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Aktueller Online-Flyer vom 25. April 2024  

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Kommentar
Wir brauchen einen Traum, eine Vision – nicht nur ein Wahlprogramm
Ja, wenn ich 25 wäre!
Von Uri Avnery

Untersuchungen zeigen, dass eines der im Hebräischen am häufigsten gebrauchten Wörter „Schalom“ ist. Israelis grüßen einander mit „Schalom“ und viele sagen das auch beim Abschied. Die anderen gebrauchen den Slangausdruck "jallah bye", das eine Wort ist arabisch, das andere englisch.
 

Martin Luther King: "Wir brauchen einen
Traum, eine Vision"
Quelle: brainz.org
Schalom ist nicht das Synonym der europäischen Wörter für „Frieden“, wie viele glauben. Es ist viel mehr. Es hat die Wurzel „ganz“ und vermittelt den Sinn von Ganzheit, Sicherheit, Wohlbefinden. In keiner europäischen Sprache kann man sagen: „Unsere Soldaten haben den Feind angegriffen und sind im Frieden zu ihrer Basis zurückgekehrt.“
Das arabische Salaam hat dieselbe Bedeutung. 
Aber selbst im engeren Sinn des Wortes, im Sinn von Frieden, drückt Schalom eine tiefe menschliche Sehnsucht aus. Seit der Antike sehnen sich die Menschen nach Frieden und fürchten sich vor dem Krieg. "Dona nobis pacem" – „(Gott,) gib uns Frieden“ – gehört zur katholischen Messe. Verschiedene Komponisten haben es in Musik gesetzt. Ich erinnere mich, dass ich es als Kind gesungen habe.
Im heutigen Israel ist es jedoch schon fast unanständig, im politischen Diskurs das Wort „Frieden“ zu gebrauchen. Es ist ein Vier-Buchstaben-Wort (das ist es tatsächlich in Hebräisch und in Arabisch). Man darf zwar noch den Wunsch nach einer „politischen Lösung“ äußern, aber selbst das klingt schon ein bisschen verdächtig.
Es ist zur Mode geworden zu sagen: Die Friedensbewegung liegt im Sterben, die „Zweistaaten-Lösung“ ist tot und die sogenannte „Ein-Staat-Lösung“ ist eine Totgeburt.
Am sichersten drückt man es so aus: „Ich bin ganz und gar für Frieden, aber…“
 
VOR KURZEM hat der bei den amerikanischen Juden beliebte HAARETZ- Kolumnist Ari Schawit einen Artikel geschrieben, in dem er gleichermaßen die „extrem Rechten“ wie die „extrem Linken“ verurteilt, die einen dafür, dass sie den Krieg befürworten, und die anderen dafür, dass sie den Frieden befürworten. Es ist ihm gelungen, einen Aufruhr zu erzeugen. Die Linken wandten ein, schließlich hätten sie nie einen Gegner ermordet und schon gar keinen Ministerpräsidenten, während die Rechten das und noch viel mehr getan hätten.
Kann man denn z. B. den Führer der Meretz-Partei Zehava Galon mit Miri Regev vom Likud vergleichen? (Vor Kurzem verklagte die sehr gut aussehende frühere Armee-Sprecherin Regev einen Blogger, der sie „eine Hure mit einem Mund wie eine Kloake“ genannt hatte. Das Gericht wies die Klage ab.)
Israels Beste und Intelligenteste griffen Schawit an. Der Kolumnist Akiwa Eldar, der weltbekannte Bildhauer Dani Karawan (zu dessen Werken die Wand hinter dem Knesset-Sprecher gehört) und viele andere verurteilten seine Überlegungen. Wie kann man die beiden nur vergleichen?
Die Rechte führt uns in Richtung eines Apartheid-Staates, in dem eine jüdische Minderheit eine arabische Mehrheit unterdrücken wird, während die Linke eine Situation befürwortet, in der beide Völker in Frieden nebeneinander leben werden. Wo bleibt da die Symmetrie?
Aber Kolumnisten lieben nun einmal die Symmetrie. Wenn sie beide Seiten verurteilen, erwecken sie damit den Eindruck der Überlegenheit, ja gar der Überparteilichkeit. Es flößt außerdem ihren Lesern den Gedanken ein, sie seien freie Geister und schwebten hoch über dem Tumult der Massen.
Für Politiker ist die Versuchung sogar noch größer. Sowohl die Linken als auch die Rechten erheben den Anspruch, sie gehörten zum „Zentrum“, denn sie denken: Das ist der Ort, an dem die meisten Stimmen zu holen sind. Wenn ein Politiker rechts ist, nimmt er an, dass ihn die Rechten ohnehin wählen, deshalb erscheint es ihm lohnender, sich um die Wähler des „Zentrums“ zu bemühen. Dasselbe gilt für die Linken.
Das korrumpiert den politischen Prozess. Beide Seiten verbergen ihre wahren Ansichten oder spielen sie herunter, um einer Wählergruppe zu gefallen, die gar keine Ansichten hat und die sich, offen gesagt, einen Dreck darum kümmert.
Mit anderen Worten: Diejenigen, denen die Zukunft der Nation am wenigsten am Herzen liegt, entscheiden darüber, wer die Nation in Zukunft führen soll.
Das sind die Leute, die in Israel für einen unbedeutenden Niemand wie Jair Lapid stimmen – und in anderen Ländern für seinesgleichen. 
Das erinnert an Winston Churchills Ausspruch: Am leichtesten kann man an der Demokratie verzweifeln, wenn man fünf Minuten lang mit einem Wähler spricht. Derselbe Churchill hat jedoch auch gesagt: Demokratie ist zwar ein schlechtes System, aber alle anderen Systeme, die jemals ausprobiert worden sind, sind noch schlechter.
 
SCHAWIT HAT nichts gegen Frieden. Im Gegenteil, er liebt den Frieden.
Er legt sogar seinen großzügigen Friedensplan vor: Wenn Mahmoud Abbas unmissverständlich Ehud Olmerts Friedensvorschlag annimmt, und wenn alle arabischen Staaten ihren Anspruch auf die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge aufgeben, dann ist er, Schawit, bereit, über Frieden zu verhandeln. 
Das klingt in meinen Ohren ein wenig kindisch.
Olmert legte seinen Friedensvorschlag vor, als er schon dabei war, sich zu verabschieden, nachdem er wegen Korruption angeklagt worden war. Ich erinnere mich nicht an den Inhalt seines Vorschlages und ich denke, andere auch nicht. Jedenfalls war der Vorschlag weit von der Erfüllung der Minimalforderungen der Palästinenser entfernt. Warum hätte Abbas vor allen Verhandlungen von einem bankrotten Politiker einen israelischen Plan annehmen sollen?
Was die Flüchtlinge angeht, so ist der Vorschlag noch kindischer. Der Anspruch der Flüchtlinge ist bei Weitem die beste Karte der arabischen Diplomaten. Vielleicht geben sie sie her, aber wenn, dann nur nach einem langen und schweren Kampf und für einen angemessenen Preis: einen palästinensischen Staat, eine Hauptstadt in Ostjerusalem und eine Verbindung zwischen dem Westjordanland und Gaza – als Vorspeise. Der Gedanke, sie könnten den Anspruch aufgeben, noch bevor Verhandlungen begonnen haben, ist wirklich ein bisschen unrealistisch. Das zeigt, dass Schawit keine Spur von Verständnis dafür hat, was Frieden bedeutet.
 
DIE ISRAELISCHE Linke ist nicht tot. Sie ist das, was die Deutschen „scheintot“ nennen: Zwar lebt sie noch, wird aber für tot gehalten. (Es war einer der Albträume meiner Kindheit, lebendig begraben zu werden.)
Die heutige Arbeitspartei ist ein jämmerlicher Überrest der starken Kraft, die sie einmal als Führung der Gemeinschaft vor der Staatsgründung und des Kampfes für die Schaffung Israels gewesen ist. Heute wird sie von erbärmlichen Gestalten geführt und vor allem vom offiziellen „Oppositionsführer“ Jitzchak Herzog. Im letzten Krieg ist die Partei stumm geblieben, außer dass sie Benjamin Netanjahu von Zeit zu Zeit einen unerbetenen Rat gegeben hat, wie er den Krieg besser führen könnte.
Die Meretz-Partei war kaum redseliger. Solange die Kanonen dröhnten, schwiegen ihre Musen.
Keine der beiden Parteien hat auch nur die geringste Chance, den Lauf der Ereignisse zu verändern. In Umfragen bekommt Herzog einstellige Werte bei der Frage, ob er Ministerpräsident werden solle. Ein Herzog ist ursprünglich ein Führer, ein Heerführer im Krieg. Er aber ist keiner.
Und die arabischen Parteien? Wer fragt da? Niemand? Gut so.
 
AN MEINEM 91. Geburtstag vor zwei Wochen habe ich mich gefragt: Wenn ich 25 wäre und unbedingt aktiv werden wollte, wie würde ich darangehen, eine neue Linke zu schaffen?
Als erstes würde ich mir raten: Mach es nicht wie der Aborigine. Er kaufte einen neuen Bumerang und warf den alten weg – der traf ihn dann quer über den Kopf. Ich würde den alten Bumerang in einen verschlossenen Wandschrank verbannen und dann einen nagelneuen kaufen.
Und wie? Zuerst einmal würde ich alle alten Slogans, Benennungen und Markenzeichen ablegen, dabei würde ich mit „links“ anfangen.
Was bedeutet „links“ für den Durchschnittsisraeli? Für die eineinhalb Millionen „russischer“ Einwanderer bedeutet es die verhasste Sowjetunion, Stalin und den KGB. Für die Millionen „orientalischer“ jüdischer Bürger bedeutet es die verhasste aschkenasische Elite, die immer noch viele Aspekte des Landes beherrscht. Für die Religiösen aller Schattierungen bedeutet es die säkulare Öffentlichkeit, die Gott und Seine 613 Gebote verlassen hat. Für die arabischen Bürger bedeutet es eine lange Geschichte des Betrugs durch linke Regierungen. 
Wir brauchen eine neue Benennung, eine, die alle unterschiedlichen Sektoren der israelischen Gesellschaft akzeptieren und liebenswert finden können: Männer und Frauen, Aschkenasen und Orientalen, Religiöse und Säkulare, Juden und Araber. 
Das ist ein bisschen viel verlangt. Ich würde in jedem Sektor Gesprächsgruppen einrichten, die das untereinander ausmachen und die schließlich einen originellen hebräischen Ausdruck finden, der die Herzen der Menschen und nicht nur ihren Verstand anspricht.
Gefühle sind außerordentlich wichtig. Seit Langem ist die israelische Linke trocken und steril und kann niemanden mehr mitreißen. Auf Demonstrationen der „zionistischen Linken“ gibt es keine Begeisterung, keine erhebenden Lieder, nichts wie "We shall overcome!"
Frieden, Demokratie, Gleichheit, Menschlichkeit – das sind keine leeren und veralteten Worte und Werte. Wenn man sie mit der Achtung vor jüdischen und arabischen Traditionen und der Weisheit der Alten ebenso wie mit dem einzigartigen Beitrag eines jeden der unterschiedlichen Sektoren des Gemeinwohls verbindet, kann das eine anregende neue Mischung ergeben.
Martin Luther King hat das, was wir brauchen, sehr beredsam ausgedrückt: Wir brauchen einen Traum, eine Vision – nicht nur ein Wahlprogramm.
 
EINE VISION bedarf zu ihrer Verwirklichung eines Instrumentes. Ohne eine erregende neue Vision kann es keine neue politische Kraft geben. Aber ohne eine politische Kraft bleibt die Vision nur ein Traum.
Die alte Linke liegt im Sterben, denn in den letzten sechzig Jahren hat sie kampflos alle ihre Machtinstrumente abgegeben – von der einmal mächtigen Histadrut (Gewerkschafts-)-Organisation bis zu fast allen Medien. Die Krankheit der Linken, die Zersplitterung, untergräbt immer noch ihre Kraft. Wir haben eine Menge Friedens- und Menschenrechts-Vereinigungen, in denen viele wunderbare Menschen wunderbare Arbeit leisten und gegen Krieg, Besetzung, soziale Ungleichheit und Unterdrückung kämpfen, und jede von ihnen besetzt eine eigene Nische. Sie sind leider nicht dazu fähig, sich zu vereinen und auch nur die elementarsten gemeinsamen Instrumente zu schaffen.
In der Politik geht es um Ideen und um Macht. Beide müssen von Grund auf aufgebaut werden.
 
ZUM GLÜCK bin ich nicht mehr 25 Jahre alt und ich überlasse die Aufgabe von Herzen gern der jüngeren Generation.
Nach dem jüdischen Kalender hat am Donnerstag – also vor zwei Tagen – ein neues Jahr begonnen. Hoffen wir, dass wir in diesem Jahr endlich aufzuwachen beginnen. (PK)
 
Uri Avnery, geboren am 10. September 1923 in Deutschland, ist israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist und hat diesen Beitrag am 19. September geschrieben. Er war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer AutorInnen für die NRhZ rezensiert. Für die Übersetzung dieses Buches und des hier vorliegenden Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler.


Online-Flyer Nr. 478  vom 01.10.2014

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