NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

Fenster schließen

Krieg und Frieden
Stellungnahme eines in Israel lebenden Juden
Warum ich Gregor Gysi zur Rede stellen wollte
Von David Sheen

Am 9. November 2014 sollte sie stattfinden: die Veranstaltung "Russell Tribunal on Palestine – Israels Kriegsverbrechen in Gaza" mit den Journalisten David Sheen (Israel) und Max Blumenthal (USA) in der von Frank Castorf geleiteten Berliner "Volksbühne". Doch dazu kam es nicht. Und am 10. November 2014 sollten die beiden Journalisten über das Thema im Sitzungssaal der Linksfraktion im Bundestag referieren. Auch dazu kam es nicht. Beide Veranstaltungen mussten in anderen Räumen stattfinden. Die Forderung an die Leitung der Volksbühne, den Raum zu verweigern, erging u.a. durch Petra Pau (LINKE) und Volker Beck (GRÜNER). Die Nutzung des Sitzungssaals der Linksfraktion, in den die LINKEN Inge Höger und Annette Groth eingeladen hatten, verweigerte der Fraktionschef der LINKEN, Gregor Gysi. Gegenüber einem dem US-Imperialismus inklusive Israel verbundenen Organ ließ Gysi verlauten: „Die Veranstaltung wird nicht stattfinden.“ Am 13. November 2014 veröffentlichte David Sheen daraufhin einen englischsprachigen Artikel. Hier die deutsche Übersetzung von arbeiterfotografie.com:


Gregor Gysi in einem Flur des Bundestages

In der vergangenen Woche waren die deutschen Medien voller Artikel, die mich und meinen Journalisten-Kollegen Max Blumenthal der Verbreitung von Judenhass bezichtigt haben. Diese haltlosen Anschuldigungen sind nicht nur diffamierend, sondern stellen auch eine echte Bedrohung für mich dar, da ich in Israel lebe, wo Dissidenten als „Zerstörer Israels“ gebrandmarkt werden und oft Ziel von Vergewaltigungsdrohungen und gewaltsamen körperlichen Angriffen werden.

Anti-Rassismus mit Hausverbot im Bundestag bestrafen?

Trotz des eingefädelten Versuchs, unsere Namen zu beschmutzen und zu erreichen, dass unsere Vortragsauftritte in Berlin abgesagt würden, haben wir im Bundestag – dem deutschen Parlament – über die jüngsten Angriffe Israels auf Gaza und die Anstiftung zu rassistischer Gewalt durch israelische Führer ausgesagt. Nachdem wir Zeugnis abgelegt hatten, wollten wir ein führendes Mitglied des deutschen Bundestags zur Rede stellen, das die Verleumdungskampagne gegen uns öffentlich unterstützt hatte. Angesichts dieses Debakels werden Max und ich den Bundestag in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr betreten dürfen.


Video von David Sheen: Gysi, ich fordere eine Entschuldigung von Ihnen

Ich werde das mögliche Hausverbot für den Bundestag in meinem Lebenslauf vielleicht nicht als einen Erfolg anführen, auf den ich besonders stolz wäre, aber ich schäme mich sicher nicht dafür oder für meine Handlungen, die dazu geführt haben. Ich bin einem 66-jährigen Parlamentarier den Büro-Flur entlang bis zu einem mir unbekannten Raum gefolgt, der sich als Toilette herausgestellt hat, und bin nicht zurückgewichen, als er mich in der Türlaibung eingeklemmt hat. Die ganze Zeit habe ich ihn dazu aufgefordert, mit mir den Dialog zu suchen und zu seinen Handlungen der vergangenen Tage Stellung zu nehmen.


Gregor Gysi zu dem durch ihn zwischen Tür und Türrahmen geklemmten David Sheen: „Raus mit Dir!“

Ich verstehe, warum bei einigen Personen, die nichts über die diesem Zwischenfall vorausgegangenen Ereignisse wissen, beim Betrachten meines Videos von der Verfolgung eines 66 Jahre alten, mit einem Anzug bekleideten Mannes, der offensichtlich kein Interesse daran hat, Worte mit mir zu wechseln – ganz gleich in welcher Sprache – Unbehagen aufkommt. Aber wegen meines Rufes, wegen meiner Sicherheit, wegen der Sicherheit meiner Familie, wegen der Sicherheit anderer Jüdinnen und Juden, die es wagen, den grassierenden Rassismus in der israelischen Gesellschaft zu kritisieren, und der anderen, die das Gleiche tun, und wegen der palästinensischen Bevölkerung habe ich mich dazu veranlasst gefühlt, diesen Mann von Angesicht zu Angesicht zur Rede zu stellen, wenn auch nur für einen Moment.

Berichte vom Rassismus, der die israelische Gesellschaft durchdringt


Die Folge der Ereignisse, die zu dieser Konfrontation führte, begann, als Blumenthal und ich von linken deutschen Abgeordneten eingeladen wurden, nach Berlin zu kommen und über die jüngsten israelischen Angriffe auf Gaza und die Anstiftung zu rassistischer Gewalt durch oberste israelische Führer zu sprechen.

Natürlich verstehe ich nur zu gut, dass diese linken Abgeordneten Max und mich nicht deswegen in den Bundestag eingeladen haben, weil wir die einzigen Journalisten in der Welt sind, die über diese Dinge berichten. Viele palästinensische Journalisten haben schon lange umfangreich über diese Themen geschrieben und hätten mindestens genau so kompetent wie wir vortragen können, wenn nicht sogar noch kompetenter. Nein – seien wir ehrlich – Max und ich wurden auch ausgewählt, weil wir Juden sind.

Nicht-jüdische Kritiker Israels werden oft beschuldigt, vom Judenhass motiviert zu sein, unabhängig davon, ob diesen Verunglimpfungen ein Wahrheitsgehalt zugrunde liegt oder nicht. Aber indem sie einen jüdischen Kritiker Israels einladen – oder noch besser einen jüdisch-israelischen Kritiker Israels –, über israelische Verbrechen zu sprechen, hoffen nicht-jüdische Kritiker Israels darauf, sich selbst vor diesen schädlichen Anschuldigungen zu schützen.

Ich glaube nicht, dass alle nicht-jüdischen Kritiker Israels durch Judenhass motiviert sind. Außerdem möchte ich, dass Menschen außerhalb Israels von dem schrecklichen Rassismus wissen, der die israelische Gesellschaft durchdringt, damit wir ihn bekämpfen können – weil wir selbst offensichtlich nicht dazu in der Lage sind, diesen zu beenden. Während ich also nicht mit meinem Jüdischsein oder Israelisein Werbung mache, um Einladungen für Vorträge zu erhalten, werde ich solche Einladungen aber annehmen – auch wenn ich den Verdacht habe, dass sie zum Teil durch Überlegungen hinsichtlich unserer Identität motiviert sind.

Vergiftete Vorwürfe ohne Gegenwehr ertragen?

Aber wozu ich nicht bereit sein werde, ist, als Weichziel für haltlose Antisemitismus-Anschuldigungen zu dienen, wenn opportunistische Politiker um die Gunst der israelischen Regierung und ihrer Unterstützer buhlen. Ebenso wenig bin ich bereit, ein „Juden-Schild“ oder „Israeli-Schild“ zu spielen, um opportunistische PolitikerInnen der LINKEN vor Angriffen zu schützen, die wollen, dass ich öffentlich über Israels Verbrechen in ihrem Heimat-Territorium spreche, aber sich weigern, mich öffentlich zu unterstützen, wenn ich die giftigen Vorwürfe ertragen muss, die sie selbst zu vermeiden gehofft haben.

Am Vorabend meines Fluges nach Deutschland organisierte ein von Sheldon Adelson finanzierter Publizist eine Kampagne, um die Vorträge von Max und mir in Berlin zu verhindern. Der Journalist der Jerusalem Post, Ben Weinthal, brachte die deutschen Abgeordneten Volker Beck und Petra Pau dazu, Max und mich zu denunzieren, indem er behauptete, wir würden mit unserer Arbeit Antisemitismus verbreiten. Der hochrangige linke Abgeordnete Gregor Gysi schloss sich dieser öffentlichen Kampagne an, und verkündete, dass es uns nicht erlaubt wäre, im Bundestag zu sprechen.

Während eine deutsche Zeitung nach der anderen diese widerwärtigen Anschuldigungen aus Weinthals propagandistischem Hetzartikel wiederholte, wartete ich mehrere Tage darauf, dass die Parlamentarierinnen, die uns in den Bundestag eingeladen hatten, Inge Höger und Annette Groth, diese skandalösen Beschimpfungen zurückweisen würden. Ich bat sie wiederholt dringend, eine Pressemitteilung herauszugeben, die mich und Max öffentlich verteidigen würde. Nach mehreren Tagen haben sie schließlich zugestimmt – aber erst, nachdem Max und ich im Bundestag gesprochen hätten. Trotz meiner Vorbehalte trugen Max und ich unsere Referate im Bundestag vor. Aber die versprochene Pressemitteilung wurde danach nicht herausgegeben.


Video von David Sheen mit dem von ihm und Max Blumenthal im Bundestag gehaltenen Vortrag

Diese Umstände ließen mir keine andere Wahl, als meinen Beschuldiger zur Rede zu stellen.

Den Mitbetreiber einer Verleumdungskampagne zur Rede stellen

Am Ende unserer Vorträge rief Max die Zusammengekommenen dazu auf, sich uns anzuschließen und Gregor Gysi zur Rede zu stellen. Und dieser Aufruf fand bei einem großen Teil der Zuhörer Zustimmung. Eine Gruppe von uns ging dann zu seinem Büro und war bereit, mit ihm höflich zu sprechen und ihm die Folgen seines hochmütigen politischen Manövers zu erklären. Er weigerte sich jedoch, aus seinem Büro zu kommen und sich mit uns zu treffen – nicht mal für eine Minute. Als er schließlich heraustrat, ging er an uns zügigen Schrittes vorbei und – nun, Sie haben wahrscheinlich den Rest gesehen – ich folgte ihm und forderte ihn auf, seine Verantwortung für die Konsequenzen zu übernehmen, mit denen ich als Ergebnis seiner Handlungen zu tun haben würde.


Passage aus dem Video von David Sheen aus dem Bundestag, die den starken Beifall für den Vorschlag dokumentiert, zu Gysis Büro zu gehen

Ich habe das Filmmaterial später auf YouTube hochgeladen, damit es eine öffentliche Aufzeichnung des Ereignisses gibt und ich nicht beschuldigt werden konnte für Dinge, die ich nicht getan habe.

Wie ich einem örtlichen Journalisten, der die gesamte Episode gefilmt hatte, erklärte, ging es mir nicht darum, mein lädiertes Ego zu zeigen. Da ich jahrelang den staatlich geförderten israelischen Rassismus aufgedeckt habe – vor allem den gegenüber afrikanischen Flüchtlingen – werde ich als „Zerstörer Israels“ verleumdet und auf den Straßen Tel Avivs körperlich angegriffen. Bei unzähligen Gelegenheiten haben wütende Israelis dazu aufgerufen, mich und meine Familie zu vergewaltigen, zu verstümmeln und zu ermorden. Wenn so etwas geschieht, stehen Durchschnitts-Israelis nur daneben und Polizeibeamte schauen einfach weg. Leider bin ich die Anschuldigungen von Antisemitismus und die Drohungen und Angriffe, die darauf folgen, schon gewöhnt.


Video von Martin Lejeune, das zeigt, wie sich der Versuch, mit Gregor Gysi ins Gespräch zu kommen, entwickelt hat

Es ist verachtenswer, wenn irgendeine Person – insbesondere eine deutsche – einen Kritiker Israels mittels der Unterstellung, Antisemitismus zu verbreiten, verleumdet – besonders wenn diese Person jüdisch oder sogar israelisch ist. Aber im jetzigen Klima, in dem Israelis ihre Jobs verlieren und auf der Straße verprügelt werden, wenn sie es wagen, sich den Angriffen des Militärs auf Gaza, dem Regime rassistischer und religiöser Trennung entgegen zu stellen, ist es ein Aufruf zu körperlichem Angriff, jemanden auf diese Weise zu bezeichnen. Mehr als das: es ist ein verwerflicher Versuch, Widerspruch zu unterdrücken, und palästinensische und andere nicht-jüdische Menschen in den von Israel kontrollierten Gebieten zu ewiger Unterdrückung und ewigem Leid zu verurteilen.

Ich werde nicht schweigen – nicht jetzt – niemals!

Um meiner selbst willen, um meiner Familie willen, um meiner Freunde und um meiner Mitmenschen in Israel und Palästina willen – ich werde nicht schweigen – nicht jetzt – niemals! (PK)


Siehe auch:

Offener Brief an die Unterstützer von Rassismus und Kriegsverbrechen
"Wenn Rechte sich als Linke tarnen"
Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann in NRhZ Nr. 485 vom 19.11.2014
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=21007

Why I confronted Gregor Gysi
Englischsprachiger Originalartikel von David Sheen vom 13.11.2014
http://mondoweiss.net/2014/11/confronted-gregor-gysi

Online-Flyer Nr. 486  vom 26.11.2014



Startseite           nach oben