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Aktueller Online-Flyer vom 16. April 2024  

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Kommentar
Nach 50 Tagen ist der Krieg vorbei. Halleluja.
Der Krieg um nichts
Von Uri Avnery

Auf der palästinensischen Seite: 2.143 Tote, mehr als 577 von ihnen Kinder, 263 Frauen und 102 Alte. 11.230 Verletzte. 10.800 Gebäude zerstört. 8.000 Gebäude teilweise zerstört. Etwa 40.000 beschädigte Wohnungen. Unter den beschädigten Gebäuden: 277 Schulen, 10 Krankenhäuser, 70 Moscheen und 2 Kirchen. Auch 12 Demonstranten aus dem Westjordangebiet, die meisten von ihnen Kinder, wurden erschossen. Auf israelischer Seite: 71 Tote, darunter 64 Soldaten und ein Kind. Worum ging es eigentlich? Die ehrliche Antwort ist: um nichts. Keine der beiden Seiten wollte das. Keine der beiden Seiten hat angefangen. Es ist einfach so passiert.

Die drei entführten israelischen Religionsschüler
Quelle: tagesschau.de
 
WIR WOLLEN uns noch einmal die Ereignisse vergegenwärtigen, ehe sie in Vergessenheit geraten. Zwei junge arabische Männer entführten drei junge israelische Religionsschüler in der Nähe der Stadt Hebron im Westjordangebiet. Die Entführer gehörten zur Hamas-Bewegung, aber sie handelten selbstständig. Ihre Absicht war, ihre Gefangenen gegen palästinensische Gefängnisinsassen auszutauschen. Gefangene befreien ist jetzt der höchste Ehrgeiz jedes palästinensischen Kämpfers.
Die Entführer waren Amateure und ihr Plan misslang von Anfang an. Sie gerieten in Panik, als einer der Schüler sein Mobiltelefon benutzte, und sie erschossen die Geiseln. Ganz Israel war in Aufruhr. Die Entführer sind noch nicht gefunden worden.
Die israelischen Sicherheitskräfte benutzten die Gelegenheit, einen vorbereiteten Plan auszuführen. Alle bekannten Hamas-Aktivisten im Westjordanland wurden verhaftet, ebenso alle früheren Gefangenen, deren Freilassung Bestandteil der Befreiung der israelischen Geisel Gilad Schalit gewesen war. Für die Hamas war das der Bruch einer Vereinbarung.
Die Hamas-Führung im Gazastreifen konnte nicht ruhig mit ansehen, wie ihre Kameraden im Westjordanland eingesperrt wurden. Sie reagierte, indem sie Raketen auf israelische Städte und Dörfer abschoss.
Die israelische Regierung konnte nicht ruhig mit ansehen, wie ihre Städte und Dörfer bombardiert wurden. Sie reagierte mit einer schweren Bombardierung des Gazastreifens aus der Luft.
Von da an war es nur noch ein endloses Fest von Tod und Zerstörung. Der Krieg schrie förmlich nach einer Zielsetzung.
Dann tat die Hamas etwas, das meiner Ansicht nach ein Kardinalfehler war. Sie benutzte einige der geheimen Tunnel, die sie unter dem Grenzzaun hindurch gegraben hatte, um Ziele in Israel anzugreifen. Plötzlich wurden sich die Israelis dieser Gefahr bewusst, die die Armee heruntergespielt hatte. Der ziellose Krieg bekam ein Ziel: Er wurde der Krieg gegen die „Terror-Tunnel“. Die Infanterie wurde in den Gazastreifen geschickt, um die Tunnel ausfindig zu machen und zu zerstören.
Achtzigtausend Soldaten drangen in den Gazastreifen ein. Nachdem sie alle ihnen bekannten Tunnel zerstört hatten, hatten sie nichts weiter zu tun, als rumzustehen und als Ziele zu dienen.
Der nächste logische Schritt wäre gewesen, nach vorne zu gehen und den ganzen 45 km langen und im Durchschnitt 6 km breiten Gazastreifen mit 1,8 Millionen Bewohnern zu erobern. Er ist viermal so groß wie Manhattan Island mit etwa derselben Einwohnerzahl.
Aber die israelische Armee verabscheute den Gedanken, den Gazastreifen zum dritten Mal (nach 1956 und 1967) zu erobern. Als die Soldaten das letzte Mal abzogen, sangen sie „Leb wohl, Gaza, wir sehn uns nie mehr wieder!“ Voraussagen kündigten eine hohe Zahl von Todesopfern beim Militär an. Es waren mehr, als die israelische Gesellschaft, allen patriotischen Übertreibungen zum Trotz, zu erdulden bereit war. 
Der Krieg verschlimmerte sich zu einer Tötungs- und Zerstörungs-Orgie. Beide Seiten „tanzten im Blut“, segneten jede Bombe und jede Rakete und waren vollkommen blind für das Leiden, das Menschen auf der jeweils anderen Seite angetan wurde. Und immer noch ohne jedes erreichbare Ziel.
 
WENN CLAUSEWITZ recht damit gehabt hat, dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist, dann muss jeder Krieg ein deutliches politisches Ziel haben.
Für die Hamas war das Ziel eindeutig und einfach: die Blockade Gazas aufheben. 
Für Israel gab es keins. Benjamin Netanjahu erklärte, sein Ziel sei „Ruhe für Ruhe“. Aber die hatten wir, ehe alles anfing.
Einige seiner Kollegen in der Regierung forderten, er solle „bis ans Ende gehen“ und den gesamten Gazastreifen besetzen. Die Armeeführung lehnte ab und man kann keinen Krieg führen, der im Widerspruch zu den Wünschen der Armeeführung steht. Also standen alle herum und warteten auf Godot.
Wie ist es zu der letzten Waffenstillstandsvereinbarung gekommen?
Beide Seiten waren erschöpft. Auf israelischer Seite war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, die Notlage der Siedlungen um den Gazastreifens herum, im „Gaza-Briefumschlag“. Unter dem unaufhörlichen Trommelfeuer der Kurzstreckenraketen und – was noch schlimmer war – der Mörsergranaten, deren Herstellung so gut wie nichts kostet, begannen die Bewohner – die meisten waren Kibbuz-Mitglieder – stillschweigend in sicherere Gegenden umzuziehen.
Das war fast ein Sakrileg. Einer der Gründungsmythen Israels ist, dass im Krieg von 1948, als der Staat entstanden ist, arabische Dorfbewohner und Städter davonliefen, als auf sie geschossen wurde, während unsere Siedlungen mitten in der Hölle standhielten.
Das war allerdings nicht ganz so. Einige Kibbuze wurden auf Befehl der Armee evakuiert, als ihre Verteidigung unmöglich geworden war. Aus einigen anderen wurden Frauen und Kinder weggeschickt, während den Männern befohlen wurde zu bleiben und gemeinsam mit den Soldaten zu kämpfen. Aber im Ganzen hielten die Siedlungen stand und kämpften.
Aber der Krieg von 1948 war ein ethnischer Krieg um Land. Land, das verlassen worden war, war für immer verloren (oder wenigstens bis zum nächsten Krieg). Dieses Mal waren die Gründe ganz andere.
 
DAS LEBEN im „Briefumschlag“ wurde unmöglich. Die Sirenen heulten einige Male in einer Stunde und alle hatten dann 15 Sekunden Zeit, um einen Schutzraum aufzusuchen. Die Forderung nach Evakuierung wurde offen und laut geäußert. Hunderte von Familien zogen weg. Der Mythos wurde aufgegeben und die Regierung war gezwungen, einen Massenumzug zu organisieren. Das sah ganz und gar nicht nach Sieg aus.
Die palästinensische Seite erlebte ein schreckliches Martyrium. Etwa 400-tausend Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Ganze Familien fanden Unterschlupf in UN-Gebäuden, einige Familien in einem Raum oder in einem Winkel des Hofes. Elektrizität gab es nicht und nur sehr wenig Wasser. Betroffen waren auch Mütter mit 6, 7 oder 8 Kindern.
(Man stelle sich vor, was das bedeutet: Eine Familie, gleich ob arm oder reich, muss ihr Haus innerhalb von Minuten verlassen, sie kann nichts mitnehmen, keine Kleider, kein Geld, kein Familienalbum, sie können nur gerade noch ihre Kinder einsammeln und rennen, während hinter ihnen ihr Haus zusammenbricht. Arbeit und Erinnerungen eines ganzen Lebens sind in Sekunden vernichtet. Die jungen Männer waren längst weg, lebten in verborgenen Tunneln unter der Erde und bereiteten sich auf den entscheidenden Kampf vor.)
Es grenzt an ein Wunder, dass die Hamas-Regierung und ihre Kommandostrukturen unter diesen Umständen funktionierten. Befehle gingen von verborgenen Führern an verborgene Zellen, Kontakt mit den Führern im Ausland und zwischen den verschiedenen Organisationen wurde aufrechterhalten. Dabei kreisten am Himmel Spionagedrohnen und töteten jeden zivilen Führer oder Kommandeur, der sein Gesicht zeigte.
Nach der Aktion, die darauf zielte, den Militärkommandeur und Chef der Hamas Mohammad Deif zu töten (ob sie erfolgreich war oder misslungen ist, wissen wir nicht) begann die Hamas damit, die Informanten zu erschießen, ohne die derartige Aktionen unmöglich waren. (In meiner Zeit als Nachwuchsterrorist taten wir dasselbe.)
Aber trotz aller ihrer bemerkenswerten Genialität konnte die Hamas nicht ewig so weitermachen. Ihre großen Bestände an Raketen und Mörsergranaten waren erschöpft. Auch sie brauchten ein Ende.
Das Ergebnis? Eindeutig ein Unentschieden. Aber, wie ich schon früher gesagt habe, wenn eine kleine Widerstandsorganisation ein Unentschieden gegen eine der mächtigsten Militärmaschinen der Welt erreicht, hat sie einen Grund zum Feiern – und sie feierte tatsächlich am letzten Montag, dem 50. Tag des Krieges um nichts.
 
WAS HABEN die beiden Seiten verloren?
Die Palästinenser haben riesige materielle Verluste erlitten. Tausende Häuser wurden zerstört, um sie zu entmutigen. Einiges geschah unter einigen mageren Vorwänden, andere ganz und gar ohne Vorwand. In den letzten Tagen zerstörte die Luftwaffe systematisch die luxuriösen Hochhäuser im Zentrum von Gaza.
Auch der Verlust an Menschen war in Palästina enorm. Die Israelis haben darüber keine Träne vergossen.
Auf israelischer Seite waren die Verluste an Menschen und Material vergleichsweise gering. Die ökonomischen Verluste waren bedeutend, aber erträglich. Vor allem anderen jedoch zählen die unsichtbaren Verluste.
Die Delegitimierung Israels in der Welt beschleunigt sich. Millionen Menschen haben täglich die Bilder aus Gaza gesehen und ihr Bild von Israel hat sich, bewusst oder unbewusst, verändert. Für viele hat sich das „tapfere kleine Land“ in ein brutales Ungeheuer verwandelt.
Man sagt uns, dass der Antisemitismus gefährlich wachse. Israel erhebt den Anspruch, der Nationalstaat des jüdischen Volkes zu sein, und die meisten Juden verteidigen Israel und identifizieren sich mit ihm. Die neue Wut gegen Israel sieht manchmal wie der Antisemitismus aus alter Zeit aus – und manchmal ist er es auch.
Wir wissen nicht, wie viele Juden vom Antisemitismus nach Israel getrieben werden. Und wir wissen ebenso wenig, wie viele Israelis durch den ewigen Krieg aus Israel nach Deutschland, den USA und Kanada getrieben werden.
Es besteht die Neigung, den gefährlichsten Aspekt zu übersehen: In Gaza ist eine riesige Menge Hass geschaffen worden. Wie viele der Kinder, die wir mit ihren Müttern aus den Häusern haben weglaufen sehen, werden wohl morgen „Terroristen“ werden?
Millionen Kinder in der gesamten arabischen Welt haben die Bilder gesehen, die Al Jazeera täglich in ihre Häuser ausgestrahlt hat, und sie werden zu erbitterten Hassern Israels. Al Jazeera ist eine Weltmacht. Während sich sein englischsprachiger Sender um Mäßigung bemühte, war der arabische Sender ungebremst – Stunde für Stunde zeigten seine Berichte die herzzerreißenden Bilder aus Gaza: getötete Kinder, zerstörte Häuser.
Auf der anderen Seite ist die Allianz der generationenalten Feindschaft arabischer Regierungen gegen Israel zerbrochen: Ägypten, Saudi-Arabien und alle Golfstaaten (außer Katar) arbeiten jetzt offen mit Israel zusammen.
Kann das in der Zukunft politische Früchte tragen? Es könnte, wenn unsere Regierung wirklich am Frieden interessiert wäre.
In Israel selbst hat der widerliche und unmissverständliche Faschismus sein hässliches Haupt erhoben. „Tod den Arabern“ und „Tod den Linken“ sind zu legitimen Schlachtrufen geworden. Einige dieser verderblichen Wellen werden hoffentlich abebben, aber einige bleiben vielleicht und werden zu festen Bestandteilen.
Netanjahus persönliches Schicksal ist mit Wolken verhangen. Während des Krieges stiegen seine Beliebtheitswerte stark. Jetzt sind sie im freien Fall. Es genügt nicht, Reden über einen Sieg zu halten. Der Sieg muss zu sehen sein. Wenn möglich, nicht nur unter dem Mikroskop.
 
KRIEG ist eine Sache der Macht. Die auf dem Schlachtfeld geschaffene Realität spiegelt sich in den politischen Ergebnissen. Wenn die Schlacht mit einem Unentschieden endet, dann wird auch das politische Ergebnis ein Unentschieden sein.
Über das Bild des Sieges hat schon der König von Epirus, Pyrrhus gesagt: „Noch ein solcher Sieg und wir sind verloren!“ (PK)
 
Uri Avnery, geboren am 10. September 1923 in Deutschland, ist israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist und hat diesen Beitrag am 29. August geschrieben. Er war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat eine unserer AutorInnen für die NRhZ rezensiert. Für die Übersetzung dieses Buches und des hier vorliegenden Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler.
 


Online-Flyer Nr. 474  vom 03.09.2014

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