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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Inland
Immer aggressivere Außenpolitik der Bundesregierung
Bilanz eines Jahres
Von Hans Georg

Ein Jahr nach dem Beginn der Berliner Weltpolitik-Kampagne mit der Rede des Bundespräsidenten zum 3. Oktober 2013 zeigen sich erste Ergebnisse sowohl in den Debatten wie auch im praktischen Ausgreifen der deutschen Außenpolitik. Die EU müsse künftig geschlossener als bisher handeln, um "das politische Gewicht auf die Waage" zu bringen, "das Deutschland zur Realisierung seiner Interessen braucht", heißt es in einer aktuellen Stellungnahme aus dem Berliner Polit-Establishment. Umstritten ist noch, wie intensiv die Zusammenarbeit mit den USA gestaltet werden soll.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de


 
Militärisch hatte die Bundesregierung im Herbst 2013 zunächst Interventionen im nördlichen Afrika in den Blick genommen; hinzu kommen nun mit dem Krieg gegen den IS Bundeswehr-Aktivitäten im Mittleren Osten. Damit sind die deutschen Streitkräfte in denjenigen Gebieten beschäftigt, in denen die USA aufgrund ihrer Schwerpunktverlagerung zum Pazifik "Entlastung" suchen. Hinzu kommen die Aggressionen des Westens gegenüber Kiew und Moskau, an denen Berlin sich führend beteiligte; sie trieben die Ukraine in den Abgrund und brachten zeitweise die Gefahr eines großen Krieges bedrohlich nahe. Zusätzlich zu den bestehenden Spannungen nehmen Außenpolitiker der Berliner Regierungskoalition nun anlässlich der Proteste in Hongkong auch noch die Volksrepublik China aufs Korn.
 
Die Berliner Weltpolitik-Kampagne
 
Am Freitag, dem deutschen Nationalfeiertag, jährte sich der Beginn der Berliner Kampagne für eine aggressivere Weltpolitik zum ersten Mal. Bundespräsident Joachim Gauck hatte in seiner Rede zum 3. Oktober 2013 erklärt, es gehe nicht an, "dass Deutschland sich klein macht"; vielmehr müsse die Bundesrepublik - "die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt" - sich künftig stärker als bisher an der "Lösung" globaler Konflikte beteiligen, gegebenenfalls auch militärisch.[1] Unmittelbar anschließend publizierten die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und der German Marshall Fund of the United States (GMF) ein Strategiepapier, das - unter Mitarbeit von rund 50 Personen aus dem außenpolitischen Establishment Deutschlands erstellt - Grundzüge für eine "Neuvermessung" der deutschen Weltpolitik festlegte und breit propagiert wurde.[2] Seitdem haben sich der Bundespräsident und mehrere Minister, aber auch Mitarbeiter von Think-Tanks und Journalisten immer wieder für eine offensivere deutsche Weltpolitik ausgesprochen. Der Zeitpunkt für den Beginn der Kampagne war sorgfältig gewählt: Sie startete parallel zur Bildung der neuen Regierungskoalition im Herbst 2013, vor allem aber zu einem Zeitpunkt, zu dem der Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan begonnen hatte und erkennbar war, dass Berlin Kapazitäten für neue Aktivitäten - auch militärische - in anderen Weltregionen frei haben würde.
 
Deutsche Interessen realisieren
 
Teil der Berliner Weltpolitik-Kampagne, deren erstes Jahr nun abläuft, ist eine inszenierte Debatte gewesen, die das Auswärtige Amt unter dem Motto "Review 2014" im Frühjahr gestartet hat.[3] Unlängst hat eine Mitarbeiterin des Projekts die wichtigsten Ergebnisse der angeblichen Debatte publiziert, die faktisch nur die Hauptlinien der aktuellen Berliner Außenpolitik zusammenfassen. Demnach muss Deutschland, "zu klein, um globalpolitische Veränderungen bewirken zu können", auch in Zukunft auf die EU setzen. Diese müsse geschlossener als bisher handeln: "Nur wenn die Mitgliedstaaten integrations- und außenpolitisch an einem Strang ziehen, bringt Europa das politische Gewicht auf die Waage, das Deutschland zur Realisierung seiner Interessen braucht", heißt es in der "Auswertung" von "Review 2014". Divergierende Positionen gebe es mit Blick auf das Verhältnis zu den USA, heißt es weiter: Während "eine ganze Reihe von Stimmen ... von Deutschland ein selbstbewussteres Auftreten mit einem eigenständigeren außenpolitischen Profil" erwarteten, mahnten andere ausdrücklich, "die transatlantische Bindung nicht zu gefährden" - mit Verweis auf die militärische Macht der USA.[4] Diesbezüglich wird die Debatte im Berliner Polit-Establishment fortgeführt: Während einige darauf dringen, im Bereich der IT-Industrie und der Spionage rasch eigene Kapazitäten zu entwickeln, um größeren Spielraum gegenüber den USA zu gewinnen [5], setzen andere auf eine engere Kooperation mit Washington [6].
 
Neue Kriege
 
Jenseits der Welt der Diskussionspapiere und der Strategiedebatten sind die Offensiven der deutschen Außenpolitik im vergangenen Jahr keineswegs geradlinig verlaufen. Im Herbst 2013 hatten noch die Interventionen in Mali und der Zentralafrikanischen Republik im Mittelpunkt gestanden. Dies entsprach den Plänen, die USA, die sich zunehmend auf die Rivalität mit China konzentrieren, im nördlichen Afrika und in Nah- und Mittelost zu "entlasten" - dort also mit der EU Kontrollfunktionen zu übernehmen und so die eigenen weltpolitischen Positionen zu stärken. Der Konflikt um die Ukraine band Berlin jedoch seit Februar in hohem Maß in Osteuropa, bis im Sommer der Krieg gegen den "Islamischen Staat" (IS) die deutsch-europäischen Kräfte wieder nach Mittelost lenkte - also dorthin, wo die ursprünglichen Planungen eine deutsch-europäische "Entlastung" für die USA vorgesehen hatten. Deutschland beteiligt sich am Krieg gegen den IS vorerst mit der Ausbildung irakisch-kurdischer Bodentruppen sowie mit umfangreichen Waffenlieferungen.[7] Hinzu kommt inzwischen die Nutzung der Bundeswehr im Kampf gegen die Ebola-Epidemie in Westafrika [8] - ein Schritt, der genuin zivile Aufgaben dem Militär überträgt und der geeignet ist, eine weitere Gewöhnung an den Einsatz von Streitkräften herbeizuführen.
 
Vom Westen "befreit"
 
Die neuen Interventionen im Mittleren Osten beginnen zu einem Zeitpunkt, da die Gewaltpolitik, die der Westen in den vergangenen Jahren in Nordafrika und in Nah- und Mittelost betrieben hat, ihre zerstörerische Wirkung überdeutlich offenbart. Afghanistan - 2001 der Startpunkt der neuen Welle westlicher Militäreinsätze - ist zerrüttet; Warlords sind erneut an der Macht, deren brutale Herrschaftspraktiken bereits in den 1990er Jahren der Regierungsübernahme durch die Taliban den Weg gebahnt hatten.[9] Der Irak ist durch den westlichen Überfall des Jahres 2003 sowie die anschließende Besatzung ebenso zerstört wie Syrien, wo der Westen mit Hilfe von Aufständischen den Sturz der Regierung von Bashar al Assad betrieb.[10] Ebenfalls im Krieg versinkt Libyen, das eine europäisch-amerikanische Kriegskoalition 2011 von der Regierung Gaddafi "befreite".[11] Opfer des Libyen-Krieges wurde nicht zuletzt auch Mali, wo salafistische Milizionäre mit Waffen aus libyschen Beständen 2012 ein Terrorregime errichten konnten. Die Zukunft des Landes, das gegenwärtig Schauplatz einer EU-Intervention ist, gilt immer noch als ungewiss.
 
Gegen Atommächte
 
Der Konflikt um die Ukraine, den Experten erst für das Jahr 2015 erwartet hatten - dann sollten in dem Land reguläre Präsidentenwahlen stattfinden - und der die beginnenden Militäraktivitäten im nördlichen Afrika und in Mittelost zunächst in den Hintergrund drängte, zeigt noch deutlicher als diese das volle Eskalationspotenzial der deutschen Außenpolitik. Nicht nur hat das Berliner Bemühen, die Ukraine per Assoziierung in die eigene Hegemonialsphäre einzubinden, das Land in den Abgrund getrieben; zeitweise brachten die Aggressionen des Westens gegenüber der Atommacht Russland sogar die Gefahr eines großen Krieges in bedrohliche Nähe. Noch immer kann die Lage trotz des Waffenstillstands im Osten der Ukraine keineswegs als beruhigt gelten. Dessen ungeachtet beginnen führende Außenpolitiker der Berliner Regierungskoalition zusätzlich, sich offen zu Richtern über innere Angelegenheiten Chinas aufzuschwingen - nicht unähnlich der Einmischung Ende 2013 in der Ukraine. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Andreas Schockenhoff nennt die aktuellen Proteste in Hongkong "ein ermutigendes Zeichen" [12]; Jürgen Trittin, Außenpolitiker von Bündnis 90/Die Grünen, verlangt von der chinesischen Regierung, "den Forderungen der Demonstranten entgegenzukommen" [13].
 
Nicht mehr zu halten
 
Ist die Anmaßung, fremden Ländern ein politisches Vorgehen vorschreiben zu wollen, erstaunlich für einen Staat, der gerade erst dazu beigetragen hat, mehrere Länder in Nordafrika und Mittelost sowie eines in Osteuropa in den Ruin zu treiben, so zeigt sie tatsächlich vor allem eines: Die Bundesrepublik schreckt mit ihrer immer aggressiveren Außenpolitik und in ihrem Drang nach Weltgeltung vor keiner Konfrontation mehr zurück. (PK)
 
[1] S. dazu Schlafende Dämonen.
[2] S. dazu Die Neuvermessung der deutschen Weltpolitik.
[3] S. dazu Von Linealstaaten und pazifistischem Mehltau.
[4] S. dazu In und durch Europa führen.
[5] S. dazu Vorbild NSA.
[6] S. dazu Schlagkräftige Verbündete.
[7] S. dazu Das Ende einer Epoche (I) und Das Ende einer Epoche (II).
[8] S. dazu Mit der Bundeswehr gegen Ebola.
[9] S. dazu Vom Westen befreit (III).
[10] S. dazu Vom Westen befreit (I).
[11] S. dazu Vom Westen befreit (II).
[12] Albrecht Meier: Politiker aus SPD und Union kritisieren Peking. www.tagesspiegel.de 30.09.2014.
[13] Albrecht Meier: Trittin: China muss Demonstranten entgegenkommen. www.tagesspiegel.de 01.10.2014.
 
Diesen Beitrag haben wir mit Dank von german-foreign-policy übernommen.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58963


Online-Flyer Nr. 479  vom 08.10.2014



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