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Kommentar
Der Misserfolg der Ja-Sager ändert den Lauf der Welt nicht, er verlangsamt ihn nur
Schottland am Euphrat
Von Uri Avnery

Zwei Länder wetteiferten in dieser Woche um den ersten Platz in den Nachrichten in aller Welt: Schottland und der Islamische Staat im Irak und in Syrien. Es könnte keinen größeren Unterschied geben als den zwischen diesen beiden Ländern. Schottland ist feucht und kalt, der Irak ist heiß und trocken. Schottland ist nach seinem Whisky benannt (oder umgekehrt), während der Genuss von Alkohol für ISIS-Kämpfer das Merkmal von Ungläubigen ist, die – im wörtlichen Sinn – den Kopf verlieren sollten. Beide Krisen haben jedoch einen gemeinsamen Nenner: Sie kündigen den Untergang des Nationalstaates an.
 

Schottlands Regierungschef Alex Salmond – ist
am Freitag zurückgetreten
NRhZ-Archiv
DER MODERNE NATIONALISMUS wurde wie andere große Ideen in der Geschichte aus einer Reihe damals neuer Lebensumstände geboren: den wirtschaftlichen, militärischen, geistigen und anderen, die die älteren Formen überholt hatten.
Am Ende des 17. Jahrhunderts genügten die damals vorhandenen Staaten den neuen Anforderungen nicht mehr. Kleine Staaten waren dem Untergang geweiht. Die Wirtschaft forderte einen sicheren Binnenmarkt, der so groß war, dass sich moderne Industrien entwickeln konnten. Neue Armeen brauchten eine Basis, die so stark war, dass sie Soldaten aufstellen und moderne Waffen bezahlen konnte. Neue Ideologien schufen neue Identitäten.
Die Bretagne und Korsika konnten nicht als unabhängige Gebilde bestehen. Sie mussten, um zu überleben, vieles von ihrer eigenständigen Identität aufgeben und sich dem großen und mächtigen französischen Staat anschließen. Andere machten es ebenso – jedes in seinem eigenen Tempo. Der Zionismus war ein später Versuch, das nachzuahmen.
Seinen Höhepunkt erreichte dieser Vorgang am Ende des Ersten Weltkrieges, als das Osmanische Reich und Österreich-Ungarn zerbrachen. Kemal Atatürk, der das islamische Kalifat gegen einen türkischen Nationalstaat eintauschte, war vielleicht der letzte große Ideologe der Idee vom Nationalstaat.
Aber damals alterte die Idee bereits. Die Realitäten, die sie geschaffen hatten, veränderten sich schnell. Wenn ich mich nicht irre, war es der französische Psychologe Gustave Le Bon, der vor hundert Jahren behauptet hat, jede neue Idee sei zu dem Zeitpunkt, an dem die Massen sie aufgenommen hätten, bereits veraltet. Der Vorgang verlaufe folgendermaßen: Jemand konzipiert eine Idee. Damit die Intellektuellen sie aufnehmen, braucht es eine Generation. Eine weitere Generation ist notwendig, damit die Intellektuellen die Massen darüber belehren. Wenn die Idee dann schließlich an die Macht kommt, haben sich die Lebensumstände, aus denen sie geboren worden ist, bereits verändert und eine neue Idee ist erforderlich.
Die Realität verändert sich sehr viel schneller als der menschliche Geist.
Zum Beispiel der europäische Nationalstaat. Als er schließlich nach dem Großen Krieg den Endsieg errungen hatte, hatte sich die Welt bereits verändert. Europäische Armeen, die einander mit Maschinengewehren niedergemäht hatten, hatten es nun mit Panzern und Kampfflugzeugen zu tun. Die Wirtschaft agierte weltweit. Der Flugverkehr brachte Entfernungen zum Verschwinden. Die moderne Kommunikation machte die Welt zu einem Dorf.
Der österreichische Adlige Richard Coudenhove-Kalergi berief 1926 einen paneuropäischen Kongress ein. Während der hoffnungslos altmodisch denkende Adolf Hitler dem Kontinent einen deutschen Nationalstaat aufzuzwingen versuchte, propagierte eine kleine Gruppe von Idealisten die Idee einer europäischen Union. Diese Idee verbreitete sich nach einem weiteren furchtbaren Weltkrieg.
Die Idee, die noch in den Kinderschuhen steckt, wird allgemein akzeptiert, sie ist jedoch schon wieder überholt. Die multinationale Wirtschaft, die sozialen Medien, der Kampf gegen tödliche Krankheiten, die Bürgerkriege und Völkermorde und die Umweltgefährdungen bedrohen den gesamten Planeten. Alles zusammen macht eine Weltregierung zwingend und dringlich. Allerdings ist das eine Idee, deren Verwirklichung noch sehr, sehr weit entfernt ist.
 
DAS VERALTEN des Nationalstaates hat zu einem paradoxen Nebenprodukt geführt: dem Auseinanderbrechen des Staates in immer kleinere Gebilde.
Während die Neigung der Welt zu immer größeren politischen und wirtschaftlichen Einheiten an Stärke gewinnt, fallen Nationalstaaten auseinander. Die kleinen Völker in aller Welt fordern Unabhängigkeit.
Das ist nicht so lächerlich, wie es erscheinen mag. Die Nationalstaaten entstanden, weil die Realitäten Gesellschaften einer gewissen Mindestgröße und -stärke notwendig machten. Aber inzwischen bewegen sich alle Hauptfunktionen des Staates in Richtung größerer Regionalvereinigungen. Wozu sollte also Korsika Frankreich noch brauchen? Wozu sollten die Basken Spanien brauchen? Wozu braucht Quebec Kanada? Warum sollte man also nicht mit Seinesgleichen in einem kleineren Staat zusammenleben, mit Menschen, die dieselbe Sprache wie man selbst sprechen?
Die Tschechoslowakei zerbrach friedlich. Nicht ganz so friedlich auch Jugoslawien. Ebenso Zypern, Serbien, der Sudan – und natürlich die Sowjetunion.
(Nebenbei will ich anmerken, dass das auch mit der Idee der sogenannten Ein-Staat-Lösung für unser kleines Problem in Israel/Palästina zu tun hat. In den letzten drei Generationen hat es in der ganzen Welt kein einziges Beispiel dafür gegeben, dass sich zwei verschiedene Völker freiwillig zu einem Staat zusammengeschlossen hätten.)
Das Referendum in Schottland ist eine der Eröffnungsszenen dieser neuen Epoche. Die Befürworter der Unabhängigkeit haben versprochen, dass Schottland der Europäischen Union und der Nato und vielleicht sogar der Eurozone beitreten könnte. Warum, so fragen sie, sollte Schottland also in der britischen Zwangsjacke stecken bleiben? Schließlich beherrscht Britannien ja nicht mehr die Meere!
Der Misserfolg der Abstimmung der Schotten für die Unabhängigkeit ändert den Lauf der Welt nicht. Er verlangsamt ihn nur, nachdem Regierungschef
Alex Salmond am Freitag enttäuscht zurückgetreten ist.
 
DER NATIONALISMUS war eine europäische Idee.
Sie schlug im ausgedörrten Boden der arabischen Welt niemals tiefe Wurzeln. Selbst in der Blütezeit des arabischen Nationalismus war niemals so ganz klar, ob ein Mann aus Damaskus sich in erster Linie als Syrer oder als Moslem, ob ein Mann aus Beirut sich als maronitischer Christ oder Libanese und ob ein Mann aus Kairo sich in erster Linie als Ägypter, Araber oder Moslem betrachtete.
Während des Unabhängigkeitskrieges Algeriens beklagte sich ein rechtsgerichteter französischer Politiker einmal bei mir: „Bevor wir Nordafrika erobert hatten, war Algerien niemals vereinigt! Wir haben die algerische Nation geschaffen!“ Er hatte vollkommen recht, allerdings zog er die falsche Schlussfolgerung daraus. Schon oft habe ich von engagierten Zionisten genau dasselbe über die palästinensische Nation gehört.
Die modernen arabischen Nationen wurden von europäischen Kolonisatoren erfunden. In jüngster Zeit ist es Mode geworden, die beiden mittelmäßigen Bürokraten - der eine Brite, der andere Franzose - Mark Sykes und Georges Picot zu nennen, die ein Geheimabkommen zur Aufteilung des Osmanischen Reiches aufgesetzt hatten. Sie und ihre Nachfolger schufen die Staaten Syrien, Irak, (Trans)Jordanien, Palästina usw.
Diese „Nationalstaaten“ waren recht künstlich. Die Europäer, die sie geplant hatten, verstanden sehr wenig von den dortigen Lebensumständen, Traditionen, Identitäten und der Kultur. Dies alles war ihnen auch recht gleichgültig. Der Irak wurde aus seinen verschiedenen Komponenten zusammengefügt, damit er den Interessen der Briten diente. Die seltsamen Ostgrenzen Jordaniens wurden für eine britische Öl-Pipeline von Mossul nach Haifa gezogen. Der Libanon, der als Heimat für Christen geschaffen worden war, wurde so umgeformt, dass er muslimische sunnitische und schiitische Gegenden umfasste, nur damit er größer würde. Al-Scham wurde von Jordanien, Palästina und dem Libanon abgetrennt und wurde zu Syrien. Später verlor es auch noch Alexandretta an die Türkei.
 
ALLE DIESE imperialistischen Manipulationen liefen muslimischer Geschichte und Tradition zuwider.
Jedes muslimische Kind erfährt in der Schule etwas über die weiträumigen muslimischen Reiche, die sich vom Norden Spaniens bis an die Grenzen Burmas und von den Toren Wiens bis in den Südjemen erstreckten. Dann muss das Kind auf die Landkarte der Winzig-Länder wie Jordanien und Libanon schauen. Es ist demütigend.
Zuerst gab es Bemühungen, die Araber unter dem Dach des Nationalismus zu vereinigen. Die Ba'ath-Partei strebte (wenigstens theoretisch) danach, einen einzigen panarabischen Staat zu schaffen. Dieses Credo wurde vom Helden der Massen, dem Ägypter und säkularen Militärdiktator Gamal Abd-al-Nasser, aufgenommen. Ein panarabischer Staat würde auch eine gewisse Gleichheit zwischen reichen Ölstaaten wie Saudi-Arabien und armen Ländern wie Ägypten schaffen.
Der Nasserismus schuf eine neue Ideologie. Der panarabische Nationalismus war "kaumi". Lokaler Patriotismus war "wotani". Die Gemeinschaft aller Muslime war die "umma".
(Hebräisch bedeutet das Wort „umma“ das Gegenteil: eine moderne Nation. Die Israelis sind ebenso verwirrt wie ihre Nachbarn. Wir müssen Prioritäten setzen. Sind wir in erster Linie Juden, Hebräer oder Israelis? Was genau bedeutet „der Nationalstaat des jüdischen Volkes“, den Benjamin Netanjahu propagiert?)
 
DIE ENORME Anziehungskraft der Bewegung, die sich jetzt „Islamischer Staat“ nennt, besteht darin, dass sie eine einfache Idee anbietet: alle verrückten, von den westlichen Imperialisten zu ihren eigenen Zwecken gezogenen Grenzen beseitigen und den klassischen panmuslimischen Staat, das Kalifat, wiedererschaffen.
Das scheint das Gegenteil des Auseinanderbrechens der europäischen Staaten zu sein, aber es bedeutet dasselbe: die vollkommene Absage an den Nationalstaat.
Diese Absage an sich gehört sowohl der Vergangenheit als auch der Zukunft an.
Sie glorifiziert die Vergangenheit. Mohammed und seine unmittelbaren Nachfolger (Kalif bedeutet Nachfolger) werden als makellose Menschen idealisiert, als die Verkörperung aller Tugenden, Menschen im Besitz der göttlichen Weisheit.
Das ist von der historischen Wahrheit weit entfernt. Alle drei unmittelbaren Nachfolger des Propheten wurden ermordet. Wegen des Streits um die Nachfolge spaltete sich der Islam in Sunniten und Schiiten und so ist es bis heute geblieben (jetzt sogar stärker denn je). Aber der Mythos ist stärker als die Wahrheit.
Zwar klammert sich die Bewegung Islamischer Staat (früher ISIS: der Islamische Staat von Irak und al-Scham) an die Vergangenheit, gleichzeitig ist sie aber sehr modern. Mit einem Schlag räumt sie den Tisch des Nationalstaates und seiner Derivate ab. Sie enthält eine eindeutige, einfache Idee, die von Muslimen allerorten leicht zu verstehen ist. Sie scheint äußerst überzeugend zu sein.
 
DIE REAKTION des Westens ist auf schon fast komische Weise unangemessen.
Leute wie Barack Obama und John Kerry und ihre Entsprechungen in ganz Europa verstehen überhaupt nicht, worum es eigentlich geht. Mit ihrer traditionellen europäischen Verachtung für die „Eingeborenen“ sehen sie nichts als kopf-abschlagende Terroristen. Sie scheinen wirklich zu glauben, dass sie eine revolutionäre neue Idee dadurch überwinden könnten, dass sie Koalitionen mit arabischen Diktatoren und korrupten Politikern schließen, die Rebellen bombardieren und lokale Söldner einstellen.
Das ist eine groteske Missinterpretation der neuen Realität. Inzwischen hat der IS mit nur einer Handvoll fanatischer und grausamer Kämpfer riesige Gebiete erobert.
 
WIE SOLL MAN darauf reagieren?
Offen gestanden: Ich weiß es nicht. Aber der erste Schritt der Menschen im Westen und ebenso der Israelis wäre, ihre Arroganz und Unwissenheit abzulegen und zu versuchen, das neue Phänomen, dem sie sie sich gegenübersehen, zu verstehen.
Sie stehen nicht „Terroristen“ gegenüber. Das magische Wort scheint alle Probleme zu lösen, ohne dass man seinen Verstand anstrengen müsste. Nein, sie stehen einem neuen Phänomen gegenüber.
Ein neues Kapitel in der Geschichte hat begonnen. (PK)
 
Uri Avnery, geboren am 10. September 1923 in Deutschland, ist israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist und hat diesen Beitrag am 19. September geschrieben. Er war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer AutorInnen für die NRhZ rezensiert. Für die Übersetzung dieses Buches und des hier vorliegenden Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler.


Online-Flyer Nr. 477  vom 24.09.2014

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