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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Kommentar
Medien beleuchten soziales Gefälle
Entdeckung der Ungleichheit
Von Harald Schauff

Die soziale Kluft wächst und wächst. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Neuerdings wird sie sogar von den bürgerlichen Medien häufiger
aufgegriffen. Es sieht so aus, als ließe sie sich nicht mehr einfach fort diskutieren. Leser und Macher alternativer kritischer
Medien, die das Thema schon seit Jahrzehnten im Auge haben, dürfte dabei nur verwundern, wie erstaunt der Mainstream sich angesichts der baren
Fakten gibt. Jahrzehntelang hat man das Thema vernachlässigt. Nun flackert es über alle Bildschirme und füllt die Magazin-Spalten.

Nach und nach reiht sich alles hinter US-Präsident Obama ein, der die soziale Ungleichheit vor einigen Monaten in seiner Rede zur Lage der Nation zum "Schlüsselproblem unserer Epoche" erklärte. Als gleich lautende Befunde kristallisieren sich heraus: Eine zunehmende Spreizung bei Einkommen und Vermögen: Die oberen 10 % der Bevölkerung besitzen inzwischen den Löwenanteil der Vermögen, etwa in der Größenordnung von 60 bis 70 %.
Die Reallöhne sind seit der Jahrtausendwende gesunken. Wirklich spürbare Einkommenszuwächse verzeichnet nur noch eine gut situierte Minderheit. Die Mittelschicht dünnt immer mehr von den Rändern her aus. Die Gesellschaft teilt sich ökonomisch bald nur noch in Gewinner oder Verlierer: Hopp oder Top.

Das Bild der Großstädte passt sich an. Menschen mit geringem Einkommen werden infolge steigender Mieten verstärkt in Randghettos abgedrängt. Als Garant des Aufstiegs wie besten Schutzes gegen Armut wird Bildung gehandelt. Jedoch stellt man wiederum fest: Bildung hängt stark von der sozialen Herkunft ab. So stammen 80 % der Studenten aus Akademikerfamilien.

Allmählich verfestigt sich auch die Erkenntnis: Reiche kommen fast ausnahmslos durch Erbe zu ihrem Reichtum. Laut SPIEGEL (19/ 2014)
werden jedes Jahr rund 250 Mrd. Euro vererbt. Ganze 2 % davon, 4,6 Mrd., gehen als Erbschaftssteuer an den Staat. Lohn- und Einkommensteuer liegen bei 32 %. Gutverdiener entstammen fast immer bereits begüterten Familien. Der französische Ökonom Thomas Piketty wies nach, dass sich die Vermögen über Jahrhunderte in bestimmten Familien konzentrieren. So wird die Ungleichheit über Generationen hinweg zementiert.

Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit entpuppen sich als "leere Versprechen", konstatiert der SPIEGEL. Im Titel spricht man sogar von der "Wohlstandslüge". Wovon man nicht spricht: Jene Lüge ist als weit reichendes ideologisches Gerüst vor allem eine Erfindung der besitzenden Schichten. Sie wollen der Bevölkerungsmehrheit dadurch signalisieren, dass sie sich ihren Reichtum bzw. Wohlstand redlich erarbeitet haben, dass er ihrem Fleiß und ihrer Klugheit bzw. "Bildung" und nicht ihrer von Geburt her privilegierten
Stellung geschuldet ist.

Der Soziologe Michael Hartmann durchschaute schon vor Jahren das Gerede von der Bildung: Es solle lediglich Privilegien absichern. Genauso verhält es mit dem Gerede von "Leistung", möchte man anmerken. Die privilegierten Schichten möchten nicht nur aus den klügsten, sondern auch aus den leistungsfähigsten Elementen der Gesellschaft bestehen. Deswegen halten sie das Leistungsprinzip hoch und tun pseudodemokratisch so, als stünde jedem der Aufstieg offen, gleich welcher Schicht er/sie entstammt. Man müsse nur seinen Grips anstrengen und die Ärmel hoch krempeln. Im seltenen Glücksfall kann dies vorkommen, in der Regel nie.

Diese nicht ganz neue Einsicht vertritt letztlich auch Thomas Piketty, der zuzeit in deutschen Medien allgegenwärtig ist. Sein Buch "Das Kapital des 21. Jahrhunderts" sorgte besonders in den USA für Aufsehen. Piketty warnt vor den Gefahren einer zu großen Ungleichheit. Er selbst hat andererseits prinzipiell nichts gegen Ungleichheit. Schließlich biete diese einen Anreiz, sich um Aufstieg in höhere Schichten zu bemühen, wie er in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau Juli diesen Jahres bekräftigte. Im Gespräch mit dem SPIEGEL, Mai diesen Jahres, betont er, in Europa sei nicht die Ungleichheit, sondern die Arbeitslosigkeit das Hauptproblem. In den USA hätte das Ungleichgewicht in den letzten 30 Jahren viel stärker zugenommen. In Europa müsse man den Sozialstaat "modernisieren". Frankreich hätte hier im Vergleich zu Deutschland Nachholbedarf.

Ja, sicher: Am deutschen Hartz IV-Wesen soll Europa genesen. Hat Piketty die Zerwürfnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt nicht registriert? Das Drücken der Reallöhne und das Hochziehen eines Niedriglohnsektors? Längst ist die Ungleichheit auch Europas Hauptproblem. Im Grunde war sie es immer, wie er selbst nachgewiesen hat. Diesem Problem ist nicht durch ein bisschen Regulierung in Form einer globalen Kapitalsteuer, wie sie ihm und anderen gemäßigten Neoliberalen vorschwebt, abzuhelfen. (PK)

Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf" und hat diesen Beitrag in deren aktueller Nummer 201 veröffentlicht.

Online-Flyer Nr. 479  vom 08.10.2014

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