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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Globales
Gedanken über die ideologische Mobilmachung der Bundesrepublik
Divide et impera
Von Jens Wernicke

„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche herrschende Gedanken, das heißt die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind.“ – So Karl Marx in einem 1845 geschriebenen aber heute noch aktuellen Manuskript, das man seit 2014 in dem Taschenbuch der Edition Holzinger "Die deutsche Ideologie" von ihm und Friedrich Engels findet.
 
Worüber ist zu sprechen, wenn man über Herrschaft spricht? Zuerst einmal sicher über den Begriff der Herrschaft selbst. Was also ist, was beschreibt und meint sie, die Herrschaft? Nach Max Weber vor allem die „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ Gemeint ist mit diesem Begriff also nicht nur die mittels direkter Gewaltandrohung erzwungene Unterwerfung von Menschen unter fremde Interessen und Mächte. Gemeint ist vielmehr jede, ein Gefälle von Oben und Unten, von Macht und Ohnmacht, von Ausbeutung und Ausnutzung organisierende und legitimierende gesellschaftliche wie individuelle Operation.
Aktuell mag sich die Herrschaftsform, nach der unsere Gesellschaft organisiert ist, zwar zu Recht als parlamentarische Demokratie bezeichnen, es ist damit jedoch nicht gesagt, dass Herrschaft und Machtstrukturen als solche nicht existent und wirksam sind. Herrschaft hat sich vielmehr modernisiert und geht heutzutage mit größerer Legitimation bei den Beherrschten einher und organisiert sich dabei bis in die Individuen und ihr Handeln hinein, das diese sodann als ihre „freie Entscheidung“ erleben.
 
Erich Fromm - Vom Haben zum Sein:
 
„Was weiß ich schon von mir, wenn ich nicht weiß, dass das Bild, das ich von mir selbst habe, zum größten Teil ein künstliches Produkt ist und dass die meisten Menschen – ich schließe mich nicht aus – lügen, ohne es zu wissen? Was weiß ich, solange ich nicht weiß, dass „Verteidigung“ Krieg bedeutet, „Pflicht“ Unterwerfung, „Tugend“ Gehorsam und „Sünde“ Ungehorsam? Was weiß ich, solange ich nicht weiß, dass die Vorstellung, dass Eltern ihre Kinder instinktiv lieben, ein Mythos ist? Dass Ruhm nur selten auf bewundernswerte menschliche Qualitäten und häufig nicht auf echte Leistungen gründet? Dass die Geschichtsschreibung verzerrt ist, weil sie von den Siegern geschrieben wird? Dass betonte Bescheidenheit nicht unbedingt ein Beweis für fehlende Eitelkeit ist? Dass Liebe das Gegenteil von heftiger Sehnsucht und Gier ist? Was weiß ich schon von mir, wenn ich nicht weiß, dass jeder versucht, schlechte Absichten und Handlungen zu rationalisieren, um sie edel und wohltätig erscheinen zu lassen? Dass das Streben nach Macht bedeutet, Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe mit Füßen zu treten? Dass die heutige Industrie-Gesellschaft vom Prinzip der Selbstsucht, des Habens und des Konsumierens bestimmt ist und nicht von den Prinzipien der Liebe und Achtung vor dem Leben, die sie predigt? Wenn ich nicht fähig bin, die unbewussten Aspekte der Gesellschaft, in der ich lebe, zu analysieren, kann ich nicht wissen, wer ich bin, weil ich nicht weiß, in welcher Hinsicht ich nicht ich bin.“
 
Herrschaft überall
 
In diesem Sinne ist unsere ganze Gesellschaft von teils sichtbaren, überwiegend jedoch subtil-unsichtbaren Formen von Herrschaft durchzogen: Frauen arbeiten in schlecht bezahlten „Frauenberufen“ und Männer machen „Karriere“ (Sexismus, Patriarchat); Weiße beuten Nicht-Weiße und der globale Norden beutet den globalen Süden aus (Rassismus, Nationalismus, Kolonialismus); die westliche Welt führt Kriege gegen vor allem gegen die armen und ressourcenreichen Länder der Welt, deklariert dies jedoch als zivilisatorische Notwendigkeit und mit dem Label „Für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte“ (Kulturalismus, Militarismus etc.); Kinder werden durch ihre Eltern und die Lehranstalten eines Landes mehr zu Anpassung und Unterwerfung „erzogen“ und verbogen denn zu Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung ermutigt und geführt (narzisstischer Missbrauch etc.); vermeintlich Gesunde bestimmen über vermeintlich Kranke und vermeintlich „Normale“ über vermeintlich „Behinderte“ (Handicapismus) und Vermögende besitzen die Produktionsmittel, entscheiden, wieviel Lohn gezahlt wird und wer Arbeit hat, während Arme nur über ihre Arbeitskraft verfügen und dieser „Unterdrückung“ durch die Macht andere sowie die herrschenden Verhältnisse weit überwiegend schutzlos ausgeliefert sind (Klassismus, Kapitalismus).
 
Damit will ich sagen: Wir sind alle Täter und Opfer zugleich – wo wir in den sozialen Verhältnissen, die uns umgeben, zu leben und überleben versuchen, , sind geprägt und umgeben von nationalistischen und rassistischen Strukturen und verwickelt in Kämpfe um den Erhalt oder Ausbau der durch eigenes Handeln nur minder zu beeinflussenden sozialen Position. Das sind wir allerdings nicht alle in gleichem Maße: Ab einer gewissen sozioökonomischen Position sind Diskriminierungen und Benachteiligungen qua Geschlecht, Krankheit, Alters, kultureller und geografischer Herkunft und Tradition usw. usf. kompensierbar und also von nicht mehr gar so ausschlaggebender Relevanz.
 
Über allem: Die Herrschaft des Kapitals
 
Relevant für die Frage, wer über wen existentiell herrscht, ist ab diesem Punkt daher vor allem eines, nämlich die Frage der Klassenzugehörigkeit: Was nutzen einem schließlich die weitgehendsten demokratischen Rechte, wenn sich die Produktionsmittel nach wie vor in den Händen einiger weniger befinden und die einzige Möglichkeit, die Ressourcen für den eigenen Lebenserhalt zu erwerben, im Verkauf der eigenen Arbeitskraft besteht. Jeder, der in schon einmal mit der existenziellen Bedrohung durch Arbeitslosigkeit konfrontiert war, vermag die Totalität dieser Herrschaft deutlich zu ermessen: Man kann zehnmal sozial orientierte Parteien wählen, wenn man einen Job will, muss man sich den Bedingungen „des Marktes“, seinen Preisen und Zumutungen, seiner Konkurrenz und Unkontrollierbarkeit unterwerfen.
 
Gegenüber als Herrschende und Beherrschte stehen sich in diesem Sinne vor allem die inzwischen zur Redewendung gewordenen „99 Prozent“ der Menschheit und das „andere 1 Prozent“, also jene, die über große Teile des Weltvermögens und der globalen Produktionsmittel verfügen – und all die anderen, deren materielle Verfügungsgewalt bei der Verfügung über die eigene Arbeitskraft bereits mehr oder minder beendet ist.
Wenn eine Handvoll internationaler Konzerne die weltweite Nahrungsmittelindustrie beherrscht und entscheidet, was wir im Supermarkt zu kaufen vermögen, und wenn 147 internationale Konzerne die gesamte Weltwirtschaft kontrollieren(1), lässt sich erkennen, dass deren, sowie der Einfluss ihrer jeweiligen Eigner auf die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, weltweit entscheidender ist als der von demokratisch legitimierter Parlamente und Regierungen . Das brachte auch Warren Buffet, der drittreichste Mensch der Welt, auf den Punkt, als er unlängst feststellte: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.”
Wenn dem aber so ist: Wieso wehren sich die 99 Prozent kaum je? Welche Techniken wendet Herrschaft an, um sich gegen Kritik zu immunisieren und vor Angriffen zu schützen? Nun, aktuell dürften dies vor allem die Techniken der Propaganda, der indirekten Steuerung vermittels Angst sowie der strategischen Einbindung sein.
 
Herrschaft und Propaganda
 
Dass den Medien in bürgerlichen Demokratien vor allem die Aufgabe der „Gedankenkontrolle“ zukommt, hat Noam Chomsky, der meistzitierte Intellektuelle der Welt, in etlichen brillanten Büchern(2) thematisiert und belegt. Sehr deutlich wird dies beim Thema Krieg. Da wurden während der ersten US-Invasion die Lügen der US-Zeugin vor der UN, irakische Soldaten hätten in Kuwait Babys aus den Brutkästen geholt, um sie zu töten, ebenso verbreitet, wie später die Mär von Konzentrationslagern und dem so genannten „Hufeisenplan“ während des Kosovo-Konfliktes in Jugoslawien. Sowie Jahre später die vermeintlichen irakische Massenvernichtungswaffen(3) als Legitimation für den Angriff der USA auf den Irak.
 
Die Wirkung dieser Informationspolitik wurde dabei noch bekräftigt durch die scheinbare publizistische Vielfalt der täglichen Desinformation. Die Journalistinnen und Journalisten fungierten dabei in der Propagandamaschinerie nicht etwa als die "Fälscher" von Nachrichten, sondern erscheinen vielmehr als objektive Berichterstatter. Die Prüfung auf den Wahrheitsgehalt von Meldungen, ein im deutschen Pressekodex von 1996 verankerter Grundsatz, wird aber regelmäßig unterlassen zu Gunsten eines diskursiven Opportunismus. Protestaktionen, Demonstrationen und Stellungnahmen von Kriegsgegner fanden und finden keinerlei Niederschlag in den Medien, es wurde vielmehr der Abgesang der Friedensbewegung attestiert. Dass derlei gelenkte Information jedoch nicht nur in Kriegszeiten als Problem zu attestieren ist, beweisen die Medien seit einigen Jahren mehr und mehr, wird dies mehr und mehr evident: Fast alle Kampagnen zur Privatisierung der öffentlichen Daseinsfürsorge wurden von den Leitmedien aufgegriffen, verstärkt und multipliziert ; Politik, die einen Ausbau des kaum mehr vorhandenen Sozialstaates forciert, wurde dämonisiert und das stete „Wir müssen den Gürtel enger schnallen“ immer mehr zum bestimmenden Leitsatz der Meinungsmacher. Den Unternehmen geht es schlecht, die Milliardäre sind arm, die Armen hingegen unverschämt oder spätrömisch-dekadent (Guide Westerwelle) – so lauten die Kernbotschaften in der medialen Realität.
 
Die Millionen Menschen in Armut und Angst, die prekären und ausgegrenzten Bürgerinnen und Bürger, das alles wird , wenn überhaupt, nur noch gefiltert durch die Brille der inzwischen vorherrschenden neoliberalen Ideologie in den Mainstream-Medien thematisiert.
Und diese Brille bedeutet mindestens, stets darauf zu insistieren, es gäbe immensen Sozialmissbrauch, Hartz-IV-Empfänger wollten ja oft gar nicht arbeiten und gegen die Betroffenen selbst, sie hätten einfach mannigfache, in ihrer Person liegende „Vermittlungshemmnisse“, seien also an ihrer Situation vor allem eines: selbst schuld. Wie und warum das funktioniert, warum die Pressefreiheit im Kapitalismus vor allem Synonym für die Freiheit einiger weniger Eigentümer, ihre Ideologie zu verbreiten, ist, hat Noam Chomsky in seinem „Propagandamodell“ skizziert. Die wichtigsten Komponenten dieses Nachrichtenfilter-Sets sind:
 
1.         die Größe der wichtigsten Mediengesellschaften, ihre Konzentration, das Vermögen ihrer Eigentümer sowie ihre Gewinnorientierung, die Werbung als Haupteinnahmequelle der Massenmedien,
2.         die Abhängigkeit der Medien von den Informationen, die ihnen von der Regierung, der Wirtschaft und den von den Machtzentren alimentierten und approbierten „Experten“ geliefert werden (auch Beeinflussung durch professionelle PR, Spin-Doktoren, Lobbyisten etc.),
3.         „kritisches Sperrfeuer“ (also Angriffe auf die Seriosität, das Image, die Glaubwürdigkeit der Medien; Anrufe von obersten Stellen; Beschwerde- sowie Boykottkampagnen etc. pp.) als Mittel zur Disziplinierung der Medien,
4.         der „Antikommunismus“ (bspw. USA) bzw. jede andere vorherrschende Ideologie als nationale Religion und Kontrollmechanismus.
Diese Komponenten wirken zusammen und verstärken sich gegenseitig. Das primäre Nachrichtenmaterial muss eine Folge von Filtern durchlaufen, bis der gesäuberte, für druckbar erachtete Rest übrig bleibt. Es sind diese Komponenten, die die Grundsätze für Diskurs und Interpretation festlegen und die definieren, was überhaupt einen Neuigkeitswert besitzen soll. Aus ihnen erklären sich auch die Gründe und die Abläufe regelrechter Propagandafeldzüge.
 
Herrschaft und Angst
 
Geherrscht wird aber auch und vor allem mittels Angst. Da gibt es aktuell vor allem zwei wesentliche Aspekte, die zu benennen sind. Das ist zum einen die Angst vor sozialem Abstieg, vor Armut und Jobverlust, jene vor sozialer Ausgrenzung und kultureller Exklusion. Diese wird vor allem mittels der Etablierung eines der „der besten Niedriglohnsektoren (…), den es in Europa gibt“ (Gerhard Schröder) sowie der damit verbundenen Ideologie („Sozialschmarotzer“, „selbst Schuld“, „Vermittlungshemmnisse“) produziert. Während die Armut im Land regelrecht explodiert, wird in den Medien  überwiegend vermittelt, die Betroffenen mühten sich nur nicht genug, lägen anderen auf der Tasche, sollten sich schämen und nicht unverschämt sein, es gäbe ein „Jobwunder“ und einen „Fachkräftemangel“, der in die Millionen gehe. Doch ist die Zahl derjenigen, die trotz Arbeit in Armut leben, so hoch wie niemals zuvor. Faktisch können inzwischen 13 Millionen Menschen in Deutschland ihren Lebensunterhalt kaum finanzieren. 
 
Die andere Säule der hierbei praktizierte „Strategie der Angstmache“ ist die, der Produktion von Feindbildern, die mit jener der sozialen Spaltung Hand in Hand geht. Seit inzwischen mehr als einem Jahrzehnt, spätestens seit 9/11, wird uns „der Islam“ als Bedrohung für „unsere Zivilisation“ verkauft; zahlreiche Titelseiten von Illustrierten titelten immer wieder mit rassistischen Aufmachern, die Männer mit Bärten und Frauen mit Kopftüchern als Bedrohung für unser aller Leben, unsere „westlichen Werte“ inszenierten. Und der Sozialdemokrat Thilo Sarrazin erhielt nicht nur von vorn herein eine schier undenkbare Auflage für seine rassistischen und sozial-eugenischen Thesen über die Unterwanderung des deutschen Sozialstaates durch lernunfähige, genetisch determiniert dumme und faule Muslime. Er erhielt auch eine, durch die Leitmedien massiv befeuerte mediale Aufmerksamkeit, die man jedem linken Diskurs etwa zu Friedenspolitik oder Sozialstaatlichkeit nur wünsche kann.
 

Einige Beispiele für die Hetze und Polarisierung dieses pseudo-religiösen Konfliktes durch deutsche Medien und Politik.
 
PEGIDA fiel nicht vom Himmel. Teile der Eliten und Medien arbeiten seit einigen Jahren gezielt auf die Anstachelung von religiösen Konflikten in unserer Gesellschaft hin. Der “Kampf der Kulturen” ist von oben gewollt! “Teile und Herrsche”: das ist deren Devise in Zeiten der Krise, wo immer Menschen beginnen das bestehende System infrage zu stellen.
 
Eine Art offizieller Auftakt zur weltweiten Islamphobie waren dabei 1990 die Rede und der Aufsatz von Bernard Lewis „The Muslim Rage“, deren Thesen sein Freund und Kollege Samuel Huntington später noch in Buchform unter dem Titel „Kampfes der Kulturen“(4) zur weltweiten Verbreitung verhalf. Dass dies kein zufälliger Zeitpunkt war, wird deutlich, sobald man realisiert, dass nach dem Wegfall des Ost-West-Konflikts in den 1990er Jahren das Feindbild Islam inzwischen das des Kommunismus fast vollständig abgelöst hat. Und zwar mit geopolitischem Impetus, wie beispielsweise Daniele Ganser dies in mehreren Artikeln mit Blick auf Ressourcen und Ressourcenwege beschreibt.
 
Dass auch dies nicht ohne Steuerung durch die Mächtigen geschehen ist, machen Untersuchungen des Center for American Progress(5) deutlich, welches die Finanzierung US-amerikanischer Think Tanks untersucht und am Beispiel des in Bezug auf die Nahostpolitik einflussreichen „Middle East Forum“ eines Daniel Pipes nachgewiesen hat: Das Interesse am Nahen Osten ob seiner geostrategischen Bedeutung auf der einen und das Feindbild Islam auf der anderen Seite, müssen als zusammengehörend gedacht und verstanden werden, denn die rassistischen Bilder und Stereotypen, die hier erzeugt und anderen als Grundlage ihrer politischen Praxis angedient werden, sind deutlich einseitig und von ganz bestimmten Kreisen finanziert. Richard Pipes, der Vater von Daniel, war einst übrigens als Direktor des Zentrums für Russische Studien, das während des Kalten Krieges die strategischen Ziele und Kapazitäten der Sowjetunion für die CIA analysierte und hierbei für den US-amerikanischen Antikommunismus sowie das Feindbild Russland zuständig war, tätig. Nun ist sein Sohn dies offenbar für das Feindbild Islam. Die Bilder wechseln also, die Strategien jedoch bleiben gleich.
 
Diese sozusagen gemachte Angst vor Terror auf der einen und Armut auf der anderen Seite, die es uns zunehmend unmöglich macht, im anderen noch unseren Bruder zu sehen, sondern diesen nur als „Terroristen“ (der Moslem) oder „faulen Schmarotzer“ (der Arme), der sein Schicksal selbstverschuldet verdient, ist dabei sicher eines der wirksamsten Mittel zu gesellschaftlicher, wie politischer Spaltung. Die medial produzierte Angst wird hierdurch zu einem wesentlichen Mittel zur Schwächung von Widerstand gegen Armut und Unterdrückung. Dass auch Staat und Politik hierbei eine nicht unmaßgebliche Rolle zuteilwird, haben Wolfgang Frindte und Nicole Haußecker in der sehr aufwändigen Untersuchung „Inszenierter Terrorismus“ (6) nachgewiesen. Die beständige Veröffentlichung von Terrorwarnungen seit 9/11 hat nachweislich nicht etwa die Angst vor Terror, sondern jene vor Muslimen geschürt, was das offenbar beabsichtigte antimuslimische Ressentiment immer weiter ausbaut und verschärft. Zudem aber auch zu einer Diskursverschiebung geführt hat, als deren Wirkung eine Neudefinition der globalen Armen als „Terroristen“ zu konstatieren ist(7) . Eine ideologische Manifestation des globalen Klassenkampfes von oben, der völkerrechtswidrige Kriege, Bombardements und Massenmorde, den Bevölkerungen der Länder des Nordens als „Verteidigung der eigenen Zivilisation“, andient und verkauft.
 
Herrschaft und strategische Einbindung
 
In diesem „Klima der Angst“ haben sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in den letzten Jahren deutlich verschoben: Die neoliberalen „Denkgifte“(8) und der verordnete antimuslimische Rassismus haben sich in den Köpfen und Herzen der Menschen verfangen und zeitigen ihre Wirkung inzwischen nicht zuletzt in Bezug auf notwendige politische Aktion. So sind, während die Armut um Land weiter zunimmt und die Außenpolitik sich mehr und mehr militarisiert, aktuell vor allem zwei soziale Bewegungen „von unten“ auszumachen, die beide umgehend auf eine „Strategie der Einbindung“ bzw. - wo dies nicht möglich war - der Dämonisierung und Diskreditierung von oben gestoßen sind.
Da ist zum einen die verjüngte und modernisierte Friedensbewegung, die unter dem Label „Friedenswinter“ zu landesweiten Demonstrationen aufruft; und da ist zum anderen die PEGIDA-Bewegung. Erstere wurde in den letzten Wochen und Monaten dank einer massiven medialen Kampagne, die insbesondere über die Medien mit progressivem Image gespielt wurde, öffentlich fast vollständig diskreditiert. Offenbar waren die Analysen und hieraus abgeleiteten Forderungen der Friedensbewegten so konträr zu den Interessen der Herrschenden im Land, dass diese als nicht einzubinden mit überwiegend unlautersten Mitteln in Grund und Boden geschrieben worden ist(9):
 
Aus der Forderung nach der Einhaltung des Völkerrechts überall auf der Welt, explizit auch hinsichtlich des Palästinakonfliktes, wurde das Stigma des Antisemitismus konstruiert. Aus der Bereitschaft, auch jenseits linker Kreise offen für politisch unerfahrene Menschen zu sein, wurde das Stigma der Querfront konstruiert und die Bewegung somit in die Nähe von Nationalsozialismus und Faschismus gestellt. Aus der Analyse, die NATO sei eine immense Bedrohung für den Frieden in der Welt wurden die Stigmata des Nationalismus und Antiamerikanismus konstruiert. Und aus der wissenschaftlich längst belegten Feststellung, Politik und Medien im Land seien von Elitennetzwerken durchzogen, die hier gezielt eigenes Agenda-Setting betrieben(10) , wurde das Stigma der Verschwörungstheoretiker konstruiert. „Die sogenannte Friedensbewegung eint die Ablehnung der liberalen Gesellschaft“; sie fände ihren Nachwuchs unter „Rechtspopulisten, Nationalisten, Verschwörungstheoretikern und Antisemiten“, titelte bspw. am 12. Dezember 2014 die vermeintlich links-liberale Frankfurter Rundschau – und trieb damit den denkbar größten Keil in die politisch progressiven gesellschaftlichen Kreise im Land – die ihrer eigenen politischen Wirkmacht nun zunehmen abschwören und nicht aktiv werden, da sie keinesfalls mit „derlei“ in Verbindung gebracht werden und für „derlei“ mitverantwortlich sein wollen. 
 
Ähnlich und dennoch anders wird mit der Protestbewegung PEGIDA in Dresden, die teilweise bis zu 20.000 Menschen mobilisierte, verfahren: In den Medien fast ausschließlich thematisiert wird der offen sichtbare antimuslimische Rassismus vieler Teilnehmer. Nicht thematisiert hingegen werden all jene Äußerungen, in denen es heißt, man würde doch seit Jahr und Tag von den Politikern belogen und betrogen, die Rente sei zu klein, man wisse nicht mehr ein noch aus, wenn es „dem eigenen Volk“ so schlecht gehe, wieso dann noch Geld für Migranten da sei usw. usf. PEGIDA wird hier politisch instrumentalisiert: Den über Jahre herbeigeschriebenen und zur Herrschaftsabsicherung verwandten Rassismus thematisiert man, hier ist man „gesprächsbereit“, gegebenenfalls sogar willens, noch härtere Asyl- und Einwanderungsgesetze zu verabschieden; die soziale Not hingegen, für welche dieser Rassismus nur Katalysator ist und wohl auch sein soll, thematisiert man nicht.
 
Herbert Schui bringt es in einem der wenigen geistreichen Kommentare(11) zu diesem Phänomen auf folgenden Punkt:
„Die Politiker sind etwas ratlos. Wie sollen sie mit den Pegida-Demonstrationen umgehen? Die Organisatoren der Proteste sind identifiziert: Politik und Medien ordnen sie den Rechtsradikalen zu. Vermieden wird aber durchweg, dasselbe für die Demonstranten zu behaupten. Dies aus zwei Gründen: Die Behauptung müsste schlüssig nachgewiesen werden. Mit der Vermutung ist es nicht getan. Überdies ist es offenbar für die Parteien taktisch nicht klug, die Teilnehmer an den Demonstrationen zu verdächtigen, rechtsradikal, rassistisch, fremdenfeindlich zu sein. Umfragen nämlich zeigen, dass 30 Prozent der Deutschen „voll und ganz“ Verständnis haben für die Demonstrationen und 19 Prozent „eher“ Verständnis. Zusammen ist es also fast die Hälfte. Werden die Demonstranten zu hart angefasst, so offenbar die Sorge, verdirbt man es sich mit einem großen Teil der Bevölkerung. (…) Die Mehrheit der Demonstranten wird offenbar wahrgenommen als „die kleinen Leute“ mit diffusen Ängsten, Sorgen und Nöten. Pädagogischer Umgang mit ihnen soll helfen. Man verspricht, sie ernst zu nehmen. Dieses Herangehen kritisiert der Politologe Werner J. Patzelt: ‚Was als Fremdenfeindlichkeit daherkommt, entpuppt sich als sozialer Konflikt. Bei ihm steht die auf ihre Bildung und Humanität stolze Oberschicht gegen das einfache Volk, das sich anscheinend lümmelhaft aufführt und deshalb Zurechtweisung und Belehrung seitens der besseren Kreise verdient.‘“
Und genau das ist das Problem bzw. sind die Probleme: Die soziale Lage im Land verschärft sich immer mehr und trifft auf einen Boden, in dem seit vielen Jahren das antimuslimische Ressentiment stark gemacht worden ist. PEGIDA nun als „faschistisch“ oder anderes abzutun (oder gar ausschließlich den hier verbreiteten Rassismus zum Motor parlamentarisch-politischer Aktion zu erklären), wäre nicht nur – wie auch beim Friedenswinter – eine „semantische Enteignung“ der Unteren durch die Oberen. Es forcierte auch und vor allem weiter die gesellschaftliche Spirale aus ideologischer Propaganda, rassistischer Angst und – die Herrschaftsverhältnisse schützender – strategischer Einbindung alles „Verwertbaren“ bei zugleich vollständiger Dämonisierung und Tabuisierung dessen, was aktuell wohl dringender denn je notwendig ist: Radikale Sozial-, Rassismus- und Kapitalismuskritik.
Inzwischen rangiert auch diese hierzulande übrigens bereits unter den Stigmata des Antisemitismus und der Verschwörungstheorie. Keine guten Zeiten also für linke Agitation. Gute hingegen für einen Artikel zum Thema Herrschaftskritik in vermeintlich herrschaftsfreier Zeit.(PK)
 
(1) Artikel im Tages-Anzeiger vom 23.10.2011: „Wenn 147 Konzerne die ganze Wirtschaft kontrollieren“
(2) beispielsweise “Necessary Illusions: Thought Control in Democratic Societies” oder "Manufacturing Consent: The Political Economy of the Mass Media”
(2) vgl. hierzu: Jens Wernicke: „Meinungsmanipulationsstrategien in Frieden und Krieg“ sowie Jörg Becker: „Medien im Krieg - Krieg in den Medien“
(4) Samuel P. Huntington: „Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert“
(5) Center for American Progress: „Fear, Inc.: The Roots of the Islamophobia Network in America“
(6) Wolfgang Frindte und Nicole Haußecker: „Inszenierter Terrorismus: Mediale Konstruktionen und individuelle Interpretationen“
(7) vgl. hierzu den Artikel vom openDemocracy vom 16.12.2014: „Redefining the poor as ‘terrorists’“
(8) vgl. Thomas Gerlach: „Denkgifte. Psychologischer Gehalt neoliberaler Wirtschaftstheorie und gesellschaftspolitischer Diskurse“
(9) vgl. hierzu: Albrecht Müller: „Berichte und Kommentare zur Friedensdemonstration in Berlin waren vorher geschrieben. Deutschlands Medien steigern ihre Unglaubwürdigkeit“ (www.nachdenkseiten.de)
(10) Uwe Krüger: „Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten - eine kritische Netzwerkanalyse“
(11) Herbert Schui: „Die große Aggressionsverschiebung: Über Pegida, diffuse Ängste und die Reaktion der Politik“ auf http://www.hintergrund.de/
 
Jens Wernicke, Jahrgang 1977, studierte an der Bauhaus-Universität Weimar Medien- und Kulturwissenschaften. Inzwischen ist er als bildungspolitischer Referent beim Landesverband Hessen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) tätig und engagiert sich nebenberuflich als Blogger (jensewernicke.wordpress.com) und politischer Journalist (NachDenkSeiten.de).


Online-Flyer Nr. 497  vom 11.02.2015



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