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Kommentar
Die unterste Schublade des deutschen Arbeitsmarktes
Niedriglohn-Sklaverei
Von Harald Schauff

Zumeist kommen sie aus Osteuropa, vornehmlich aus Polen oder Rumänien. Sie schuften im Gartenbau, auf Großmärkten, in der Fleischindustrie oder auf dem Bau. Für Stundenlöhne von unter 5 Euro die Stunde, bei Arbeitszeiten von 10 bis 12 Stunden täglich bzw. 50 bis 60 Stunden wöchentlich. Ihre Unterkünfte sind häufig Zimmer in Bruchbuden, die sie sich zu viert teilen müssen. Die Schlafplätze kosten pro Person zwischen 150 und 300 Euro. (1)

Nach einer Erhebung durch das Institut für Arbeit und Qualifikation an der Universität  Duisburg-Essen sind insgesamt 1,7 Millionen Menschen in der untersten Lohngruppe des deutschen Arbeitsmarktes beschäftigt. Damit liegt der Niedriglohnsektor in Deutschland von der Größe her auf dem dritten Platz hinter der Slowakei und Irland. Ganz bewusst mit politischem Kalkül wurde er über lange Jahre hoch gezogen. Vor rund 10 Jahren äußerte sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder beim Weltwirtschaftsforum in Davos lobend
über den ‘funktionierenden Niedriglohnsektor’, den man aufgebaut habe. Inzwischen erhalten 19,2 % der Beschäftigten in Betrieben weniger als 8,50 Euro Stundenlohn. Diese Ziffer berücksichtigt noch nicht die zahlreichen Putzhilfen und Pflegekräfte für Senioren, die unangemeldet in der Schattenwirtschaft tätig sind.
 
Damit sein kann, was nach normalem Tarifrecht niemals sein darf, bedient man sich gewisser Kniffe, die der Niedriglohnsklaverei einen legalen Anstrich verpassen. Zum einen schließen Unternehmen mit den Billigstjobbern sogenannte ‘Werkverträge’ ab. Diese haben für die Firmen den Vorteil, dass Arbeitskräfte, obwohl in Deutschland tätig, nach den Lohn- und
Sozialstandards, die in ihren Heimatländern gelten, bezahlt werden. Ein anderer Trick besteht darin, die Billigkräfte als Selbstständige mit Gewerbeschein auszustatten. Sie unterliegen dann keinem Tarifvertrag und können, Mindestlohn hin oder her, für weniger als 5 Euro die Stunde arbeiten. Es gibt noch einen weiteren Trick, Mindestlöhne zu unterlaufen: Die Anzahl der Arbeitsstunden wird niedriger angegeben als die tatsächlich geleisteten. Beispielsweise sind auf einem Stundenzettel 30 Stunden verzeichnet, obwohl in Wahrheit 40 bis 50 Stunden verrichtet wurden. Oder vom Lohn werden 300 Euro für die Unterkunft abgezogen.
 
Diese Schattenseite der hoch gepriesenen robusten deutschen Wirtschaft ist zur gleichen Zeit eine ihrer Hauptsäulen: Nahrungsmittel, Dienstleistungen und Güter des täglichen Bedarfs sind hierzulande deshalb so günstig, weil die Lohnsklaven für Minimalbeträge schuften. Es gibt Extremfälle, wo sie sich nicht einmal mehr Geld für Essen leisten können. So wie 50 Arbeiter aus Osteuropa, die letztes Jahr in der Bankenstadt Frankfurt neue Verschalungen bauten und Beton gossen. Auf dass ‘Mainhattan’ aufgepäppelt werde mit Einkaufszentren, Nobelappartements und Büros.
 
Viele auf den Baustellen beschäftigte Osteuropäer erhalten Stundenlöhne von unter 6 Euro, womit sie gerade einmal auf die Hälfte des in der Baubranche üblichen Mindestlohnes kommen, und das bei bis zu 60 Wochenstunden. Sie lassen sich darauf ein, weil sie so immer noch ein Vielfaches der Löhne in Rumänien verdienen, vorausgesetzt sie finden dort Arbeit.
Allerdings gibt es Fälle, wo Arbeitern nur ein Bruchteil dieses ohnehin kargen Lohnes ausbezahlt wird. In der Regel passiert dies bei Subunternehmen. Wenden sich Betroffene an die Hauptunternehmen, geben sich jene ahnungslos. Sie bezahlen dann nicht den ausstehenden Lohn, sondern bieten den ratlosen Lohngeprellten die Bezahlung der Heimreise nebst einer kleinen Entschädigung an. So schafft man sich die Ausgebeuteten auf günstige Weise vom Hals. Dabei wären Generalunternehmer nach dem Entsende-Gesetz verpflichtet, die von Subunternehmen schuldig gebliebenen Mindestlöhne und Sozialbeiträge zu begleichen, da sie für deren Versäumnisse haften. Das Problem: Klagen Betroffene ihre zu Recht erhobenen Ansprüche ein, können sich die Gerichtsverfahren jahrelang hinziehen.
Die Schwierigkeiten beginnen für die Rechtsprechung bereits, wenn Subunternehmen und Arbeiter verschiedene Stundenzettel vorlegen. Gewerkschaftsvertreter, die Betroffene unterstützen, sind daher bereits zufrieden, wenn sie Kompromisse mit den Hauptunternehmen aushandeln können. So fahren die Arbeiter mit wenigstens ein paar tausend anstatt nur hundert Euro nach Hause.
 
Der einst so gepriesene Niedriglohnsektor hat als Teil des so tollen robusten deutschen Arbeitsmarktes inzwischen unvorstellbare Auswüchse hervor gebracht, wie man sie eigentlich nur aus Schwellen- und Dritt-Welt Ländern kennt. Die beschriebenen Tatsachen demaskieren die weit verbreiteten Klischees, nach denen Ausländer angeblich ‘auf unsere Kosten’ leben oder ‘uns die Arbeit wegnehmen’. Unter den Trägern und Verbreitern dieser Ausgrenzungsmentalität dürften sich viele befinden, welche sich laut darüber beschweren, wie teuer alles in den Läden sei. Dabei käme es, wie oben gesehen, erst richtig teuer, würden die 1,7 Millionen Billigstlöhner ihre unzumutbaren Jobs niederlegten. Z.B. in der Fleischzerlegung. Vielleicht würde manch einer infolge gestiegener Fleischpreise zum Vegetarier.
 
Ein genauer Blick auf den überschätzten deutschen Arbeitsmarkt offenbart, dass auch Millionen deutsche Beschäftigte kaum besser gestellt sind als ihre osteuropäischen Kollegen.
Durch die Medien geisterte kurz einmal die offizielle Zahl von etwas über drei Millionen Beschäftigten, denen der Lohn nicht zum Leben reicht. Die Dunkelziffer dürfte einige Millionen hinzu fügen. Immerhin gelten 5 Millionen Arbeitnehmer als ‘ausschließlich geringfügig beschäftigt’. Hinzu kommen einige Millionen Vollzeit- und Teilzeit-Niedrigverdiener, die gleichfalls am Existenzminimum knabbern. Jede/r davon macht nachdrücklich klar: Das deutsche Wirtschafts- bzw. Beschäftigungswunder ist vor allem statistischer Natur. (PK)
 
(1) Informationen: DER SPIEGEL 48/2014
 
Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf" und hat diesen Beitrag in deren aktueller Mai-Aausgabe veröffentlicht.
 


Online-Flyer Nr. 510  vom 13.05.2015



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