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Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

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Globales
Israelis Marinekommandos kaperten das Schiff und schleppten es nach Aschdod
Die zweite Schlacht von Trafalgar
Von Uri Avnery

Diese Woche fand eine mächtige Schlacht auf den Wellen des Mittelmeeres statt. Sie wird als Äquivalent von Salamis oder Trafalgar in die Geschichte eingehen. In einem gewagten Manöver fing die Marine des Staates Israel den Feind ab: Er bestand aus der Jacht Marianne und den 18 Menschen an Bord. Israelische Marinekommandos kaperten das Schiff und schleppten es in den Hafen von Aschdod.

Marianne – vor der Kaperung durch Israels Marine
NRhZ-Archiv
 
Der Admiral, der diese glorreiche Aktion kommandierte, ist bisher in aller Bescheidenheit anonym geblieben. Deshalb können wir ihn nicht mit einer Säule im Zentrum Tel Avivs ehren, wie Admiral Horatio Nelson mit der Nelsonsäule auf dem Trafalgar Square in London geehrt wurde. Zu schade.
Ministerpräsident Benjamin Netanjahu lobte allerdings den Mut der Sieger in glühenden Worten und drückte Dankbarkeit und Bewunderung der Nation für ihre furchtlose Tat aus.
 
ICH WÜRDE ja in diesem Stil weiterschreiben, aber selbst Sarkasmus hat seine Grenzen.
Die ganze Angelegenheit war ein Meisterstück an Dummheit.
Vor fünf Jahren versuchten einige Boote Gasa zu erreichen. Das sollte ein symbolischer Akt der Unterstützung der belagerten Enklave sein – und die israelische Marine ließ sie passieren. Niemand hat die Angelegenheit je wieder erwähnt.
Dann kam die „türkische Flotilla“: Einige Boote wurden von dem größeren türkischen Schiff Mavi Marmara angeführt. An Bord waren Hunderte türkischer und internationaler Friedensaktivisten. Dieses Mal waren Netanjahu und seine Ergebenen entschlossen, der Welt zu zeigen, dass Israel die Wellen beherrsche. Er befahl einen Angriff auf die Flotilla.
Israelische Marinekommandos wurden aus einem Hubschrauber auf das Deck der Marmara hinuntergelassen und im anschließenden Wirrwar wurden neun Türken (darunter einer, der auch amerikanischer Staatsbürger war) getötet. Ein zehnter erlag später seinen Verletzungen. Alle waren unbewaffnet, aber sie leisteten gewaltfreien Widerstand.
Die anderen Boote wurden ohne gewaltsamen Widerstand gekapert. Alle wurden in den Hafen von Aschdod gebracht.
Die internationale Reaktion war enorm. Für viele wurde die Marmara zum Symbol von israelischer Brutalität. Die Propaganda-Katastrophe zwang Netanjahu, alle Aktivisten und die Schiffsbesatzung aus der Haft zu entlassen und nach Hause zu schicken.
Dadurch ergab sich aus dem, was ein unbedeutender, schnell vergessener Zwischenfall hätte sein können, ein großartiger Sieg für die Aktivisten. Die ganze Welt horchte auf. Die Blockade von Gasa wurde zum Mittelpunkt des internationalen Interesses.
 
NOCH SCHLIMMER waren die politischen Konsequenzen. Die Türkei wurde zum Feind.
Viele Jahre lang waren die Türkei – und besonders die türkischen Streitkräfte – zuverlässige Verbündete Israels. Die beiden nicht arabischen Mächte im Nahen Osten knüpften geheime Beziehungen an. Während der Regierung David Ben-Gurions wurde eine „Theorie der Peripherie“ zum Eckpfeiler von Israels Regionalpolitik. Dieser Politik entsprechend schloss Israel inoffiziell eine Allianz mit den nicht arabischen Staaten, die die arabische Welt umgaben: der kemalistischen Türkei, dem Iran des Schah, Äthiopien, dem Tschad und so weiter.
Israel verkaufte den Türken Waffen. Gemeinsame Armee-Manöver wurden abgehalten. Schließlich wurden offene diplomatische Beziehungen hergestellt.
Das alles endete mit der Marmara-Affäre (außer dem militärischen Teil, der im Geheimen fortgesetzt wird). Gefühle wurden aufgewühlt. Die türkische Öffentlichkeit reagierte mit Wut. Israel weigerte sich, die hohen Wiedergutmachungen für die leidtragenden Familien zu zahlen. (Verhandlungen darüber sind immer noch im Gange.)
Der geschickte Politiker Recep Tayyip Erdogan nutzte den Zwischenfall dafür, die Fronten zu wechseln und den türkischen Einfluss auf arabische Länder, die zum ehemaligen Osmanischen Reich gehört hatten, wiederherzustellen.
Was hat Israel bei dem Zwischenfall gewonnen? Gar nichts.
 
HAT DIE israelische Regierung irgendwelche Schlüsse aus diesem Debakel gezogen?
Wie wäre das möglich? Für sie war es überhaupt kein Debakel, sondern eine bewundernswerte Demonstration von Israels Heldenmut und Entschlossenheit. Der Zwischenfall in dieser Woche war das unvermeidliche Ergebnis. Es wird noch mehr derartige Ergebnisse geben.
Um die Ergebnisse einer feindlichen Begegnung abzuwägen, muss man die Frage stellen, was jede der beiden Seiten ursprünglich erreichen wollte.
Die Organisatoren der Flotillas wollten eine Provokation veranstalten, um die Aufmerksamkeit der Welt auf die schändliche Blockade zu lenken. Von ihrem Standpunkt aus diente die Reaktion Israels ihrem Zweck auf wunderbare Weise.
Netanjahu möchte die Blockade aufrechterhalten und so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen. Von diesem Standpunkt aus waren die Angriffe kontraproduktiv. Sie waren, kurz gesagt, dumm.
 
DIE WICHTIGSTE Frage ist natürlich: Warum um Gottes willen gibt es diese Blockade überhaupt? Welchem Zweck dient sie?
Offiziell ist ihr Zweck der, zu verhindern, dass Waffen in den Gazastreifen geschmuggelt werden, mit denen die Hamas dann Israel angreifen würde.
Wenn es darum geht – wozu dann das ganze Drama? Boote, die angeblich Medizin und Nahrungsmittel nach Gaza bringen sollen, können mit allseitigem Einverständnis in ihren Abgangshäfen durchsucht werden. Die Organisatoren können sich dieser Forderung nicht widersetzen, ohne Verdacht zu erregen.
Die andere Möglichkeit ist, die Boote auf hoher See aufzuhalten, zu durchsuchen und weiterfahren zu lassen. Eine solche Maßnahme ist recht üblich.
Die israelische Regierung hat diese Möglichkeiten nicht genutzt und damit den Verdacht erregt, dass der Zweck der Blockade ein ganz anderer ist: Der Zweck ist zu verhindern, dass irgendwelche Lieferungen Gaza erreichen, sodass das übervölkerte Gebiet vollkommen von den Lieferungen, die aus Israel kommen, abhängig ist. Israel lässt nur das Lebensnotwendigste passieren.
Der geheime Zweck ist, die 1,8 Millionen Bewohner, deren Mehrheit Nachkommen von Flüchtlingen aus Israel sind, am Rande des Verhungerns dahinvegetieren zu lassen, um sie dazu aufzustacheln, die Machthaber der Hamas zu stürzen. Wenn das der Fall ist, war es ein elender Misserfolg. Im Gegenteil, unter dem grausamen Druck schließen sich die Einwohner nur umso enger der Hamas an. Schließlich ist die Hamas kein ausländischer Eindringling, sondern sie besteht aus Brüdern und Söhnen der Bewohner.
Auch wenn wir die Frage beiseitelassen, ob die Blockade nach dem Völkerrecht legal sei, so hat sie doch ganz gewiss nicht das gehalten, was Israel sich davon versprochen hat. Die Regierung der Hamas sitzt anscheinend so fest im Sattel wie eh und je.
 
DA DAS SO ist, könnte man die entgegengesetzte Möglichkeit vorschlagen: Warum sollte man nicht die Blockade ganz und gar aufheben? (Huch!)
Ich kann mir eine Situation vorstellen, in der die Grenzen und der Zugang zum Meer offen sind. Nahrungsmittel, Medizin, Baumaterialien und alles andere außer Waffen fließt aus allen Richtungen in den Gazastreifen – übers Meer und über Land von Ägypten und Israel.
Warum sollen die Bewohner von Gaza keinen Hafen bauen oder einen schwimmenden Hafen bekommen? Warum sollen sie ihren Flughafen nicht wieder in Betrieb nehmen? Die schönen Gebäude, die sie einmal in der Nähe von Dahaniya gebaut haben, wurden von unseren Streitkräften zerstört. Warum sollte man sie nicht wieder aufbauen?
Die einfache Logik sagt uns, dass die Menschen in Gaza, je mehr sie zu verlieren haben, umso weniger dazu neigen werden, einen weiteren Krieg zu provozieren. Wenn wir wirklich Ruhe und Beschaulichkeit wollen, können wir sie nur auf diese Weise erreichen.
Ja, aber wie steht es mit Waffen? Eine strenge Überwachung durch internationale Kontrolleure müsste erfolgen. Das hat es schon früher in der Geschichte gegeben. Kein Problem.
 
HINTER DER Dummheit hinsichtlich der Taktik in dieser Angelegenheit lauert eine viel größere Dummheit hinsichtlich der größeren Strategie.
Die Atmosphäre im Nahen Osten ist voller Gerüchte über einen gegenwärtigen geheimen Versuch, einen Waffenstillstand, ja sogar etwas wie eine Allianz zwischen Israel und der Hamas zu schmieden.
Das gründet sich auf die Abneigung der israelischen Regierung, den Gazastreifen mit seinen 1,8 Millionen palästinensischer Araber zu erobern. Das ist nicht nur ein Sicherheitsproblem – ein Guerillakrieg der Hamas wäre gewiss –, sondern etwas viel Schlimmeres. Was alle israelischen Regierungen, die rechten wie die linken, erschreckt, ist die Demografie. 1,8 Millionen weitere Araber, die sich fortwährend vervielfachen? Ein Albtraum für Zionisten!
In allen Träumen von der Annektierung des Westjordanlandes wird der Gazastreifen immer ausgespart. Es stimmt, er gehört geografisch und historisch zu "Eretz Israel", aber wer will ihn? Zum Teufel damit!

Mahmoud Abbas
NRhZ-Archiv
 
Unsere gegenwärtige Regierung, die sich aus extremen Rechten zusammensetzt, möchte am Ende das Westjordanland annektieren, und zwar mit so wenigen arabischen Palästinensern wie möglich. Aus diesem Grund ist Mahmoud Abbas (Abu Mazen) ein weit gefährlicherer Gegner Netanjahus und seinesgleichen als die Hamas. Abbas wird international Anerkennung gezollt. Er genießt zunehmend die Unterstützung der UNO und der USA.
Nach dieser Logik könnte man erwarten, dass Netanjahu Abbas bekämpft und die Hamas bei ihrer Schaffung eines Ministaates in Gaza unterstützt. Aber er benimmt sich wie ein Kind, das sich zwischen zwei Süßigkeiten entscheiden soll: Er will beide.
Deshalb versucht er Abbas zu schwächen und kämpft gleichzeitig seine ruhmreichen Schlachten auf hoher See gegen die Hamas. Aber er führt auch geheime Verhandlungen mit seinen neuen Freunden Saudi-Arabien und Ägypten, um einen langfristigen Waffenstillstand ("hudna") mit der Hamas zu schließen.
Das ist kompliziert? Das ist es wirklich.
 
ETWAS PERSÖNLICHES: Ich wurde gefragt, warum ich nicht auf dem Boot gewesen sei, das in dieser Woche versuchte, die Blockade zu brechen.
Ehrlich gesagt: Ich wäre gern in das Boot gestiegen. Ich liebe das Meer. Ich liebe Boote. Ich hätte die Gesellschaft des früheren tunesischen Ministerpräsidenten und des arabischen Knesset-Abgeordneten, die auf dem Boot waren, sehr genossen. Die Blockade brechen hätte mich sehr gereizt.
Das Problem ist, dass die Organisatoren dieser Flotillas auf einem politischen Programm bestehen, das die Existenz des Staates Israel negiert. Sehr ähnlich wie die Organisatoren von BDS bestehen sie auf dem Hirngespinst vom Einen Staat.
Ich glaube an Frieden. Frieden bedeutet Frieden zwischen den beiden Staaten Israel und Palästina. Ich unterstütze den Kampf der Palästinenser um Unabhängigkeit, das gehört zu meinem Kampf für ein friedliches demokratisches Israel.
Deshalb habe ich die Zweite Schlacht von Trafalgar verpasst. (PK)

Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer AutorInnen für die NRhZ rezensiert.
Für die Übersetzung dieses Buches und Avnerys Artikel aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie hat ein neues eBuch bei Amazon veröffentlicht: "Ira Chernus, Amerikanische Nationalmythen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft". Alle ihre eBücher findet man unter http://www.amazon.com/s/ref=nb_sb_noss?url=search-alias%3Daps&field-keywords
http://ingridvonheiseler.formatlabor.net
 


Online-Flyer Nr. 518  vom 08.07.2015

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