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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Kommentar
Pro-Palästina-Resolution im britischen Parlament
Angemessener Respekt
Von Uri Avnery

Wenn das britische Parlament eine Resolution zugunsten der israelischen Besetzung des Westjordanlandes angenommen hätte, wäre die Reaktion in unseren Medien die folgende gewesen: „In einer Atmosphäre großer Begeisterung nahm das britische Parlament mit riesiger Mehrheit (274 dafür und nur 12 dagegen) einen pro-israelischen Antrag an … Mehr als die übliche Hälfte der Sitze war besetzt … die Gegner Israels versteckten sich und wagten es nicht, dagegen zu stimmen …“
 

Werbung in London für Pro-Palästina-Resolution im
Parlament
Nur leider stimmte das britische Parlament in dieser Woche über eine pro-palästinen-sische Resolution ab und unsere Medien reagierten fast einstim- mig folgendermaßen: „Der Saal war halb leer … es gab keine Begeisterung … es war eine bedeutungslose Übung … Nur 274 Abgeordnete stimmten für die Resolution, die nicht bindend ist … Viele Abgeordnete waren gar nicht erst erschienen …“
Alle unsere Medien berichteten jedoch lang und breit über das Vorgehen, viele damit in Zusammenhang stehende Artikel erschienen in den Zeitungen. Eine ganz beachtliche Wirkung für einen derartig belanglosen, unwichtigen, unbedeutenden, folgenlosen, trivialen, belanglosen Akt.
Einen Tag zuvor hatten 363 israelische Bürger das britische Parlament dazu aufgerufen, die Resolution anzunehmen, die von der britischen Regierung verlangt, den Staat Palästina anzuerkennen. Zu den Unterzeichneten gehören ein Nobelpreisträger, einige mit dem höchsten israelischen Zivilpreis Ausgezeichnete, zwei ehemalige Minister und vier frühere Abgeordnete in der Knesset (darunter auch ich), Diplomaten und ein General.
Die offizielle Propagandamaschine trat nicht in Aktion. Da bekannt war, dass die Resolution ohnehin angenommen werden würde, versuchte sie, das Ereignis so weit wie möglich herunterzuspielen. Der israelische Botschafter in London war nicht zu erreichen.
 
WAR ES ein belangloses Ereignis? Im streng verfahrensrechtlichen Sinn war es das. Im weiteren Sinne war es weit davon entfernt. Für die israelische Führung ist es die erste in einer Reihe sehr schlechter Nachrichten.
Ein paar Tage zuvor kam eine ähnliche Pressemeldung aus Schweden. Der neugewählte linke Ministerpräsident kündigte an, dass seine Regierung erwäge, den Staat Palästina in naher Zukunft anzuerkennen.
Schweden wurde – ebenso wie Britannien – immer als „pro-israelisches“ Land betrachtet und stimmte in den UN immer treu gegen „anti-israelische“ Resolutionen. Wenn derartig wichtige westliche Nationen ihre Haltung gegenüber der Politik Israels überdenken, was hat das wohl zu bedeuten?
Ein weiterer unerwarteter Schlag kam von Süden. Der ägyptische Diktator Muhammad Abd-al-Fatah al-Sisi nahm der israelischen Führung die Illusion, dass die „gemäßigten“ arabischen Staaten die Reihen von Israels Verbündeten gegen die Palästinenser auffüllen würden. In einer scharfen Rede erinnerte er seinen neugefundenen Seelenfreund Benjamin Netanjahu daran, dass die arabischen Staaten erst dann mit Israel zusammenarbeiten würden, wenn Israel Frieden mit dem palästinensischen Staat geschlossen hätte. 
Damit durchstach er den frisch aufgeblasenen Ballon, den Netanjahu hatte steigen lassen – nämlich die Vorstellung, dass pro-amerikanische arabische Staaten wie Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, die Emirate, Kuwait und Katar sich offen als Verbündete Israels bekennen würden.
In Südamerika hat sich die öffentliche Meinung bereits merklich gegen Israel gewandt. Die Anerkennung Palästinas gewinnt auch in offiziellen Kreisen immer mehr an Boden. Selbst in den USA wankt anscheinend die Bedingungslosigkeit der Unterstützung der israelischen Regierung.
Was zum Teufel passiert da eigentlich?
 
WAS DA passiert, ist eine tiefe, vielleicht die Grundfesten erschütternde Veränderung der Haltung der Öffentlichkeit Israel gegenüber.
Seit Jahren erscheint Israel in den Weltmedien vor allem als ein Land, das die palästinensischen Ländereien besetzt. Pressefotos von Israelis zeigen fast immer schwerbewaffnete und gepanzerte Soldaten, die protestierenden Palästinensern – oft Kindern – gegenüberstehen. Nur einige dieser Bilder machen einen unmittelbar dramatischen Eindruck, aber die sich aufhäufende, schrittweise Wirkung hätte nicht unterschätzt werden sollen.
Ein wirklich aufmerksamer diplomatischer Dienst hätte seine Regierung schon vor langer Zeit gewarnt. Aber der Auslandsdienst ist gründlich demoralisiert. Sein Chef Avigdor Lieberman, ein brutaler, schwergewichtiger Rüpel, den viele seiner Kollegen in aller Welt als Halbfaschisten betrachten, schüchtert das diplomatische Corps ein. Dessen Angehörige ziehen es vor zu schweigen.
Diese Vorgänge erreichten mit dem letzten Gaza-Krieg einen neuen Höhepunkt. Der Krieg unterschied sich nicht grundlegend von den beiden Gaza-Kriegen, die ihm vor noch nicht allzu langer Zeit vorausgegangen waren, aber aus unerfindlichen Gründen machte er einen viel tieferen Eindruck.
Eineinhalb Monate lang wurden die Menschen in aller Welt Tag für Tag mit den Bildern von palästinensischen Getöteten, verstümmelten Kindern, weinenden Müttern, zerstörten Wohngebäuden, beschädigten Krankenhäusern und Schulen und Massen von obdachlosen Flüchtlingen bombardiert. Dank Israels mobilem RaketenabwehrsystemIron Dome war kein zerstörtes israelisches Gebäude und kaum ein toter israelischer Zivilist zu sehen.
Kein anständiger Mensch, ganz gleich ob in Stockholm, Seattle oder Singapur, konnte sich einem derartig stetigen Strom schrecklicher Fotos entziehen, der ihn zunächst unbewusst und dann bewusst beeinflusste. Das Bild „des Israelis“ in den Gemütern veränderte sich allmählich, fast unmerklich. Der tapfere Pionier, der den Barbaren, die ihn umgaben, standhielt, verwandelte sich in einen hässlichen Rüpel, der eine hilflose Bevölkerung terrorisiert.
 
WARUM ist das den Israelis nicht klar? Weil wir immer recht haben.
Es wurde schon oft gesagt: Die Hauptgefahr der Propaganda, und zwar jeglicher Propaganda, ist, dass ihr erstes Opfer der Propagandist selbst ist. Seine Propaganda überzeugt ihn selbst mehr als deren Adressaten. Wenn man Tatsachen verdreht und diese Verdrehung hundertmal wiederholt, muss man schließlich selbst daran glauben.
Zum Beispiel die Behauptung, wir seien gezwungen gewesen, UN-Einrichtungen im Gaza-Streifen zu bombardieren, weil die Hamas sie zum Abfeuern ihrer Raketen auf unsere Städte und Dörfer benutzt hätte. Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser und Moscheen wurden von unserer Artillerie, unseren Flugzeugen, Drohnen und Kriegsschiffen angegriffen. 99% der Israelis glauben, dass das notwendig gewesen sei. Sie waren schockiert, als UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, der diese Woche Gaza besuchte, behauptete, das sei vollkommen unzulässig gewesen.
Weiß der Generalsekretär denn nicht, dass unsere Armee die moralischste der Welt ist?
Eine weitere Behauptung ist, dass diese Gebäude von der Hamas dazu benutzt worden seien, ihre Waffen zu verstecken. Ein mit mir Gleichaltriger erinnerte uns diese Woche in Haaretz, dass wir während unseres Kampfes gegen die britische Regierung von Palästina und die arabischen Angreifer genau dasselbe gemacht haben: Wir versteckten unsere Waffen in Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern und Synagogen. An vielen Orten bewahren jetzt stolze Erinnerungstafeln das Gedächtnis daran. 
Nach Ansicht des Durchschnitts-Israelis sind die umfassenden Tötungen und Zerstörungen im letzten Feldzug vollkommen gerechtfertigt. Der Durchschnitts-Israeli kann das weltweite Entsetzen überhaupt nicht verstehen. Da ihm kein anderer Grund einfällt, schreibt er es dem Antisemitismus zu. 
 
NACH EINEM der Libanonkriege (ich habe vergessen, welchem) bekam ich eine ungewöhnliche Mitteilung: Ein Armeegeneral lud mich zu einem Vortrag vor seinem versammelten Offiziers-Corps ein. Ich sollte über die Wirkung des Krieges auf die Medien in der Welt sprechen. (Wahrscheinlich wollte er seine Offiziere mit dieser aufgeklärten Haltung beeindrucken.)
Ich sagte den Offizieren, das moderne Schlachtfeld habe sich verändert, moderne Kriege würden im Scheinwerferlicht der Medien der Welt geführt. Das müssten die Soldaten heute beim Planen und Kämpfen einkalkulieren. Sie hörten respektvoll zu und stellten passende Fragen. Ich fragte mich allerdings, ob sie die Lektion wirklich aufgenommen hätten.
Der Beruf des Soldaten ist ein Beruf wie jeder andere. Jeder, der einen Beruf ausübt, ganz gleich, ob Rechtsanwalt oder Straßenkehrer, übernimmt eine Reihe von Haltungen, die zu seinem Beruf gehören.
Ein General denkt effektiv: Wie viele Soldaten, wie viele Geschütze sind für die Aufgabe notwendig? Was muss getan werden, um den Widerstand des Feindes zu brechen? Wie kann man die Anzahl der eigenen Opfer möglichst gering halten?
Er denkt nicht über Fotos in der New York Times nach.
Im Gazakrieg wurden weder Kinder willkürlich getötet noch wurden Häuser willkürlich zerstört. Jede Handlung hatte einen militärischen Grund. Menschen mussten getötet werden, um die Gefahr für das Leben unserer Soldaten zu vermindern. (Lieber hundert Palästinenser töten als zulassen, dass auch nur ein einziger israelischer Soldat getötet würde.) Menschen mussten terrorisiert werden, damit sie sich gegen die Hamas wendeten. Ganze Viertel mussten zerstört werden, damit unsere Soldaten vorrücken konnten, und auch zu dem Zweck, der Bevölkerung eine Lektion zu erteilen, an die sich die Menschen noch jahrelang erinnern würden, sodass der nächste Krieg dadurch aufgeschoben würde.
Alles das leuchtet einem General ein. Er führt – zum Teufel noch mal – einen Krieg und darf nicht mit nichtmilitärischen Bedenken belästigt werden. Zum Beispiel mit Bedenken über den Einfluss auf die Weltmeinung. Und überhaupt, nach dem Holocaust …
 
WAS DER General denkt, denkt Israel.
Israel ist keine Militärdiktatur. General al-Sisi mag ja Netanjahus bester Freund sein, aber Netanjahu ist kein General. Israel macht gerne Geschäfte, besonders Waffengeschäfte, mit Militärdiktatoren in aller Welt, aber innerhalb Israels gehorcht das Militär der gewählten Zivilregierung.
Das stimmt schon, aber …
Aber der Staat Israel wurde inmitten eines erbitterten Krieges geboren, eines Krieges, dessen Ausgang damals durch nichts sichergestellt war. Die Armee war damals – und ist heute – der Mittelpunkt von Israels Nationalleben. Man kann sagen, dass die Armee das einzige Element ist, das die israelische Gesellschaft wirklich eint. Dort begegnen Männer und Frauen, Aschkenasi und Orientalen, Säkulare und Religiöse (außer den Orthodoxen), Arme und Reiche, Alteingesessene und Neueinwanderer einander und werden mit demselben Geist indoktriniert.
Die meisten jüdischen Israelis waren einmal Soldaten. Die meisten Offiziere, die die Armee mit Mitte 40 verlassen, gehören anschließend zur Verwaltungs-, Wirtschafts-, Politik- und akademischen Elite. Daraus ergibt sich, dass das militärische Denken in Israel vorherrscht.
Da das so ist, können Israelis den Wandel der öffentlichen Meinung in der Welt kaum fassen. Was wollen die von uns, diese Schweden und Briten und Japaner? Glauben sie, dass wir Freude daran haben, Kinder zu töten und Häuser zu zerstören? (Wie Golda Meir einmal einprägsam erklärt hat: „Wir können den Arabern vergeben, dass sie unsere Kinder töten, aber wir werden ihnen niemals vergeben, dass sie uns zwingen, ihre Kinder zu töten!“)
 
DIE GRÜNDER Israels waren sich vollkommen der Weltmeinung bewusst. Es stimmt, David Ben-Gurion hat einmal erklärt: „Es ist nicht wichtig, was die Gojim sagen, wichtig ist, was die Juden tun!“ Aber im wirklichen Leben war sich Ben-Gurion sehr wohl bewusst, dass es notwendig war, die Weltmeinung für sich zu gewinnen. Das war auch seinem Gegner klar, dem rechtsgerichteten zionistischen Führer Vladimir Jabotinsky. Dieser sagte einmal zu Menachem Begin, dass er, wenn er am Gewissen der Welt verzweifele, „in die Weichsel springen“ solle.
Die öffentliche Meinung der Welt ist wichtig. Mehr als das, sie ist lebenswichtig. Die Resolution des britischen Parlaments mag nicht bindend sein, aber sie drückt die öffentliche Meinung aus, die früher oder später über die Aktionen der britischen Regierung hinsichtlich Waffenverkauf, über Resolutionen des Sicherheitsrates, über Entscheidungen der europäischen Union und über alles mögliche andere entscheiden wird. Wie Thomas Jefferson gesagt hat: „Wenn das Volk vorangeht, werden schließlich seine Führer folgen.“ Derselbe Jefferson empfahl „angemessenen Respekt vor der Meinung der Menschheit“. (PK)

Uri Avnery, geboren am 10. September 1923 in Deutschland, ist israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist. Er war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer AutorInnen für die NRhZ rezensiert. Für die Übersetzung dieses Buches und des hier vorliegenden Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler.
 


Online-Flyer Nr. 481  vom 22.10.2014

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