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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Globales
Alternativen für eine selbstbestimmte Gesellschaft
Was können wir aus der Ukraine lernen?
Von Kai Ehlers

Zugegeben, die Fragestellung ist vermessen. Während in Kiew mit einem „Marsch der Würde“ der demokratische Erfolg des Maidan beschworen wurde, allen voran unter Teilnahme des gegenwärtigen deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, während sich in Moskau, organisiert von aktiven Vaterlandsverteidigern, Zehntausende unter aufgebrachten Rufen „Kein Maidan in Russland“, „Keine Ukrainisierung in Russland“ zum Protest gegen die „Faschisten“ in Kiew versammelten, während in Sewastopol tags darauf der 23. Februar zum Tag des „Russischen Frühlings“ erklärt wurde, hörte man aus Lugansk und aus Donezk nichts dergleichen. Weder Pro noch Contra wurde demonstriert – Donezk lag stattdessen weiter unter Beschuss seitens der Ukrainischen Truppen, wie selbst regierungsnahen deutschen Medien zu entnehmen war.
 



Zur gleichen Zeit war aus dem Kiewer Außenministerium zu hören, dass man
bereit sei zum „totalen Krieg“, war zu vernehmen, dass die faschistischen Freikorps sich, gedeckt von der Regierung, aber unter eigenem Kommando zusammenschlössen, um weiter gegen die „Terroristen“ vorzugehen. Kanadische, US-Amerikanische, britische Politiker und auch deutsche, hier zurzeit mehr aus der zweiten Reihe, sprechen sich für weiteres, bewaffnetes Vorgehen gegen Russland aus. Führende NATO-Generäle erklären, Russland wolle NATO-Gebiete erobern. Es wird mit Macht weiter die Kriegspropaganda verschärft; die EU beschließt neue Sanktionen.
 
Was, fragt sich da manche/r, kann aus der gegenwärtigen Situation, noch ganz zu schweigen von den beiden zurückliegenden Weltkriegen, anderes gelernt werden, als dass offenbar nichts gelernt wird?
 
Die großen Verschiebungen der globalen Kräfteverhältnisse scheinen unaufhaltsam auf eine nicht zu definierende Endstation zuzurasen. Die Weichen scheinen gestellt, die Führung des Zuges auf Automatik geschaltet, das Zugpersonal darauf beschränkt die Fahrkarten zu kontrollieren. Antworten auf Fragen nach Ort und Zeit des Zielbahnhofs gibt es nicht. Ein Gefühl der Ohnmacht breitet sich unter den Fahrgästen aus. Also, was tun?
 
Kann man in kleinen Runden wie dem „Forum integrierte Gesellschaft“, in örtlichen oder in regionalen Gemeinschaften, in neuen Almenden, in Commons, in Kommunen, in selbst organisierten Dörfern, in Initiativen für Gemeineigentum usw. usf., die sich dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe, statt Konkurrenz, der Aufklärung statt Propaganda, der aktiven Toleranz, statt Dämonisierung anders Denkender und anders Lebender verpflichtet sehen, den Kriegstreibern aller Couleur einfach das Prinzip Hoffnung entgegen setzen?
 
Sind Ansätze in Ecuador, indigene Gemeinschaftstra-ditionen in die Entwicklung von Alternativen zum Kapitalismus zu integrieren ein Fingerzeig in die Zukunft? Öffnet sich mit dem Rückgriff auf traditionelle Gemeinschaftsstrukturen, zu dem Russland unter dem Druck der sich abzeichnenden globalen Konfrontation gezwungen wird, ein Zeitfenster für die Entwicklung von wirtschaftlichen und sozialen Mischformen, jenseits gegenwärtiger Strukturen des Kapitalismus? Überhaupt, können die Newcomer im Kreis der globalen Mächte eine Ordnung, zumindest ein Krisenmanagement schaffen, das Raum lässt für den Übergang in die offensichtlich anstehende nächste Phase kultureller Evolution?

 
Der Wunsch nach Frieden sagt, ja. Beispiele aus der zertrümmerten Gesellschaft im Osten der Ukraine lassen solche Hoffnungen, allem Chaos und Hass zum Trotz, auch durchaus zu. Sie zeigen Menschen, die sich gegenseitig beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser, beim Bergen von Verwundeten, auch beim Verteidigen ihrer Dörfer helfen; sie weinen, stöhnen und klagen. Aber sie helfen einander. Die Brutalität der Übergriffe treibt elementare Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe hervor.
 
Genereller gesagt, wo die Modernisierung nicht ihre glänzende, sondern ihre menschenfeindliche Fratze zeigt, treten traditionelle Solidarstrukturen wieder hervor – nicht nur in den aufgewühlten Gebieten der Ukraine. Auch im benachbarten Russland, aus dem die Menschen aufbrechen, um ihren Verwandten, ihren Nachbarn, den ihnen kulturell Nahestehenden zu helfen. Flüchtlinge aus der Ukraine werden mit offenen Armen aufgenommen.
 
Auch international engagieren sich Menschen, die sich durch die Vorgänge in der Ukraine in ihren eigenen Lebensvorstellungen angegriffen sehen. Sie protestieren gegen die Kriegstreiberei in ihren Ländern oder treten als Freiwillige zur Unterstützung der Menschen in der Ukraine mit an, und das nicht nur im Osten. Erinnerungen an den spanischen Bürgerkrieg steigen aus dem kollektiven Unterbewusstsein herauf, auch wenn klar ist, dass sich Geschichte nicht einfach wiederholt. Donezk und Lugansk sind keine Räterepubliken, und Kiew ist trotz bedrohlicher faschistischer Tendenzen, die aus dem nationalistischen Wahn hervortreten, kein Franco-Regime.
 
Ist es möglich, der sich wie giftige Gase ausbreitenden Propaganda mit Tatsachen zu begegnen? Ja, kann man wohl, aber nur, wenn man sich nicht weiter einlullen lässt. Nur, wenn man begreift, und nachdem man es begriffen hat, es auch mit Fakten beweist, dass und wie der menschenrechtliche Kokon, in dem Europa, genauer die Europäische Union, noch genauer, Deutschland in einem geradezu somnambulen Zustand schläft, zurzeit von innen heraus vergiftet wird, sich zersetzt. Der Propaganda entgegenwirken kann man, wenn man begreift und zeigt, dass und wie sich die Kultur der Menschenrechte vor unseren Augen in einen aggressiven Chauvinismus verwandelt, dessen Vertreter und Vertreterinnen anderen Menschen diktieren wollen, wie sie zu leben haben.
 
In der Ukraine kann man stellvertretend erkennen, vorausgesetzt man schaut genau hin, zu welchen Perversitäten es führt, wenn anderen Menschen, wenn Minderheiten, wenn einem, ganzen Staat Frieden, Demokratie und Menschenwürde durch ausländische Intervention, mit Hilfe faschistischer Banden und mit brutalem Bürgerkrieg aufgezwungen werden sollen.
 
Aber wie kann man das alles vermitteln? Ganz sicher nicht, indem man wie ein Kaninchen auf die Schlange so nur auf das gerade ablaufende Tagesgeschehen und die dazu abgegebenen vordergründigen Kommentare und die ideologische Verhüllungspropaganda starrt, ja, es wird nicht einmal reichen, den täglichen Lügen die täglichen Tatsachen entgegen zu stellen. Im dichten Nebel verbreiten auch Nebelscheinwerfer kein Tageslicht, sie machen nur den Nebel noch stärker sichtbar. Es kommt darauf an, bis zu den Ursachen der Ereignisse, bis zu den langfristigen Zielen und Methoden der Akteure vorzudringen, um die Absichten hinter den Ereignissen erkennbar zu machen: Wir wissen doch, wie der erste Weltkrieg begann, wie er sich in den zweiten hinein fortsetzte: Konkurrenz auf drei miteinander verbundenen Ebenen: wirtschaftlich/sozial, national, machtpolitisch/global. Und hinter allem die Dynamik, die Gesetze der expansiven kapitalistischen Produktionsweise, für die die Welt zu eng wurde. Krieg war die Lösung.
 
Und also? Wo stehen wir heute? Wenn wir diesen Nebel nicht durchstoßen, wenn wir nicht Alternativen zu den herrschenden profitorientierten Produktionsweisen finden, wird es keine friedliche Lösung der aufgebauten Spannungen geben, sondern nur eine – wie auch immer im Konkreten – Lösung durch Krieg.
 
Den Ernst dieser Situation aus dem Kokon heraus wahrzunehmen, in dem wir hier in Mitteleuropa, speziell in Deutschland leben, ist äußerst schwierig. Sind wir doch alle eingehüllt in diese menschenrechtliche Wolke, die viele – das kann kein Vorwurf an diejenigen sein, die es nicht anders erlebt haben – für quasi naturgegeben halten, ohne deren Verwandlung in autoritäre Selbstgerechtigkeit zu bemerken. Wir werden aber wohl begreifen müssen, dass die Wolke eben nur eine Wolke war, noch keineswegs eine dauerhafte Realität einer zukünftig denkbaren und auch wünschenswerten Gesellschaft der Menschenwürde und erst recht in keiner Weise repräsentativ für die übrige Welt.
 
Zurzeit erleben wir, wie sich diese Wolke unter dem Druck der heute herrschenden Kräfte, die sich durch neue Entwicklungen in Frage gestellt sehen, immer schneller aufzulösen beginnt – und hervor tritt die Tatsache, dass die Fragen, die im ersten und auch im zweiten Weltkrieg nicht entschieden wurden, bis heute noch nicht entschieden sind, nämlich: wie Krisen der kapitalistischen Produktionsweise, konkret jetzt die heutige für den Kapitalismus existenziellste Krise, anders als durch Krieg gelöst werden können.
 
Der Krieg ist die großzügigste und wirkungsvollste ‘Reinigungskrise zur Beseitigung der Überinvestition’, die es gibt.
 
Er eröffnet gewaltige Möglichkeiten neuer zusätzlicher Kapitalinvestitionen und sorgt für gründlichen Verbrauch und Verschleiß der angesammelten Vorräte an Waren und Kapitalien, wesentlich rascher und durchgreifender, als es in den gewöhnlichen Depressionsperioden auch bei stärkster künstlicher Nachhilfe möglich ist.
 
So ist der Krieg das beste Mittel, um die endgültige Katastrophe des ganzen kapitalistischen Wirtschaftssystems immer wieder hinauszuschieben.
 
Gegenwärtig erleben wir, wie sich die großen Player für die Auseinandersetzung in Position bringen, insofern sich das Kapital, obwohl globalisiert organisiert, politisch immer noch in nationalen Formen bewegt, was zugleich ein akuter Grund für die Krise ist. Einfach gesagt, versuchen die von den USA dominierten Monopole Eurasien zu fragmentieren, nachdem sie es nicht geschafft haben, es zu kontrollieren. Die Fragmentierung der Ukraine ist nur der Anfang; das Ziel ist weiter gesteckt, auf Fragmentierung Russlands gerichtet. Aber wer Russland fragmentieren will, nimmt in Kauf Eurasien zu fragmentieren. Und wer Eurasien fragmentiert, fragmentiert die Welt.
 
(Diese Sätze sind – viele werden es schon bemerkt haben – ein umgestülpter Zbigniew Brzeziński. Seine Bücher sind nach wie vor aktuell, auch wenn einschlägige Ideologen versuchen, sie zu verharmlosen, indem sie den Autor als „alten Mann“ aus dem letzten Jahrhundert hinstellen. Tatsache ist, dass Brzeziński die aktuelle Strategie der Verhinderung von Rivalen, die gegen die USA antreten, am klarsten und unumwundensten dargestellt hat, so klar, dass man glatt geneigt sein könnte, solche Offenheit zum Beweis für die Lebendigkeit amerikanischer Demokratie zu nehmen. Was für eine irreführende Paradoxie!)
  
Was die skizzierte heutige Lage bedeutet, dürfte klar sein. Es bedeutet, dass wir als Menschheit vor einer Umwandlung der kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweise weltweit stehen. Das schaffen wir nur, wenn wir Alternativen entwickeln, die über die gegenwärtigen Formen des Wirtschaftens und der damit verbundenen sozialen Ordnung hinausweisen, sprich: Aufhebung der Lohnarbeitsgesellschaft, Übergang in eine Gesellschaft der Teilhabe, kooperative Teilungsverträge statt Lohnverträge, Auflösung des gegenwärtigen Nationalstaats in eine gegliederte Wechselwirkung von Wirtschaft, Staat und Kultur. Für eine solche Entwicklung gibt es selbstverständlich keine Patentrezepte; das ist ein Weg von Versuch und Irrtum wie es in der zurückliegenden Entwicklung auf dem Weg zum Kapitalismus nicht anders war.
 
Schlicht gesagt, es stellt sich die Frage, was eher in Wirksamkeit kommt – Schritte in Richtung von Alternativen oder die Verdichtung der jetzigen Krise zum globalen Zusammenbruch. Und ebenso schlicht geantwortet, heißt das: Da diese Frage per Hochrechnung nicht zu beantworten ist, bleibt uns nur, hier und jetzt, solange wir es können, nach Alternativen zu suchen und sie auszuprobieren – und dabei den Großen Crash so weit einzuhegen wie irgend möglich.
 
Wir sehen aber, liebe Freunde und Freundinnen, dass es zurzeit Kräfte gibt, die einen anderen Weg gehen wollen, die versuchen, ihre Herrschaft über die Verhältnisse, wie sie jetzt sind, mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten. Sie versuchen es mit Indoktrination und Manipulation, solange es geht, aber sie zeigen auch, dass sie bereit sind militärisch und unter Einsatz faschistischer Kräfte vorzugehen, wenn sie es für nötig halten. Die Ukraine steht stellvertretend dafür.(PK)
 
 
Kai Ehlers, www.kai-ehlers.de hat diesen Beitrag zuerst bei russland.RU veröffentlicht.
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Online-Flyer Nr. 500  vom 04.03.2015



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