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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Kommentar
Ich möchte nicht, dass Israel zu einer Kopie von al-Sisis Ägypten wird
Wer wird Israel retten?
Von Uri Avnery

Die Schlacht ist vorbei. Der Pulverdampf hat sich verzogen. Eine neue Regierung – zum Teil lächerlich, zum Teil Furcht einflößend – wurde errichtet. Es wird Zeit, Bilanz zu ziehen. Das Netto-Ergebnis: Israel hat jeden Anspruch, Frieden zu wollen, aufgegeben und die israelische Demokratie hat einen Schlag erlitten, von dem sie sich vielleicht nie wieder erholen wird.
 
ISRAELISCHE REGIERUNGEN haben – vielleicht mit Ausnahme der Jitzchak Rabins – niemals wirklich Frieden gewollt. Den Frieden, der möglich ist.
Frieden bedeutet natürlich, dass man das Festlegen von Grenzen akzeptiert. In der Gründungserklärung des Staates Israel, die David Ben-Gurion am 14. Mai 1948 in Tel Aviv verlas, wurde jede Erwähnung von Grenzen absichtlich vermieden. Ben-Gurion war nicht bereit, die in der Teilungsresolution der UNO festgelegten Grenzen zu akzeptieren, weil diese nur einen winzigen jüdischen Staat vorsah. Ben-Gurion erwartete, dass die Araber einen Krieg beginnen würden, und er war entschlossen, diesen für die Erweiterung des Staatsgebietes zu nutzen. 
Und so kam es. Als der Krieg Anfang 1949 mit einem Waffenstillstands-Abkommen endete, das auf den Kampflinien am Ende des Krieges beruhte, hätte Ben-Gurion diese als endgültige Grenzen akzeptieren können. Er weigerte sich. Israel ist ein Staat ohne Grenzen, die es selbst anerkannt hätte, geblieben – vielleicht der einzige Staat in der Welt.  
Dieses ist einer der Gründe für die Tatsache, dass Israel kein Friedensabkommen mit der palästinensischen Nation geschlossen hat. Israel unterzeichnete offiziell Friedensabkommen mit Ägypten und Jordanien, die sich auf die international anerkannten Grenzen zwischen dem Britischen Mandatsgebiet Palästina und seinen Nachbarn gründeten. Derartige Grenzen akzeptiert die israelische Regierung zwischen Israel und dem undefinierten palästinensischen Gebilde jedoch nicht. Alle israelischen Regierungen haben sich immer geweigert, auch nur anzudeuten, wo diese Grenzen verlaufen sollten. Das vielgelobte Oslo-Abkommen macht da keine Ausnahme. Auch Rabin weigerte sich, eine endgültige Linie festzulegen.    
Diese Weigerung bleibt Regierungspolitik. Am Vorabend der letzten Wahlen erklärte Benjamin Netanjahu unmissverständlich, dass während seiner Amtszeit – das bedeutet für ihn: bis zu seinem Ableben – kein palästinensischer Staat zustande kommen werde. Auf diese Weise würden die besetzten Gebiete unter israelischer Herrschaft bleiben.
Diese Regierung wird niemals ein Friedens-Abkommen unterzeichnen.
 
KEIN FRIEDEN bedeutet den Versuch, den territorialen Status quo für immer einzufrieren, ausgenommen das Wachstum und die Vermehrung der Siedlungen.
Diese Situation betrifft nicht die Demokratie. Sie ist nicht eingefroren.
Bekanntermaßen ist Israel „die einzige Demokratie im Nahen Osten“. Das ist so gut wie sein zweiter offizieller Name.
Man mag darüber streiten, wie ein Staat, der ein anderes Volk beherrscht, das er aller Menschenrechte – ganz zu schweigen von Bürgerrechten – beraubt, eine Demokratie genannt werden kann. Aber jüdische Israelis sind das seit 48 Jahren gewohnt und ignorieren diese Tatsache einfach.
Jetzt ist die Situation im eigentlichen Israel im Begriff, sich drastisch zu verändern.
Zwei Tatsachen belegen das.
Zuerst einmal: Ajelet Schaked wurde zur Justizministerin ernannt. Als eine der rechtsextremsten Israelis macht sie kein Geheimnis aus der Tatsache, dass sie die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofes, der letzten Bastion der Menschenrechte, abschaffen will.
 
Diesem Gericht ist es durch jahrelange Bemühungen gelungen, zu einer der stärksten Kräfte im Leben Israels zu werden. Da Israel keine schriftliche Verfassung hat, hatte der Oberste Gerichtshof unter starker und entschlossener Führung erfolgreich die Rolle des Wächters über Menschen- und Bürgerrechte übernommen. Er hatte sogar demokratisch in der Knesset angenommene Gesetze aufgehoben, die der vorgestellten Verfassung widersprachen.
Schaked hat verkündet, sie werde dieser Frechheit ein Ende setzen.
Das Gericht hat viele Anschläge überlebt, weil seine Zusammensetzung nicht leicht zu verändern ist. Im Gegensatz zur Praxis in den USA, die uns skandalös vorkommt, werden Richter von einem Komitee ernannt, in dem Politiker von amtierenden Richtern in Schach gehalten werden. Schaked will diese Praxis ändern und das Komitee mit regierungstreuen Politikern besetzen. 
Das Gericht ist bereits eingeschüchtert. Vor Kurzem hat es eine Anzahl schändlicher Entscheidungen gefällt, zum Beispiel die Ächtung von Aufrufen, die Siedlungen zu boykottieren. Aber das ist noch Gold im Vergleich mit dem, was in naher Zukunft geschehen soll.
 
NOCH SCHLIMMER ist vielleicht Netanjahus Entschluss, sich das Kommunikationsministerium vorzubehalten.
Dieses Ministerium wurde immer als ein Ministerium niedrigen Ranges und für politische Leichtgewichte reserviert angesehen. Netanjahus hartnäckiges Bestehen darauf, es sich selbst vorzubehalten, ist verdächtig.
Das Kommunikationsministerium kontrolliert die Fernsehsender und indirekt auch Zeitungen und andere Medien. Da alle israelischen Medien finanziell schlecht gestellt sind, kann diese Kontrolle tödlich werden.
Netanjahus Schirmherr – einige sagen: sein Besitzer – Sheldon Adelson, der Möchte-gern-Diktator der republikanischen Partei der USA, gibt schon eine Gratis-Zeitung in Israel heraus, deren einziges Ziel ist, Netanjahu persönlich gegen alle Feinde – darunter seine Konkurrenten in der eigenen Partei, dem Likud – zu unterstützen. Die Zeitung Israel Hajom (Israel heute) ist bereits Israels am weitesten verbreitete Zeitung. Der amerikanische Kasinokönig pumpt unzählige Millionen in diese Zeitung.
Netanjahu ist entschlossen, jede Opposition in den elektronischen und in den Druckmedien auszuschalten. Oppositionelle Kommentatoren sind gut beraten, sich anderswo nach Arbeit umzusehen. Kanal 10, der als ein wenig netanjahukritischer angesehen wird als seine beiden Konkurrenten, soll Ende dieses Monats die Tore schließen.
Man kann nicht umhin, eine abstoßende Ähnlichkeit festzustellen. Eines der Schlüsselworte im Vokabular der Nationalsozialisten war das scheußliche Wort „Gleichschaltung“. Es bedeutete: alle Medien mit derselben Energiequelle zu verbinden. Alle Zeitungen und Radiosender (Fernsehen gab es ja noch nicht) wurden mit Nazis besetzt. Jeden Morgen rief der Ministerialbeamte Dr. Dietrich die Chefredakteure zusammen und teilte ihnen mit, wie die Schlagzeilen, Leitartikel usw. am nächsten Tag lauten müssten. 
Netanjahu hat bereits den Chef der Fernsehabteilung entlassen. Wir kennen den Namen unseres eigenen Dr. Dietrich noch nicht.
Als humorvoller Kontrapunkt fungiert die Ernennung von Miri Regew zur Kultusministerin. Sie ist eine großmäulige Frau, deren vulgärer Stil zu einem nationalen Symbol geworden ist. Niemand kann auch nur erraten, wie sie es einmal zur Armeesprecherin gebracht hatte. Zu ihrem Stil gehört auch, dass sie jede ihrer Äußerungen in der Öffentlichkeit mit der Aufforderung „Applaus!“ abschließt. Das ist schon zum Witz geworden.
 
DAS WIRKSAMSTE Instrument zur Entdemokratisierung ist das Bildungsministerium (das in durchaus keiner anderen Hinsicht wirksam ist).
Israel hat verschiedene Bildungssysteme, die alle vom Bildungsministerium finanziert also auch kontrolliert werden.
Zwei Systeme gehören der Regierung uneingeschränkt: das allgemeine „Staats-“System und das autonome „religiöse Staats-“System.
Dann gibt es noch zwei orthodoxe Systeme, ein aschkenasisches und ein orientalisches. In einigen der orthodoxen Schulen werden ausschließlich religiöse Fächer unterrichtet – also weder Sprachen noch Mathematik noch außerjüdische Geschichte. Deswegen sind die Absolventen für alle Arbeitsplätze ungeeignet. Sie bleiben ihr Leben lang von den Almosen ihrer Religionsgemeinschaft abhängig. 
Vor der Staatsgründung gab es – besonders in den Kibbuzim - ein politisch linksgerichtetes Bildungssystem, in dem sozialistische Werte vermittelt wurden. Dieses wurde von David Ben-Gurion im Namen der „Staatlichkeit“ abgeschafft.

 
Die letzte Regierung unternahm einen schüchternen Versuch, die Orthodoxen zu zwingen, in ihren Schulen „Kernfächer“ einzuführen, darunter Arithmetik und Englisch. Das wurde jetzt aufgegeben, da die Orthodoxen Mitglieder der Regierungskoalition geworden sind.
Im wirklichen Kampf, der jetzt beginnt, geht es um die „allgemeinen“ staatlichen Schulen, die bisher bis zu einem gewissen Grad frei waren. Meine verstorbene Frau Rachel war fast 30 Jahre lang Lehrerin in einer solchen Schule und unterrichtete, wie sie wollte: Sie versuchte dem Geist ihrer Schüler humanistische und liberale Werte einzuflößen.
Das wäre nun nicht mehr möglich. Israels extremster nationalistisch-religiöser Führer Naftali Bennett wurde jetzt zum Bildungsminister ernannt. Er hat bereits angekündigt, dass sein Hauptziel sei, die jungen Menschen mit nationalistisch-zionistischem Geist zu erfüllen und eine Generation wahrhaft patriotischer Israelis heranzuziehen. Von Humanismus, Liberalismus, Menschenrechten, sozialen Werten und dergleichem Unsinn ist keine Rede.
Netanjahu behält auch das Außenministerium in eigener Hand. Viele der Aufgaben des Ministeriums wurden auf sechs andere Ministerien verteilt. Das begründet Netanjahu mit dem Vorwand, dass er das renommierte Ministerium für den Führer der Arbeitspartei Jitzchak Herzog freihalten wolle. Netanjahu tut so, als wollte er Herzog dazu einladen, in der Regierung mitzuwirken. Herzog hat das inzwischen schon lautstark zurückgewiesen. (Ich vermute, dass der wahre Besitzer der Regierung Sheldon Adelson Herzogs Beteiligung ohnehin nicht zulassen würde.)
Netanjahus wahres Ziel ist es, jeden möglichen Konkurrenten daran zu hindern, als Außenminister nationales und internationales Ansehen zu gewinnen. Ohnehin bestimmt er allein die Außenpolitik.
 
INSGESAMT bietet sich jedem, der Israel liebt, ein tief verstörendes Bild.
Weniger, weil sich das Gleichgewicht der Macht in Israel verändert hätte (hat es nicht), sondern weil die schlimmsten Elemente der Rechten die Macht übernommen und fast alle gemäßigten Rechten hinausgedrängt haben. Bisher wurden diese extremen Elemente gebändigt, zwar haben sie sich laut geäußert, aber ihnen standen nur die Mittel der Überzeugung zur Verfügung. Das hat sich jetzt geändert. Die extreme Rechte hat an Selbstsicherheit gewonnen und ist entschlossen, ihre Macht zu gebrauchen.
Die israelische Linke (die sich selbst jetzt schüchtern „mitte-links“ nennt) hat ihre Tatkraft verloren. Ihre einzige Hoffnung ist der „Druck des Auslandes“. Besonders der des Weißen Hauses. Barack Obama hasst Netanjahu. Jederzeit kann Amerika jetzt Druck ausüben und Israel vor sich selbst retten.
Das ist ein tröstlicher Gedanke. Wir brauchen selbst nichts zu tun. Die Erlösung kommt von draußen, deus ex machina. Halleluja.
Leider bin ich ein Ungläubiger. Was ich sehe, ist, dass die USA das Netanjahu-Regime stärker unterstützen: Sie bieten ihm riesige neue Waffenlieferungen als „Entschädigung“ für den sich anbahnenden Atom-Handel mit dem Iran an. John Kerry, den Netanjahu gedemütigt und mit offener Verachtung behandelt hat, kriecht irgendwo zu unseren Füßen herum. Obama rühmt sich, er habe mehr für „Israel“ (womit die israelische Rechte gemeint ist) getan, als jeder andere Präsident.
Aus dieser Richtung wird keine Rettung kommen. Es bleibt nur der Gott aus der Theatermaschine, der deus ex machina.
 
ES GIBT NUR EINE mögliche Rettung: die, die wir in unserem Inneren tragen.
Einige hoffen auf eine Katastrophe, die die Menschen dazu bringen wird, ihre Augen zu öffnen. Ich wünsche mir keine Katastrophen.
Ich möchte nicht, dass Israel zu einer Kopie von al-Sisis Ägypten, Erdogans Türkei oder Putins Russland wird.
Ich glaube, wir können Israel retten – aber nur, wenn wir uns von unserer bequemen Couch erheben und das Unsrige tun. (PK)
 
Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer AutorInnen für die NRhZ rezensiert.
Für die Übersetzung dieses Buches und von Uri Avnerys Artikel aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie hat ein neues eBuch bei Amazon veröffentlicht: "Ira Chernus, Amerikanische Nationalmythen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft". Alle ihre eBücher findet man unter http://www.amazon.com/s/ref=nb_sb_noss?url=search-alias%3Daps&field-keywords.
http://ingridvonheiseler.formatlabor.net
 


Online-Flyer Nr. 512  vom 27.05.2015

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