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Globales
24 Jahre nach dem Libanon-Krieg I begann Israel 2006 den Libanon-Krieg II
Die Kriegsnarren
Von Uri Avnery

Vor ein paar Tagen sendete der israelische Fernsehkanal 10 eine Untersuchung über den israelischen Angriff auf den Libanon 2006, der „Libanon-Krieg II“ genannt wird.Die Sendung war zwar nicht sehr tiefgründig, aber sie bot doch ein gutes Bild dessen, was damals tatsächlich geschah. Die drei wichtigsten israelischen Protagonisten sprachen freimütig darüber. Das Bild war, gelinde gesagt, sehr verstörend. Man könnte sagen: Es war alarmierend. Die wichtigste Schlussfolgerung ist, dass alle unsere damaligen Führer offensichtlich unverantwortlich handelten und das mit Dummheit verbanden.

Nach einem Luftangriff der israelischen Luftwaffe am 25. Juli 2006: die zerstörte Moschee in Sidon.
Quelle: www.flickr.com/photos/koldo/198844137
  
ICH ERINNERE noch einmal daran: Libanon II dauerte 34 Tage, vom 7. Juli bis zum 14. August 2006. Der Krieg wurde durch einen Grenzzwischenfall ausgelöst: Hisbollah-Soldaten im Südlibanon überschritten die Grenze und griffen eine israelische Routinepatrouille an. Das Ziel war, israelische Soldaten gefangen zu nehmen, um einen Gefangenenaustausch zu bewirken – die einzige Möglichkeit, die israelische Regierung dazu zu bringen, arabische Gefangene freizulassen.
Bei dem Angriff wurden zwei israelische Soldaten auf libanesisches Gebiet gezerrt. Alle anderen wurden getötet. Man sagte uns, dass die Gefangenen vermutlich am Leben seien. Der Film zeigt, dass die Armeeführung sofort wusste, dass wenigstens einer der Gefangenen tot war und man vermutete, dass auch der andere tot sei. Tatsächlich wurden beide bei der Aktion getötet.
Die übliche Reaktion auf einen derartigen Zwischenfall ist ein Vergeltungsschlag, „um die Abschreckung wiederherzustellen“. Z. B. werden Hisbollah-Basen oder ein libanesisches Dorf bombardiert oder mit Granaten beschossen. Dieses Mal nicht. Das israelische Kabinett begann einen Krieg.
Warum?
Die Fernsehsendung bietet keine überzeugende Antwort. Der Beschluss wurde sofort nach einem Minimum an Beratungen gefasst. Man bekommt das Gefühl, dass Emotionen und persönlicher Ehrgeiz die Hauptrollen spielten.
 
DIE FERNSEH-Untersuchung besteht fast ausschließlich aus den Zeugenaussagen dreier Personen, die tatsächlich den Beschluss fassten und den Krieg führten.
Der erste war der damalige Ministerpräsident. Ehud Olmert war – fast durch einen Zufall – erst wenige Monate zuvor in seinem Büro angekommen. Er war unter Scharon stellvertretender Ministerpräsident gewesen. Scharon hatte ihm diesen leeren Titel als Entschädigung dafür gegeben, dass er ihm kein ernsthaftes Ministerium anvertraut hatte. Als Scharon plötzlich in ein permanentes Koma fiel, gelang es Olmert auf geschickte Weise, seine Nachfolge anzutreten.
Sein gesamtes Erwachsenenleben hindurch war Olmert ein politischer Funktionär gewesen. Er war niemandem gegenüber loyal, sprang von einer Partei in die andere und von einem Gönner zum anderen, von der Knesset in die Jerusalemer Stadtverwaltung und zurück, bis er das Ziel seines Lebens erreicht hatte: das Amt des Ministerpräsidenten.
Bis dahin hatte er überhaupt keine militärische Erfahrung. Vor dem regelrechten Dienst in der Armee hatte er sich gedrückt und schließlich eine abgekürzte Dienstzeit in der juristischen Abteilung der Armee abgeleistet.
Der Verteidigungsminister Amir Peretz hatte sogar noch weniger militärische Erfahrung. Er war von Berufs wegen Aktivist der Arbeiterschaft und so wurde er Generalsekretär der großen Histadrut-Gewerkschaft und zum Führer der Arbeitspartei. Als seine Partei Olmerts neuer Regierung beitrat, konnte Peretz sich ein Ministerium aussuchen und nahm das, was am meisten Prestige hatte: das Verteidigungsministerium.
Diese Kombination aus zweiRegierungs-Führern ohne jede militärische Qualifikationen ist in Israel, einem Land, das sich ständig im Krieg befindet, ungewöhnlich. Das ganze Land lachte, als Peretz von einem Fotografen dabei ertappt wurde, wie er durch ein Fernglas, dessen Schutzkappen noch auf dem Glas saßen, während einer Armeeübung die Aktion zu verfolgen versuchte.
Von der dritten Person des schicksalhaften Trios, dem Stabschef Dan Halutz, wurde erwartet, dass er die Defizite seiner beiden zivilen Vorgesetzten ausgleichen würde. Er war ein angesehener Berufssoldat. Aber leider war er ein Luftwaffengeneral, ein ehemaliger Kampfpilot, der niemals mit Bodentruppen zu tun gehabt hatte.
In Israel waren alle Stabschefs vor ihm von den Bodentruppen gekommen und waren erfahrene Infanterie- oder Panzer-Kommandeure. Die Ernennung von Halutz in diese Stellung war höchst ungewöhnlich. Böse Zungen flüsterten, dass der damalige Verteidigungsminister, der jüdisch-iranischer Herkunft war, sich deshalb für Halutz entschieden hatte, weil auch dessen Vater aus dem Iran eingewandert war.
Sei dem, wie ihm wolle, jedenfalls war der Stabschef, der bis dahin weniger als ein Jahr im Amt war, nicht dafür qualifiziert, Bodentruppen zu befehligen.
So geschah es, dass die drei Führer im Libanonkrieg II neu in ihren Ämtern und recht unerfahren im Führen eines Bodenkrieges waren. Zwei von den dreien hatten darüber hinaus bis dahin noch überhaupt keine Erfahrung mit militärischen Angelegenheiten.
Dem Stabschef widerfuhr ein weiteres Missgeschick. Später kam ans Licht, dass er ein paar Stunden nach der Entscheidung zum Krieg und noch bevor der erste Schuss abgefeuert wurde, seinen Börsenmakler angewiesen hatte, seine Aktien zu verkaufen. In der Fernsehsendung behauptete er, er hätte diese Anweisung schon ein paar Tage zuvor geben wollen, als noch niemand von einem Krieg träumte, und dass es aus irgendwelchen technischen Gründen eine Verzögerung gegeben habe. Aber ebenso wie das Foto von Peretz mit dem Fernglas mit Schutzkappen einen Schatten auf den einen, so warf die Affäre mit den Aktien einen Schatten auf den anderen.
Olmert war danach für schuldig befunden worden, Bestechungsgelder angenommen zu haben. Er wurde noch verschiedener anderer Verbrechen überführt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Das Berufungsverfahren läuft noch.
 
DEM LIBANONKRIEG II ging 24 Jahre vorher der Libanonkrieg I voraus. Diesen führte der Verteidigungsminister Ariel Scharon unter der Schirmherrschaft Menachem Begins.
Damals war die Zerstörung der palästinensischen Basen im Südlibanon das Ziel. Es gab ein definiertes Kriegsziel, einen eindeutigen Operationsplan und eine effiziente militärische und politische Führung. Er endete natürlich mit einer Katastrophe, als das Sabra-Schatila-Massaker die Welt schockierte.
Zur Aufklärung der Gräueltat wurde eine Untersuchungskommission eingerichtet und Scharon wurde aus dem Verteidigungsministerium (aber nicht aus der Regierung) entlassen. Militärkommandeure wurden bestraft.
Trotzdem wurde der Feldzug in Israel als eine glänzende militärische Leistung betrachtet. Nur einigen war klar, dass es ein militärisches Durcheinander war: An der Ostfront, Syrien gegenüber, erreichte keine israelische Einheit das vorgegebene Ziel und die israelischen Truppen an der Westfront erreichten Beirut erst nach der vorgegebenen Zeit und nur dadurch, dass sie den von den UN auferlegten Waffenstillstand brachen. (Damals besuchte ich Jasser Arafat im belagerten Westteil der Stadt.)
Libanon I hatte eine unvorhergesehene und dauerhafte Wirkung. Die palästinensischen Truppen wurden tatsächlich aus dem Land entfernt und bekamen ihren neuen Platz in Tunis (wo Arafat bis zum Oslo-Abkommen den Kampf fortsetzte), aber statt der palästinensischen Bedrohung wuchs im Libanon eine weitere, viel schlimmere Bedrohung heran. Die schiitische Bevölkerung, die bis dahin auf Seiten Israels gestanden hatte, wurde zum sehr effektiven Todfeind. Die Hisbollah („Partei Gottes“) wuchs zu einer starken politischen und militärischen Kraft an, was schließlich zum Libanonkrieg II führte.
 
DER LIBANONKRIEG I war jedoch, verglichen mit dem Libanonkrieg II, ein strategisches Meisterstück.
Für Libanon II gab es überhaupt keinen Operationsplan und es gab auch kein eindeutiges Kriegsziel, das doch ein wichtiger Bestandteil jeder erfolgreichen Militäroperation ist.
Der Krieg begann mit massiven Bombardierungen sowohl von zivilen Zielen wie von Elektrizitätswerken, Straßen und Dörfern als auch militärischer Ziele. Das war die Erfüllung des Traumes eines Luftwaffengenerals. Sonst war alles ein Chaos. Entscheidungen wurden getroffen und zurückgenommen, Operationen begonnen und abgebrochen. Ziele wurden militärisch völlig zwecklos bombardiert und zerstört und die Bomben hatten nur den einen Zweck, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren und ihr die Lektion „ins Bewusstsein einzubrennen“, dass es sich nicht auszahle, Israel zu provozieren.
Die Hisbollah reagierte damit, dass sie ihrerseits israelische Städte und Dörfer mit Raketen terrorisierte. Auf beiden Seiten stiegen die Zahlen der Todesopfer und der Zerstörungen. Natürlich litten Süd- und Zentrallibanon am meisten.
Als die Hisbollah nicht kapitulierte, wuchs in Israel der Druck zu einem Angriff mit Bodentruppen. Er führte so gut wie nirgendwohin. Nachdem die UN einen Waffenstillstand angeordnet hatten, beschloss die israelische Führung, eine letzte Anstrengung zu unternehmen und setzte nach dem Stichtag einen Bodenangriff in Gang. 34 israelische Soldaten starben für nichts und wieder nichts.
Ein großer Teil der Operation wurde von Reservisten ausgeführt, Soldaten, die hastig einberufen worden waren. Als die Reservisten zu ihren Basen kamen, fanden sie die ständigen Notfall-Lager leer, viele wichtige Kriegsmaterialien fehlten. Da sie uniformierte Zivilisten waren, beschwerten sie sich laut. Der Armeekommandeur hatte die Lager jahrelang eindeutig vernachlässigt. Ebenso war es mit dem Training: Viele Reserve-Soldaten hatten jahrelang ihr jährliches Training nicht absolviert.
Als das Feuer endlich eingestellt wurde, hatte die israelische Armee so gut wie nichts erreicht. Ein paar libanesische Dörfer gleich an der Grenze wurden erobert und mussten wieder verlassen werden.
 
DIESES MAL konnten die Misserfolge nicht vertuscht werden. Eine zivile Untersuchungskommission wurde eingerichtet. Sie verurteilte die Führung. Peretz und Halutz mussten zurücktreten, Olmert wurde bald darauf wegen Korruption angeklagt und musste ebenfalls zurücktreten. 
Vom Standpunkt der israelischen Regierung aus brachte Libanon II jedoch einige Erfolge.
Von damals bis heute ist die Grenze zwischen dem Libanon und Israel vergleichsweise ruhig. Wenn es überhaupt ein erkennbares Kriegsziel gegeben hatte, war das, die libanesische Zivilbevölkerung durch ausgedehnte Zerstörungen und Tötungen zu terrorisieren. Das wurde tatsächlich erreicht. Der hervorragende Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah (der ernannt worden war, nachdem sein viel weniger fähiger Vorgänger von der israelischen Armee durch eine „gezielte Tötung“„ausgeschaltet“ worden war) gab mit ungewöhnlicher Aufrichtigkeit öffentlich zu, dass er die Aktion Gefangene-Machen nicht befohlen hätte, wenn er vorausgesehen hätte, dass sie zu einem Krieg führen werde.
Allerdings ist man, wenn man den drei israelischen Führern in den Fernsehgeschichten zuhört, von der offenkundigen Inkompetenz aller drei überrascht. Sie fingen einen Krieg an, in dem Hunderte Israelis und Libanesen starben und in dem ohne jeden berechtigten Grund Häuser zerstört wurden. Sie führten den Krieg ohne klaren Plan und trafen Entscheidungen, ohne die dafür notwendigen Kenntnisse zu besitzen. Als sie im Fernsehen sprachen, zeigten sie sehr wenig Achtung voreinander.
Ein Israeli, der diesen Aussagen zuhört, fragt sich zwangsläufig: Gilt das für alle unsere ehemaligen und künftigen Kriege? Wurde das bisher nur durch Zensur und schweigende Übereinkunft vertuscht?
Und die viel wichtigere Frage: Traf das nicht auf die meisten Kriege in der Geschichte zu, denen des alten Ägypten und Griechenlands bis zu den heutigen? Wir wissen inzwischen schon, dass der Erste Weltkrieg mit seinen Millionen Opfern von politischen Idioten entzündet und von militärisch Inkompetenten geführt wurde.
Ist die Menschheit dazu verdammt, das bis in alle Ewigkeit zu erleiden? Ist das alles, was wir Israelis zu erwarten haben: einige weitere Kriege, die von derselben Sorte Politiker und Generäle geführt werden? (PK)

Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer AutorInnen für die NRhZ rezensiert.
Für die Übersetzung dieses Buches und von Uri Avnerys Artikel aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie hat ein neues eBuch bei Amazon veröffentlicht: "Ira Chernus, Amerikanische Nationalmythen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft". Alle ihre eBücher findet man unter http://www.amazon.com/s/ref=nb_sb_noss?url=search-alias%3Daps&field-keywords.
http://ingridvonheiseler.formatlabor.net
 
 


Online-Flyer Nr. 511  vom 20.05.2015

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