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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Kommentar
Bevor ich FDP-Frau Leutheusser-Schnarrenberger zum Fall Boris Nemzow zitiere
Wir betrauern – ohne Gewähr
Von Volker Bräutigam

Herzerwärmend, die Meute der Nachrichtenjournalisten unserer „westlichen Wertegemeinschaft“ auf konzertierter Mörderjagd zu erleben, wenn ein namhafter russischer Oppositioneller umgebracht wurde. Diesmal Boris Nemzow, Vielfachmillionär, einst im Kabinett des korrupten und versoffenen Präsidenten Boris Jelzin für das Wirtschaftsressort zuständig und dort nach wenigen Ministerjahren bereits Dollar-Multimillionär. Freund der westlichen Geldaristokratie und Helfer russischer Oligarchen vom Schlage Chodorkowskij und Beresowskij, als die das vormals sowjetische Staatsvermögen plünderten und ihre Milliardenvermögen zusammenraubten.
 

Boris Nemzow
NRhZ-Archiv
Preisfrage: Was hat die Ermordung Boris Nemzows mit jener der Anna Politkowskaja zu tun? Antwort: Nichts. Zwar wurden beide erschossen, beide auf dem gleichen Moskauer Friedhof beerdigt, die Journalistin Politkowskaja allerdings schon vor fast neun Jahren. Dennoch, das Foto von ihrem Grab dient jetzt als subtiler Aufhänger für hilfreich suggestive Berichterstattung der ARD-Tagesschau: „...ebenfalls eine Putin-Gegnerin“, deren gewaltsamer Tod „nie aufgeklärt wurde“.
 
Ja, liebe Kollegen, so macht man heute seriösen Nachrichtenjournalismus. Immer ein Händchen dafür, dass der „übliche Verdächtige“ dem deutschen Publikum nicht aus dem Blick gerät: Putin, der demokratisch gewählte Präsident mit einer Zustimmungsrate von aktuell 85%. Was Ihr könnt, werte ARD-Kollegen, kann ich aber schon lange! Hier kommen meine breaking news vonseiten einer gut informierten Quelle:
 
Nemzow hatte seine Gasrechnung nicht bezahlt und wollte nach der Kaviar-Jause im Nobelrestaurant in Kreml-Nähe mal eben zur Telefonzelle, um bei Gerhard Schröder anzurufen "... deine Gazprom nervt, sie hat schon meine Kreditkarte gesperrt" – , als er bemerkte, dass er keine Telefonkopeke bei sich hatte. Deshalb ging er den – natürlich alkoholisierten – Fahrer eines der rostigen Lada, die in Moskau überall den Verkehr blockieren, um Wechselgeld an. Der wollte seinen Geldbeutel rausfummeln, erwischte jedoch, wie das in Russland so geht, versehentlich seine 9mm-Makarow. Bummbumm und o bosche moi ... Das Berliner AA hat in einer ersten Reaktion bereits eine Reisewarnung für deutsche Touristen ausgegeben (...)“.
 
Damit auch der letzte Depp vor der Glotze kapiert, wie hoch an der Zeit es für den Westen ist, in Russland gründlich aufzuräumen und dem Putin-Pack Beine zu machen, unterstellen unsere kriegstreiberischen öffentlich-rechtlichen Medien, den Moskauer Behörden sei an einer zielstrebigen kriminologischen Untersuchung des Verbrechens nicht gelegen. Freilich formulieren ARD-Tagesschau, ZDF-heute und Deutschlandradio das nicht selbst so plump, sie lassen es lieber kommentarlos eine Ex-Justizministerin aufsagen.
Bevor ich Frau Leutheusser-Schnarrenberger zitiere, blicken wir auf ihren politischen Hintergrund: die verzwergte FDP und deren finanzkräftige Naumann-Stiftung. Engagiert für die Interessen des Kapitals und seiner Eliten, zuverlässig zur Stelle, wo die Subversion USA-kritischer Regierungen gefragt ist – vulgo: Farbenrevolution zwecks Herstellung von Freiheit und Demokratie. Dem kleptokratischen Nemzow widmete das Institut im Anzeigenteil der FAZ vom 2. März folgenden großformatigen Nachruf: „Wir trauern um unseren langjährigen politischen Partner und Freund Boris Nemzow, Vizeministerpräsident a. D. der Russischen Föderation. Er gehörte zu den mutigsten und konsequentesten Oppositionellen in Russland und deshalb auch zu den am meisten gefährdeten Personen. Als Patriot, liberaler Reformer und überzeugter Europäer setzte er sich unermüdlich für ein offenes und demokratisches Russland ein. Wir werden ihn nicht vergessen. Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.“ (Unterschriften).
 
Zwar hat der Wähler die FDP von der Bundesbühne entfernt, doch hindert das die ARD-Agitprop-Journaille in Moskau nicht, die Ex-Justizministerin als Teil der „prominenten Politiker aus dem Ausland, die zu der Beisetzung gekommen waren“, zu interviewen. Die Leutheusser-Schnarrenberger stammelt ins Mikrofon, später auch im Telefoninterview des DeutschlandRadios: „Im Moment gibt es jetzt nicht irgendwelche Anzeichen für einen Auftragsmord aus dem Kreml. Aber eine politische Verantwortung sehe ich in jedem Fall.“ Und noch eins drauf: "Man kann auch einen Kritiker mit Worten hinterrücks umbringen." Weshalb die FDP-Fachfrau sich die Unterstellung erlaubte „... es muss in alle Richtungen ermittelt werden, und da habe ich die ganz große Sorge, dass das nicht passieren wird.“
Und so kommt die Leutheusser-Schnarrenberger mal wieder ganz groß raus: „Von daher, glaube ich, ist es gut, wenn der Europarat ... als eine unabhängige Institution, die eine ganz, ganz große Expertise in all diesen Fragen hat, auch gerade in Fragen aufzuklären, was spricht für, was spricht gegen diese Tat, und damit eine Debatte zu führen, die dann vielleicht leichter kanalisiert, in welche Richtung tatsächlich die Hinterleute zu suchen sind oder gefunden werden könnten.“
 
Solche Sätze muss man sich auf dem Trommelfell zergehen lassen. Verkorkste Sprache, verkorkstes Denken: Eine deutsche Ex-Justizministerin behauptet argument- und beweislos, die russische Regierung sei nicht willens, einen aufsehenerregenden Mordfall sauber aufzuklären; notwendig sei dazu die „ganz ganz große Expertise“ des Europarates. In dem hat Russland kein Stimmrecht mehr – wie gut sich das trifft. Auf die Hilfe einer derart "unabhängigen“ westlichen Institution, die Morduntersuchungen in alle Richtungen führt, und zwar mittels kanalisierter Debatten in nur eine Richtung, dürfte Präsident Putin fast so scharf sein wie Nemzow auf das junge ukrainische „Model“, mit dem er in der eiskalten Mordnacht zu Fuß unterwegs war. Oder hab ich da was in den falschen Hals gekriegt?
 
Hirn- und haltloses Politiker-Geschwätz wie das der Leutheusser-Schnarrenberger muten ARD, DLF und ZDF uns unreflektiert und kübelweise in ihren „Nachrichten“ zu. Einen meiner Freunde bewog das zu einem Schreiben an Dagmar Pohl-Laukamp, die Vorsitzende des NDR-Rundfunkrates: „... rege ich an (§ 13 NDR-Staatsvertrag), eine neue Rubrik auf der Website der Tagesschau einzuführen, in der Beiträge ausdrücklich als Presserklärungen von Militärs, Unternehmen, politischen Institutionen usw. gekennzeichnet und somit von eigenständigen redaktionellen Beiträgen abgegrenzt werden (z.B. "Hier ist die Tagesschau: Die Militärs berichten von der Front"). Das hätte zugleich den Vorteil, dass Sie sich nicht permanent Propaganda vorwerfen lassen müssen.“
 
Entsprechend könnte man die Tagesschau-Sendungen auch mit dem gleichen Zusatz schmücken wie die Ziehung der Lotto-Zahlen: „Alle Angaben sind wie immer ohne Gewähr.“ Deshalb kosten sie ja Rundfunkgebühren.
 
Unterm Strich:
Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hält die bundesdeutsche Medien-Mafia den Russen deren unaufgeklärte Fälle ermordeter Politprominenz vor, als ob Mordermittlungen grundsätzlich erfolgreich seien, nur eben nicht in Moskau. Hier eine unvollständige Liste deutscher Prominenter, deren gewaltsamer Tod ebenfalls nie zweifelsfrei aufgeklärt wurde, an die zu erinnern der deutschen Journaille natürlich nicht einfällt:
 
Heinz-Herbert Karry, hess. Vize-Ministerpräsident, 1981
Jürgen Ponto, Bankier, 1977
Detlev-Karsten Rowedder, erster Chef der Treuhand-Anstalt, 1991
Siegfried Buback, Generalbundesanwalt, 1987
Jürgen Möllemann, Ex-Vize-Kanzler, 2003
Alfred Herrhausen, Chef der Deutschen Bank, 1989,
Uwe Barschel, Ministerpräsident, 1987.
 
Das sind nur ein paar Namen, die mir spontan einfielen. Die Liste ist ganz sicher verlängerbar. Sie könnte, wenn man z.B.
Michelle Kiesewetter, Polizistin, 2007,
hinzufügte und die Namen weiterer, von unseren "Diensten" Ermordeter oder die der unter ungeklärten Umständen in Polizeizellen bzw. in den Haftanstalten Gestorbenen hinzunähme, sogar ellenlang werden. Wer mit dem Finger auf Russland zeigt, sollte bedenken, dass dabei drei Finger auf Deutschland zurückverweisen. (PK)
 
Diesen Text von Volker Bräutigam haben wir mit freundlichem Einverständnis der Politikzeitschrift Ossietzky wiedergegeben.
Volker Bräutigam (* 21. Juni 1941 Gera, Thüringen) war ursprünglich Tageszeitungs-Redakteur, dann TV-Nachrichtenredakteur für die Tagesschau in Hamburg, ging in den 1990er Jahren nach Taiwan in China, wo er auch für ein Forschungsprojekt des National Science Council und als Lehrbeauftragter am Übersetzungswissenschaftlichen Institut der Fu-Jen Universität arbeitete. In den letzten Jahren bis zu seiner Pensionierung war er als Berater für Umweltschutz-Technologie der Environmental Protection Foundation (EPF) an der Taiwan National University in Taipeh tätig. Heute schreibt er gelegentlich u.a. für die Ossietzky und für die NRhZ.
 


Online-Flyer Nr. 502  vom 18.03.2015

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