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Literatur
Adalbert Pohl: "Felsenburgs Untergang oder vom Ende aller Utopien"
Revolutionäre Rentner kämpfen ums Überleben
Buchempfehlung von Brigitte Evers

Der Roman beginnt mit der Rückkehr des rheinländischen Architekten Matthias Schmidt von einer zehnjährigen Weltreise als Einhandsegler. Das Paradies, das der nunmehr 69-jährige Individualist für seinen Lebensabend gesucht hatte, war ihm auf seiner langen abenteuerlichen Reise aber nicht begegnet. Er beschließt also, nach Deutschland zurückzukehren. Da Europa und die meisten westlichen Industrienationen ihre Außengrenzen inzwischen vollständig gegen die zunehmende Armutsflucht aus der dritten Welt abgeschottet haben, muss er aus Mangel eines gültigen Ausweises die Verfolger des Marine-Grenzschutzes durch geübte Segelmanöver abhängen, um in die heimatliche Nordsee einfahren zu können.
 
Er findet glücklicherweise geduldeten Unterschlupf in einem holländischen Segelhafen, wo er dem älteren deutschen Arzt Johann Brinkmann begegnet. Der erzählt ihm nicht nur seine wechselvolle Lebensgeschichte, sondern klärt ihn auch über die gegenwärtigen Verhältnisse auf. Deutschland hat sich zu einem gleichgeschalteten Überwachungsstaat mit einer unmoralischen Staatsphilosophie entwickelt, die nicht nur jeden Widerspruch im Keim erstickt, sondern auch die Gesellschaft bis in ihre Keimzellen bestimmt. Alle Senioren werden im Alter von 68 Jahren in Einschläferungsanstalten ermordet, da sie als gesellschaftliche Parasiten betrachtet werden. Somit hat auch Matthias dort keine Lebensberechtigung mehr. Sämtliche Buchbestände wurden vernichtet und digitalisiert und stehen nur unter strengsten Auflagen und Kontrollen zur Verfügung.
 
Wider alle Warnungen seines neuen Freundes Johann will der Bücherwurm Matthias noch ein letztes Mal nach Deutschland zurückkehren. Denn in seinem Haus, in dem der einzige Sohn mit Frau und Kindern lebt, hatte er eine kostbare Bibliothek, die er nun unbedingt retten will. Er besorgt sich einen falschen Pass, mit dem er sich als jüngerer Mann ausweisen kann, und reist nach Hause.
 
Sowohl sein im hohen Staatsdienst stehender Sohn Rainer, der dem Vater feindlich begegnet, als auch dessen unzufriedene belesene Frau Regine, die heimlich Matthias’ Bibliothek an einem delikaten Ort versteckt hält und mit ihm ein Verhältnis beginnt, werden auf ihre Weise den weiteren Handlungsverlauf bestimmen. Matthias kann dort nichts ausrichten und flieht resigniert zurück zu Johann, wohin ihm später Regine mit seinen Büchern durch Mithilfe eines Schleusers folgt.
 
Dort wird ihnen bald das holländische Asyl gekündigt und Matthias und Regine gehen gemeinsam auf große Fahrt. Der Fluchtversuch des bis dahin notorischen und zur Bequemlichkeit neigenden Eigenbrötlers mit Regine scheitert im Sturm. Die Segeljacht kentert und sie stranden wieder an der heimatlichen Küste, wo sie aufgegriffen und ins Gefängnis verschleppt werden.
 
Matthias kann sich während eines Verhörs durch seinen nun noch feindlicher gesinnten Sohn dessen Waffe greifen und mit ihm als Geisel aus dem Gefängnis fliehen. Er erkennt , dass er keine andere Möglichkeit mehr hat, als sich den gut organisierten bewaffneten „Revolutionären Rentnern“ anzuschließen, die im Untergrund um ihr nacktes Überleben kämpfen. Mit ihrer Hilfe kann auch Regine aus dem Gefängnis befreit werden.
 
Über die Biografien der Mitstreiter vermittelt der Autor geschickt einen kleinen subjektiven Abriss der politischen, gesellschaftlichen und sozialen Situation der jeweiligen Zeit, beginnend mit der 68-er Bewegung bis in die Buchgegenwart, die schätzungsweise im Jahr 2020 handelt. Sie dienen dem Autor ebenso wie die verschiedenen Rückblenden als logische Basis für die futuristische Gegenwartsszenerie.
 
Adalbert Pohl, hauptberuflicher Arzt in Köln, hat den Roman – trotz der etwas langatmigen Einleitung - über 400 Seiten hinweg spannend und vielschichtig aufgebaut. Die verschiedenen Handlungsstränge und Personen werden in oft überraschender Weise zusammen geführt. Pohls Erzählweise wechselt erfrischend zwischen dem Stil des klassischen Abenteuerromans im 18. Jahrhundert (Anlehnung an J.-G. Schnabels Roman „ Felsenburgs Untergang“, in dem eine Gesellschaftsutopie scheitert) und einem flapsig-ironisierenden Erzählstil, der häufig die Grenzen zum Sarkasmus streift und auch vor dem Gebrauch von Vulgär-Begriffen nicht zurückschreckt (Anlehnung an den im Roman erwähnten Lyriker Paul Zech, der dem Genre des literarischen Expressionismus zugeordnet wird). Auch Pohl`s schriftstellerisches Vorbild Arno Schmidt, den er in der Widmung als „Heideschriftsteller“ erwähnt, scheint immer wieder durch.
 
Dem Protagonisten Matthias Schmidt fehlt es zwar nicht ganz an selbstkritischer Distanz, er bleibt aber im Wesentlichen der selbstüberzeugte kecke, clevere und einsame Held, der sich im Bewusstsein der Gefahren und seiner altersbedingt zunehmenden Einschränkungen schließlich organisiert und nicht mehr nur auf seine eigenen Stärken und Fähigkeiten verlässt. Adalbert Pohl nimmt die Leserin / den Leser bis zum bitteren Finale des Romans mit und versteht es zu fesseln. (PK)
 
Adalbert Pohl: "Felsenburgs Untergang oder vom Ende aller Utopien". Edition Octopus im Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG Münster 2004 / 2. Auflage 2005, ISBN 3-937312-92-7, 20,80 Euro.


Online-Flyer Nr. 473  vom 27.08.2014



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