
Im Berliner Polit-Establishment wird der Ruf nach einer Ausweitung der finanziellen Unterstützung für die Ukraine laut. Die ökonomische Lage des Landes "bleibt dramatisch", heißt es in einem aktuellen Beitrag in der Fachzeitschrift "Internationale Politik", die von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben wird. Autor ist der schwedische Ökonom Anders Åslund, der zurzeit als Senior Fellow für den Atlantic Council tätig ist. Åslund hält fest, das ukrainische Bruttoinlandsprodukt sei "im ersten Quartal dieses Jahres um 17,6 Prozent geschrumpft"; zugleich habe "die Inflationsrate ... im April 61 Prozent erreicht".[1] Gleichzeitig bleibe "die internationale finanzielle Unterstützung für die Ukraine ... auf einem bedenklich niedrigen Niveau". Weil "die wirtschaftlichen Schwierigkeiten ... in erster Linie die Bevölkerung" belasteten, drohe perspektivisch gar "eine schwerwiegende Gegenreaktion", warnt Åslund. "Die Ukraine braucht mehr Unterstützung aus dem Westen", schreibt er, "insbesondere finanzielle Hilfen". Tatsächlich hat die EU soeben 600 Millionen Euro nach Kiew überwiesen, die erste Rate eines 1,8 Milliarden Euro schweren Hilfspakets, das in Kürze komplett ausgezahlt werden soll.
 
"Investitionen unterstützen"
 
Weitere Maßnahmen zur wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Unterstützung der Ukraine fordert ebenfalls in der "Internationalen Politik" Andreas Umland. Umland, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Euro-Atlantische Kooperation in Kiew, galt lange als Spezialist für Rechtsextremismus in Russland und der Ukraine. Sein Ruf hat allerdings gelitten, seit er 2014 begonnen hat, extrem rechte Kräfte in der Ukraine vom Faschismusvorwurf reinzuwaschen und stattdessen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu unterstellen, "einzelne Ideen und Praktiken" zu verfolgen, "die an die Politik des Dritten Reichs erinnern".[2] Umland fordert nun in der "Internationalen Politik", die westlichen Staaten sollten einen "Garantiefonds zur Versicherung politischer Risiken von Direktinvestitionen" in der Ukraine einrichten, um die Investitionstätigkeit dort zu steigern. Tatsächlich ziehen sich Investoren wegen der unhaltbaren Verhältnisse aus dem Land zurück; bekannte Beispiele sind die Energiekonzerne Chevron und Shell, die jeweils ihre Fracking-Projekte in der Ukraine aufgegeben haben. Umland fordert darüber hinaus, man müsse Kiew die "Perspektive eines künftigen EU-Beitritts" einräumen.[3] Vor allem Berlin hat dies stets zurückgewiesen - nicht zuletzt aus Kostengründen.
 
Die Grundrichtung
 
Während die "Internationale Politik" den Appellen von Åslund und Umland für eine intensivere Unterstützung der Ukraine breiten Raum bietet, spitzt sich die ökonomische Lage in dem Land immer weiter zu. Wie die Nationalbank der Ukraine mitteilt, belaufen sich die ukrainischen Schulden mittlerweile auf rund 126 Milliarden US-Dollar - 110,5 Prozent des ukrainischen Bruttoinlandprodukts; Kiew steht längst vor dem Bankrott.[4] Das Durchschnittsgehalt liegt bei rund 140 US-Dollar im Monat, die Mindestrente bei 43 US-Dollar - und damit unter dem Mindestlohn in Höhe von 48 US-Dollar. Habe man vor fünf Jahren 55 Prozent des Mindestlohns ausgeben müssen, um seine Lebensmittelversorgung auf einfachster Basis für einen Monat zu sichern, so seien dafür heute 108 Prozent des Mindestlohns nötig, wird berichtet.[5] Gleichzeitig seien die Kosten für Strom um 133 Prozent, der Preis für Wasser um 176 Prozent gestiegen. Zudem ist der bislang subventionierte Erdgaspreis für Privathaushalte im April um 284 Prozent erhöht worden; er soll bis 2017 sogar um 450 Prozent zunehmen. Wie die ärmeren Bevölkerungsschichten in den bitter kalten ukrainischen Wintern ihre Heizkosten zahlen sollen, ist nicht klar. Die Erhöhung des Erdgaspreises für Privathaushalte wird von deutschen Wirtschaftsfachleuten als bedeutender Erfolg gepriesen: Sie sei ein "Hammer", lobt Ricardo Giucci von der "Deutschen Beratergruppe", die die Regierung in Kiew in Wirtschaftsfragen berät; "die Grundrichtung" stimme.[6]
 
Proeuropäer mit Chancen
 
Während die soziale Lage immer explosiver wird und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst, liefert Andreas Umland vom Kiewer Institut für Euro-Atlantische Kooperation dem deutschen Polit-Establishment erstaunliche Analysen. "Die Voraussetzungen für den Erfolg" einer "echten Reformierung" der Ukraine hätten sich "nach dem Erfolg des Euromaidan und der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens" mit der EU "verbessert", behauptet Umland in der "Internationalen Politik": "Proeuropäische Parteien und die Zivilgesellschaft", "internationale staatliche Institutionen (EU, IWF, OSZE)", aber auch "nichtstaatliche Organisationen wie Stiftungen, Watchdogs und Thinktanks" spielten nun "im politischen Prozess der Ukraine eine deutlich wichtigere Rolle". "Die verstärkte Einbeziehung ukrainischer Bürgeraktivisten, der EU-Delegation bzw. EU-Mission in Kiew, gut ausgebildeter Auslandsukrainer und weiterer neuer Akteure in die Reformbemühungen" erhöhe "deren Erfolgschancen". "Selbst der Krieg in der Ostukraine hat eine ... disziplinierende und konsolidierende Wirkung auf die ukrainische Elite und Gesellschaft", behauptet Umland weiter.[7] In der ukrainischen Bevölkerung wird das Lob auf die neuen Verhältnisse nicht von allzu vielen geteilt: Die Partei des Staatspräsidenten, des Oligarchen Petro Poroschenko, genießt zur Zeit noch die Zustimmung von rund 13 Prozent der Bevölkerung; die Partei von Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk würde heute von nicht einmal zwei Prozent der Ukrainer gewählt.

Ukrainischer Nazi-Führer im "Rechten Sektor", Dmytro Jarosch
Quelle: voltairenet.org
 
 
Nationale Befreiungsbewegung
 
Gleichzeitig erschüttern offenkundige Putschbestrebungen faschistischer Kräfte die Ukraine. Vor rund zwei Wochen kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem "Rechten Sektor", einem auf dem Majdan gegründeten Faschistenbündnis, und der Polizei im äußersten Südwesten des Landes. Anschließend errichtete der Rechte Sektor Kontrollpunkte an den Ausfallstraßen der westukrainischen Großstadt Lwiw und an einer Ausfallstraße, die von Kiew in Richtung Westen führt - "um die Verlegung von Truppen in den Westen zu verhindern", wie der Ukraine-Experte Reinhard Lauterbach berichtet.[8] Gleichzeitig kam es zu Protestkundgebungen des Rechten Sektors, der am Dienstag vergangener Woche mehrere tausend Personen in Kiew versammeln konnte, viele davon uniformiert. Auf der Kiewer Kundgebung teilte Dmytro Jarosch, der Führer der Organisation, mit, man werde künftig im ganzen Land als "nationale Befreiungsbewegung" gegen die "Regierung der Verräter" auftreten und ein "Misstrauensreferendum" gegen Staatspräsident Poroschenko und Ministerpräsident Jazenjuk organisieren.[9] Was genau Jarosch unter dem "Misstrauensreferendum" versteht, ist nicht klar. Klar ist aber: Die faschistischen Kräfte, die der Westen einst auf dem Majdan erstarken ließ, um den missliebigen Staatspräsidenten Wiktor Janukowitsch zu stürzen [10], zielen immer offener auf den Sturz der vom Westen installierten Regierung - und auf die Übernahme der Macht in Kiew. (PK)
 
Mehr zur deutschen Ukraine-Politik: Vom Stigma befreit, Die freie Welt, "Faschistische Freiheitskämpfer", Die Restauration der Oligarchen (II), Die Restauration der Oligarchen (III), Die Restauration der Oligarchen (IV), Ukrainische Patrioten, Nationalistische Aufwallungen, Die europäische Wahl der Ukraine, Außer Kontrolle, Vom Nutzen des Waffenstillstands, Arbeitsteilige Aggression, Der Weg nach Westen, Faschisten als Vorbild, Widerspenstige Kollaborateure und Steinmeier und die Oligarchen. (PK)
 
[1] Anders Åslund: Wackliges Wachstum. Internationale Politik, Juli/August 2015.
[2] Andreas Umland: Sind die rechtsradikalen Minister der ukrainischen Regierung "Faschisten"? www.boell.de 28.03.2014.
[3] Andreas Umland: Investitionen schützen. Internationale Politik, Juli/August 2015.
[4], [5] Mikhail Klikushin:Ukraine Spirals Into the Abyss: Pensioner Suicides and Open Talk of Default. observer.com 23.07.2015.
[6] Konrad Schuller: Russisches Roulette vor dem Abgrund. Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.07.2015.
[7] Andreas Umland: Investitionen schützen. Internationale Politik, Juli/August 2015.
[8] Reinhard Lauterbach: Putsch in Raten. junge Welt 16.07.2015.
[9] Reinhard Lauterbach: Revolte oder Intrige? junge Welt 23.07.2015.
[10] S. dazu Termin beim Botschafter, Nützliche Faschisten und Vom Stigma befreit.

(V) http://www.rtdeutsch.com/26843/international/rechter-sektor-auf-dem-maidan-6000-rechtsradikale-demonstrieren-gegen-kiewer-regierung/

Diesen Beitrag haben wir mit Dank übernommen von http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59168


Online-Flyer Nr. 521  vom 29.07.2015

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