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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Globales
Michail Chodorkowski erwartet ein "blutiges Ende des Putin-Regimes"
Umsturz per Krise
Von Hans Georg

Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise in Russland treibt im Westen die Debatte über einen möglichen Umsturz in Moskau voran. Im Zentrum der Planungen stehen dabei die russischen Mittelschichten; Hintergrund ist, dass der Umsturz in der Ukraine, der als mögliches Modell für einen "Regime Change" auch in Russland gilt, maßgeblich von den Mittelschichten des Landes herbeigeführt wurde. Könne Moskau deren Einkommen und deren Lebensniveau nicht mehr garantieren, könnten sie der Regierung womöglich die Unterstützung entziehen, vermutet eine Expertin von der "European Foundation for Democracy" aus Brüssel.

Michail Chodorkowski stellt "revolutionäre" Schritte in Aussicht
NRhZ-Archiv
 
Allerdings sei keinesfalls klar, ob ein Umsturz ein prowestliches Regime an die Macht bringen werde. Beobachter weisen darauf hin, dass Putin zurzeit nicht nur außergewöhnlich hohe Zustimmungswerte hat, sondern dass außerhalb der Metropolen auch in den Mittelschichten nationalistische, antiwestliche Vorstellungen dominierten. Ein Umsturz biete keine Erfolgsgarantie für den Westen. Der russische Ex-Oligarch Michail Chodorkowski hat vor kurzem "revolutionäre" Schritte in Aussicht gestellt - unter Abkehr von einem Machtwechsel "auf demokratischem, sanftem Weg". Weil der Westen den ökonomischen Druck auf Moskau aber inzwischen so stark erhöht, dass selbst eine Staatspleite nicht mehr völlig ausgeschlossen wird, drohen die Umsturzpläne sich gegen ihre Erfinder zu wenden: Russlands Kollaps träfe europäische Banken, die in Moskau Außenstände in dreistelliger Milliardenhöhe haben, und könnte die Wirtschaft der EU mit in die Krise reißen.
 
Die Mittelschichten als Ansprechpartner
 
Im Zentrum der gegenwärtigen Überlegungen, ob sich ein Umsturz in Russland herbeiführen lässt, stehen die Mittelschichten des Landes. Dass ein Rückgriff auf diese zum Erfolg führen kann, hat zuletzt der Umsturz in der Ukraine bewiesen: Die "Orangene Revolution" Ende 2004 wie auch die Majdan-Proteste im Winter 2013/14 wurden maßgeblich von ihnen getragen, wenngleich jeweils bestimmte Oligarchen-Fraktionen den Machtwechsel unterstützten und Anfang 2014 zusätzlich noch gewalttätige Spektren der extremen Rechten benötigt wurden, um die Regierung aus dem Amt zu jagen. Die aufstrebenden urbanen Mittelschichten sind in Osteuropa allgemein oft in Richtung Westen orientiert, unterstützt beispielsweise durch Kontakte, die sich im Rahmen eines Auslandsstudiums ergeben haben. So konnten allein 2013 beinahe 3.800 Russen mit Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) an deutschen Hochschulen studieren oder forschen. Ihre oft dominierende kulturelle Orientierung in Richtung Westen tut ein Übriges, um die Mittelschichten auch russischer Metropolen zu bevorzugten Ansprechpartnern Berlins zu machen, das seine Beziehungen zu ihnen unter anderem über parteinahe Stiftungen und NGOs intensiviert.
 
Loyalität gegen Wohlstand
 
Unklar scheint zurzeit, wie sich der aktuelle Machtkampf zwischen Russland und dem Westen auf die politischen Präferenzen der russischen Mittelschichten auswirkt. Diese sind vergleichsweise dünn und wurden während der Proteste gegen Putin im Winter 2011/12, die sie wesentlich trugen, auf - je nach Definition - zehn bis 15, maximal 20 Prozent der Bevölkerung geschätzt.[1] Eine im Mai veröffentlichte - umstrittene - Analyse des Soziologischen Instituts an der Russischen Akademie der Wissenschaften bezog erstmals Staatsangestellte wie etwa Lehrer und Sozialarbeiter sowie Arbeiter in Staatsbetrieben in die Berechnung ein, weil deren Einkommen unter Putins Präsidentschaft erhöht worden waren; sie kam damit auf einen Anteil an der Bevölkerung von mehr als 40 Prozent. Die so definierten Mittelschichten seien in ihrer überwiegenden Mehrheit der Regierung gegenüber loyal - jedenfalls solange diese entsprechende Einkommen und damit einen annehmlichen Lebensstandard garantieren könne, hieß es in der Untersuchung. Sei dies aber, etwa wegen einer Wirtschaftskrise, einmal nicht mehr der Fall, dann könnten sich die Mittelschichten rasch gegen die Regierung wenden.[2] Dem stimmen auch westliche Think-Tanks ausdrücklich zu. Könne Moskau nicht mehr liefern, dann würden die Mittelschichten Putin wohl die Unterstützung entziehen, urteilt eine Expertin der Brüsseler "European Foundation for Democracy".[3]
 
Breite Zustimmung zu Putin
 
Inwieweit das in absehbarer Zeit der Fall sein könnte, ist nicht ganz klar. Die Zustimmungswerte in der Bevölkerung für Putin liegen bei mehr als 80 Prozent; ein Teil der relativ wenigen Unzufriedenen fordert zudem keine prowestliche Politik, sondern einen härteren Kurs gegenüber dem Westen. Hinzu kommt, dass die russischen Mittelschichten zurzeit vor allem unter den westlichen Sanktionen leiden [4]; ob sie diese nun Putin ankreiden oder dem Präsidenten zugute halten, dass er die Krim wieder unter russische Kontrolle gebracht hat, ist ungewiss. Barack Obama und Angela Merkel gelten Umfragen zufolge als die unbeliebtesten ausländischen Politiker.[5] Einiges deutet darauf hin, dass bei der Mehrheit der Mittelschichten eine prowestliche Präferenz derzeit keineswegs gesichert ist. Bereits Ende 2013 hatte der Moskauer Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung (Bündnis 90/Die Grünen), Jens Siegert, gewarnt, außerhalb der Metropolen Moskau und Sankt Petersburg teilten die Mittelschichten die liberale Orientierung in Richtung Westen ohnehin kaum; ihre "politischen Vorlieben" seien teilweise von einem "Führer-Kult" geprägt, teilweise "deutlich nationalistischer gefärbt".[6] Auch bei der "European Foundation for Democracy" heißt es, man dürfe nicht ausschließen, dass signifikante Teile der Mittelschichten, sollten sie sich von Putin abwenden, sich gegen die Demokratie wendeten und in einem "extremen russischen Nationalismus" ihr Heil suchten.[7] Der Westen müsse sich intensiv um die Mittelschichten bemühen.
 
Nicht demokratisch
 
Dabei wird die Perspektive eines Umsturzes inzwischen bereits öffentlich thematisiert. Anfang Dezember hat der ehemalige russische Oligarch Michail Chodorkowski, der Ende 2013 auch dank deutscher Vermittlung aus der Haft entlassen wurde, erklärt, er erwarte "mehr oder weniger" ein "blutiges Ende des Putin-Regimes". "Ein demokratisches Modell", mit dem Putin als Präsident abgelöst werden könne, sehe er nicht: "Es braucht 'revolutionäre' Massnahmen."[8] Mit Hilfe einer Übergangsregierung könne der Staat danach umgebaut werden; das "traue ich mir zu, denn ich bin ein Krisenmanager", wird Chodorkowski zitiert. Danach könne es wieder Wahlen geben.
 
Zusammenbruch
 
Düstere Andeutungen hat letzte Woche zudem der prominente russische Wirtschaftswissenschaftler Konstantin Sonin in der deutschen Wochenzeitschrift SPIEGEL geäußert. Er sei "kein Freund von Revolutionen", äußerte er, er könne sich jedoch "substanzielle Verbesserungen mit dem derzeitigen Regime" kaum vorstellen: "Es wird einen Schnitt geben, eine 'nichtstationäre Periode' mit Absturz und einer langsamen Erholung."[9] Es gehe dabei um "eine Krise, den Zusammenbruch von Wirtschaft und Ordnung": "Die Kriminalität wird ansteigen, es kann Zusammenstöße verschiedener Volksgruppen geben". Ein dann an die Macht kommender Staatschef müsse "für Ordnung" sorgen und "den Staat vor dem Zerfall bewahren".
 
Drohender Rückschlag
 
Vor diesem Hintergrund verschärft der Westen seine Wirtschaftssanktionen und erhöht damit den ökonomischen Druck auf Moskau und auf die Mittelschichten, die zum Handeln getrieben werden sollen. Allerdings zeigen sich klare Differenzen zwischen EU und USA. Während Washington eine signifikante Verschärfung anstrebt, hat die EU beschlossen, neue Strafmaßnahmen auf die Krim zu beschränken und ihre Wirksamkeit damit deutlich einzugrenzen. Hintergrund ist, dass Berlin und Brüssel mittlerweile befürchten müssen, von noch exzessiveren Sanktionen selbst hart getroffen zu werden. Ökonomen schließen mittlerweile eine russische Staatspleite nicht mehr aus. Diese jedoch träfe nicht mehr nur deutsche Exporteure, deren Milliardenausfälle sich anderweitig kompensieren [10] oder doch zumindest noch einigermaßen verkraften ließen, sondern auch Großbanken in Deutschland und in anderen EU-Staaten. Zum 30. Juni beliefen sich die russischen Auslandsschulden auf beinahe 173 Milliarden Euro, von denen 128 Milliarden Euro bei europäischen Banken aufgenommen worden waren. Deutschen Banken sei es zwar gelungen, ihre Außenstände in Russland von 15 Milliarden auf 13,3 Milliarden zu drücken; doch beliefen sich die russischen Kredite bei der Deutschen Bank und bei der Commerzbank noch auf jeweils mehr als fünf Milliarden Euro.[11] Die Bank Austria sitze auf Forderungen von 14,2 Milliarden Euro, italienische Banken hätten Außenstände von 21 Milliarden Euro, französische Kreditinstitute verzeichneten 37 Milliarden Euro russische Schulden in ihren Bilanzen. Das Risiko eines fatalen Rückschlags der russischen Krise auf Deutschland und die EU gilt unter Fachleuten als erheblich. Aus diesem Grund hat mittlerweile auch US-Präsident Obama angekündigt, die neuen Sanktionen vorerst wohl nicht in Kraft zu setzen.
 
Mögliche Kurskorrekturen
 
Angesichts der Tatsache, dass die Umsturzbestrebungen die eigene Wirtschaft massiv zu schädigen drohen, wird in Berlin und Brüssel eine Kurskorrektur nicht mehr gänzlich ausgeschlossen. "Niemand hat Interesse daran, dass die russische Wirtschaft in eine tiefe Depression stürzt", hieß es aus dem Umfeld der EU-Kommission. "Wir haben kein Interesse an einer ökonomischen Desintegration Russlands", erklärte der Vorsitzende der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe, Karl-Georg Wellmann (CDU): Bei Bedarf könnten "die Sanktionen ... sehr schnell zurückgefahren werden".[12] Dabei geht es freilich nicht darum, die Wirtschaft Russlands zu retten, sondern die eigenen Staaten vor schweren ökonomischen Schäden zu bewahren.
 
Weitere Informationen zum eskalierenden Konflikt zwischen dem Westen und Russland finden Sie hier: Die freie Welt, Urteil ohne Gericht, Wie im 19. Jahrhundert, Die syrische Kröte, Ein Ring um Russland, "Moskaus Drang nach Westen", Eine Monroe-Doktrin für Osteuropa, Die neue nukleare Eskalationsdynamik, Die geplatzte Pipeline und Die Widersprüche der EU. (PK)
 
[1] S. dazu Deutsch-russische Widersprüche.
[2] Vladimir Ryzhkov: Putin Can't Afford His Middle Class Base. www.themoscowtimes.com 07.07.2014.
[3] Anna Borshchevskaya: What Will Happen To Putin's Approval Ratings Once Russia's Economy Plummets? www.forbes.com 06.11.2014.
[4] Reinhard Lauterbach: Financial Attack. junge Welt 18.12.2014.
[5] Christian Schaudwet: "Germanija" glänzt in Russland nicht mehr. www.noz.de 21.11.2014.
[6] Jens Siegert: Abseits von Moskau - die etwas andere Mittelschicht. Russland-Analysen Nr. 267, 22.11.2013.
[7] Anna Borshchevskaya: What Will Happen To Putin's Approval Ratings Once Russia's Economy Plummets? www.forbes.com 06.11.2014.
[8] "Putin hat sich selber in eine Sackgasse gebracht". www.nzz.ch 05.12.2014.
[9] Wirtschaftskrise in Russland: "Putin wird sich bis zuletzt an die Macht krallen". www.spiegel.de 11.12.2014.
[10] S. dazu Schlagkräftige Verbündete.
[11] Europäische Großbanken zittern um ihr Geld in Russland. www.welt.de 17.12.2014.
[12] Dietmar Neuerer: Deutsche Außenpolitiker bieten Russland Hilfe an. www.handelsblatt.com 17.12.2014.
 
Diesen Artikel haben wir mit Dank von http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59023 übernommen.


Online-Flyer Nr. 491  vom 31.12.2014



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