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Krieg und Frieden
Charlie Hebdo und was sonst alles mit dem Feindbild Islam zusammenhängt
Die Spaltung der Köpfe
Von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann

Toleranz ist ein Grundpfeiler humanistischen Denkens. Dieses Denken verbindet. Es verbindet uns alle – auch uns, die wir in der westlichen "Wertegemeinschaft" leben – unabhängig davon, ob wir uns als Christen, Muslime, Atheisten oder Anhänger einer anderen Denkrichtung verstehen. Das ist eine Haltung, die uns das Gefühl gibt, auf der richtigen Seite zu stehen. Wenn eine Gruppierung wie "Pro Köln" auf die Straße geht und gegen den Bau einer Moschee protestiert oder einen so genannten Anti-Islamisierungskongress abhalten will, dann herrscht Einigkeit von "links" bis "rechts", dass es gilt, gegen "rechts" und für Toleranz Flagge zu zeigen und den Aufmarsch einer Gruppierung wie "Pro Köln" möglichst zu verhindern. Keine Toleranz für Intoleranz – heißt es dann. Die Köpfe der Menschen scheinen voll von dieser Toleranz.


München, Februar 2015: Hetzerische anti-islamische Karikatur – publiziert auch von Charlie Hebdo (Foto: arbeiterfotografie.com)

Operation 9/11

Doch längst – fast unbemerkt – ist ein erhebliches Stück Toleranz aus den Köpfen herausgeschlagen. Wann ist das geschehen? Es hat sich am 11. September 2001 zugetragen. Es war die Operation 9/11. Dabei sollen – so das weit verbreitete Märchen – 19 Muslime unter Führung des afghanischen Höhlenmenschen Osama bin Laden in den USA ein Mega-Verbrechen verübt haben. Der längst geplante globale "Krieg gegen den Terror" kann beginnen. „Die Militäraktion in Afghanistan dient dem Ziel, das Netzwerk gewaltbereiter Islamisten zu zerschlagen“, ist bei Udo Ulfkotte zu lesen. Der "islamistische Terror" ist seitdem in aller Munde, und – immer mal wieder aufgefrischt durch den einen oder anderen angeblich "islamistischen" Anschlag hier oder da – lassen sich imperialistische Kriege gegen islamische Länder führen. Jeder, der es wagt, das Märchen öffentlichkeitswirksam zu hinterfragen, wird an den Pranger gestellt. Die Politband DIE BANDBREITE mit ihrem Song "Habt Ihr dat vielleicht selbst gemacht?" ist ein typisches Beispiel dafür. Sie soll fertig gemacht werden. Das herausgeschlagene Stück Kopf hat Platz gemacht für das Feindbild Islam – wie erwähnt fast unbemerkt.

Operation aus der "Mitte der Gesellschaft"

Das Flagge-Zeigen für Toleranz, wenn die Toleranz von "rechts" bedroht scheint, ist damit kaum berührt. Anders sieht es aus, wenn die Toleranz aus der "Mitte der Gesellschaft" angegriffen wird. Wenn Israel-Lobbyist Henryk M. Broder verkündet, der Unterschied zwischen Islam und Islamismus sei der gleiche wie der zwischen Terror und Terrorismus, oder wenn – veranstaltet u.a. von Giordano-Bruno-Stiftung und Zentralrat der Ex-Muslime – bei der "Kritischen Islamkonferenz" 2008 an der Uni zu Köln Ralph Giordano, dem sich übrigens auch ein Udo Ulfkotte verbunden fühlt, als Eröffnungsredner fungiert und zum Thema „Nicht die Migration, der Islam ist das Problem!“ vorträgt, dann herrscht wieder Einigkeit von "links" bis "rechts". Aber diesmal ist es anders: es besteht Einigkeit, dass nicht protestiert zu werden braucht oder auch nicht protestiert werden darf. "Toleranz für Intoleranz" könnte das Motto lauten. Und schon wieder ist ein Stück Toleranz aus den Köpfen geschlagen. Und dann kommt der Karneval und erreicht die "Mitte der Gesellschaft". Ein perfides Beispiel: Jacques Tilly, Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung, hat für den Düsseldorfer Rosenmontagszug 2015 einen Wagen entworfen: Sein Titel: „Drei Muslime, nichts sehen, nichts sagen, nichts hören“. Zu lesen ist auf den Muslimen die Hetzparole: „Terror hat nichts mit Religion zu tun“. Und wieder ist in die Köpfe ein Stück vom Feindbild Islam eingepflanzt. Protest: Fehlanzeige!

Operation "Islamischer Staat"

Und seit 2014 wissen wir, was das absolut Böse ist. Es ist der "Islamische Staat". Welch ein Zufall! Das Teuflische hat nicht den Namen "Christlicher Staat" oder gar "Jüdischer Staat" erhalten. Nein! Man stelle es sich nur mal einen Moment lang vor: überall in den Medien wäre vom "Jüdischen Staat" die Rede, wo real vom "Islamischen Staat" die Rede ist. Es hieße z.B.: Die Bundeskanzlerin bezeichnet den Terror des "Jüdischen Staats" als Völkermord. Oder als Schlagzeile in der WELT: "Jüdischer Staat", eine neue Dimension des Grauens. Oder im SPIEGEL: Der "Jüdische Staat" ist für seine Brutalität berüchtigt. Es ist aber der "Islamische Staat", der alles Abscheuliche verkörpert. Gewalt ist gefordert – zur Bekämpfung des Bösen. Danach werden Stimmen sogar in der Linken laut, ungeachtet verfügbarer Informationen: „Der 'Islamische Staat' ist ein Geschöpf der US-Geheimdienste“, wie bei Prof. Michel Chossudovsky zu lesen ist. Oder: „Edward Snowden hat aufgedeckt, dass britische und US-amerikanische Geheimdienste sowie der Mossad bei der Schaffung des 'Islamischen Staates' zusammengearbeitet haben“, wie in der Gulf Daily News am 15. Juli 2014 zu lesen ist. Wieder ist es gelungen, aus den Köpfen ein Stück heraus zu spalten und durch das Feindbild Islam zu ersetzen. Ein Begriff ist gekapert und mit Feindbildsubstrat kontaminiert.

Operation PEGIDA

Die Akteure hinter den Kulissen sind zurzeit besonders rege. Die Bewegung "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes", abgekürzt PEGIDA, entsteht und erhält in kurzer Zeit immensen Zulauf. Auch Personen wie Udo Ulfkotte und Jürgen Elsässer machen sich zu ihren Sprechern. Mit PEGIDA erreicht eine Bewegung, die auf das Feindbild Islam fokussiert, erschreckend große Menschenmassen. Aber wie bei all den Aufmärschen des rechten Spektrums gibt es Gegenbewegungen, die gegen "rechts" und für Toleranz Flagge zeigen – allerdings werden die imperialistischen Drahtzieher und deren Betrugssystem zu selten ins Blickfeld gerückt. „Und wenn die Saat der über zehn Jahre andauernden Anti-Islam-Hetze aufgeht, und sich in PEGIDA und ähnlichen Protesten entlädt, sind die gleichen Politiker und Medien schnell bei der Hand, diese Demonstranten als Deppen und als Nazis zu beschimpfen. Dabei handelt es sich um Betrogene, betrogen von den gleichen, die sie jetzt verächtlich machen, Betrogene, die den Betrug nicht durchschauen, und so das Geschäft der Betrüger betreiben. Kritik an den PEGIDA-Demonstranten ist wohlfeil. Aber eine Kritik, die diese Zusammenhänge nicht offen legt und thematisiert, ist keine Aufklärung und kein Antifaschismus, sondern spielt im herrschenden Betrugssystem mit“, schreibt Klaus Hartmann, Bundesvorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes in einer Erklärung am 9. Januar 2015. Die Konstrukteure von PEGIDA und des damit liierten Betrugssystems können sich glücklich schätzen, wieder einmal ein bedeutendes Stück Desorientierung – durch Orientierung auf falsche Feindbilder – in die Köpfe Zehntausender geschleust zu haben.

Operation Charlie Hebdo

Aber dann kommt der Tag, an dem es gelingt, die Toleranz für Islam-Hetze in die Köpfe noch wesentlich breiterer Schichten der Gesellschaft eindringen zu lassen. Am 7. Januar 2015 vollzieht sich in Paris die Operation "Charlie Hebdo". Alles deutet auf eine Operation unter falscher Flagge. Mit einem Personalausweis wird die Spur in Richtung islamischer Täter gelenkt. Sogar die Bild-Zeitung erwägt eine false-flag-Operation – wenn auch nur am Rande. In ihrer Ausgabe vom 8.1.2015 fragt sie, warum der Ausweis im Fluchtauto lag und gibt vier Antworten, wovon eine lautet: „Der Ausweis wurde absichtlich hingelegt. So hätten die Attentäter mit einem gestohlenen Ausweis den Verdacht auf eine unschuldige Person lenken können. Heißt: Die Polizei würde die Falschen jagen.“ Aber wer sind die Richtigen? Ein Imperium verfügt über zahlreiche "Dienste". Doch diese Gedanken scheinen Schnee von gestern zu sein. Fast die ganze Öffentlichkeit – bis hinein in die "Linke" – wischt sie beiseite und schluckt die Anti-Islam-Kampagne im Doppelpack: Muslime seien die Täter gewesen. Und: eine "Demokratie" habe das Recht auf anti-islamische Hetze.

Irene Eckert beschreibt es treffend. „Das offizielle Europa, inklusive... Israel, setzt sich an die Spitze einer islamfeindlichen, fremdenfeindlichen Protestbewegung. Ihre Losung: 'Je suis Charlie'. Alle Franzosen, alle denkbaren Einrichtungen, am besten alle Europäer und darüber hinaus wollen jetzt eins mit Charlie sein. Sie identifizieren sich mit dem einst progressiven Team der prominenten Comic-Zeichner und mit den Werten einer vormals großen Nation: Liberté – Freiheit – Pressefreiheit – Meinungsvielfalt – Toleranz, das sind ihre Parolen. Übersehen wird in Anbetracht des totalitären Medienrummels, dass die 'Grande Nation' schon längst in den Vasallen-Status abgerutscht ist, dass sein Führungspersonal US-geschult und US-hörig ist, dass Charlie-Hebdo unter Philippe Val umgedreht worden war und einen islamfeindlichen, reaktionären Kurs eingeschlagen hatte, der Satire... mit Hetze und Beleidigung ... gegen Entrechtete verwechselte.“

Evelyn Hecht-Galinski erwähnt die Äußerung von Ex-Hebdo-Mitarbeiter Olivier Cyran, der von einer „bedauerlichen Umwandlung“ spricht, die sich bei Charlie Hebdo nach der „Wende vom 11. September 2001“ vollzogen habe. Charlie Hebdo habe „mächtig dazu beigetragen, in der linken öffentlichen Meinung die Idee zu verbreiten, dass der Islam ein Hauptproblem der französischen Gesellschaft sei. Dass Moslems zu erniedrigen, nicht mehr ein Privileg der Rechtsextremen... sei“. „Das Magazin ist Teil des Kulturkampfes des Westens gegen den Islam“, schreibt Ludwig Watzal. Evelyn Hecht-Galinksi: „Mit Sorge sehe ich, wie hier eine Massenhysterie inszeniert wird... Die ganze Welt war im Einklang... Ich bin nicht Charlie und solidarisiere mich nicht mit einer so grotesk gesteuerten Aktion!“

In der marxistischen Tageszeitung "junge Welt" wird Charlie Hebdo am 9.1. 2015 als links bewertet. Das ist nicht zu verstehen, wenn man zur Kenntnis nimmt: In einem Artikel von US-Autor William Blum zitiert dieser einen in Paris lebenden Freund, der das Magazin und seine Macher gut kennt: „Was die internationale Politik angeht, war Charlie Hebdo bisher neokonservativ. Das Magazin unterstützte jede einzelne NATO-Intervention – von Jugoslawien bis heute. Es war gegen die Hamas, überhaupt gegen alle Organisationen der Palästinenser, gegen die Muslime, gegen die Russen – mit Ausnahme eines einzigen Karikaturisten – gegen Hugo Chávez, gegen den Iran, gegen Syrien und für Pussy Riot, für Kiew, ... muss ich die Liste fortsetzen? Seltsamerweise galt das Satiremagazin trotzdem als 'links'.“

Die Operation Charlie Hebdo ist somit ein Genie-Streich. Mit ihr ist es verstärkt gelungen, auch unter denen, die für Toleranz gegenüber dem Islam eintreten, die Auffassung zu verankern, Islam-Hetze sei ein demokratisches Recht. Geht das? Gleichzeitig tolerant zu sein und Hetze dagegen zu akzeptieren? Das ähnelt Positionen in der Friedensbewegung, die da lauten: Kein Krieg! Aber gleichzeitig das Feindbild bedienen, das den Krieg rechtfertigen soll. Alles muss seine Grenzen haben – auch die Toleranz. Ein imperialistisches System wie die westliche "Wertegemeinschaft" braucht Feindbilder. Feindbilder sind unabdingbar, um imperialistische Kriege als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Ohne Feindbild würde ein Imperium kollabieren. Vom Kopf der Toleranz ist nicht mehr viel übrig. Er ist gespalten, ja zertrümmert bis zur Unkenntlichkeit.(PK)


Vorab-Veröffentlichung aus der Quartalsschrift DAS KROKODIL, Ausgabe 12 (März 2015) – Grundsatzschrift über die Freiheit des Denkens – bissig – streitbar – schön und wahr und (manchmal) satirisch.



Mehr dazu und wie es sich bestellen lässt, hier: http://www.das-krokodil.com/


Online-Flyer Nr. 500  vom 04.03.2015



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