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Aktueller Online-Flyer vom 24. April 2024  

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Kommentar
Unsere Führer leben immer noch in dieser fantasierten Wirklichkeit
Die Wacht am Jordan
Von Uri Avnery

Die arabische Welt ist in Aufruhr. Syrien und der Irak brechen auseinander, der tausend Jahre alte Konflikt zwischen muslimischen Sunniten und muslimischen Schiiten erreicht einen neuen Höhepunkt. Ein historisches Drama spielt sich um uns herum ab. Und wie reagiert unsere Regierung darauf? Benjamin Netanjahu drückt es kurz und knapp aus: „Wir müssen Israel am Jordan verteidigen, bevor sie bis nach Tel Aviv kommen.“ Einfach, knapp, idiotisch.
 

Benjamin Netanjahu: "Israel am Jordan verteidigen…"
NRhZ-Archiv
ISRAEL VERTEIDIGEN? Gegen wen? Natürlich gegen ISIS. ISIS ist der islamische Staat Irak und Scham – eine neue Kraft in der arabischen Welt. Scham ist Großsyrien. Es ist der traditionelle arabische Name des Gebiets, das die gegenwärtigen Länder Syrien, Libanon, Jordanien, Palästina und Israel umfasst. Zusammen mit dem Irak bildet es das, was die Historiker den Fruchtbaren Halbmond nennen, die grüne Region um den oberen Teil der menschenleeren arabischen Wüste.
Die längste Zeit in der Geschichte war der Fruchtbare Halbmond ein einziges Land und gehörte zu aufeinanderfolgenden Reichen. Assyrer, Babylonier, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner, Araber, Osmanen und viele andere hielten das Land zusammen, bis die beiden ausländischen Herren Sir Mark Sykes und Monsieur Francois Georges-Picot sich daran machten, es ihren eigenen imperialen Interessen gemäß zu zerschneiden. Das geschah im Ersten Weltkrieg, der durch ein Attentat ausgelöst wurde, das sich letzte Woche vor 100 Jahren ereignet hat.
Mit unglaublicher Missachtung der Völker, der ethnischen Ursprünge und der religiösen Identitäten schufen Sykes und Picot Nationalstaaten, wo es keine Nationen gab. Sie und ihre Nachfolger, insbesondere Gertrude Bell, T.E. Lawrence und Winston Churchill, packten drei ganz unterschiedliche Gemeinschaften zusammen, schufen damit den „Irak“ und importierten einen ausländischen König aus Mekka. 
„Syrien“ wurde Frankreich zugeteilt. Ein Kommissar nahm eine Landkarte und einen Bleistift und zeichnete mitten in die Wüste zwischen Damaskus und Bagdad eine Grenze ein. Dann zerschnitten die Franzosen Syrien für Sunniten, Alawiten, Drusen, Maroniten usw. in einige kleine Ministaaten. Später schufen sie Großlibanon und errichteten dort ein System, in dem sie maronitische Christen über die von ihnen verachteten Schiiten setzten.
Die Kurden, die tatsächlich eine Nation waren, wurden in vier Teile geteilt, von denen jeder einem anderen Land zugesprochen wurde. In Palästina wurde eine zionistische „nationale Heimat“ inmitten einer feindlichen arabischen Bevölkerung geplant. Das Land jenseits des Jordans wurde abgetrennt, um einem weiteren Emir von Mekka ein Fürstentum zu bieten.
Dies ist die Welt, in der wir aufgewachsen sind und die jetzt zerfällt.
 
DAS, WAS ISIS jetzt zu tun versucht, ist einfach, alle diese Grenzen zu beseitigen. Damit legt er die grundlegende Trennung zwischen Sunniten und Schiiten bloß. Er will ein vereinigtes sunnitisch-muslimisches Kalifat.
ISIS hat es mit riesigen fest verwurzelten Interessen zu tun und wird wahrscheinlich scheitern. Aber er sät etwas, das viel dauerhafter ist: eine Idee, die sich im Geist vieler Millionen Menschen festsetzen kann. Diese Idee kann in 25, 50 oder hundert Jahren Früchte tragen. Sie kann die Impulsform der Zukunft sein.
Wir sehen, was sich da entwickelt, und fragen uns: Was sollten wir tun?
Für mich ist die Antwort ziemlich eindeutig: Frieden schließen, und zwar schnell, solange die arabische Welt so ist, wie sie jetzt ist.
„Frieden“ bedeutet nicht nur Frieden mit dem palästinensischen Volk, sondern mit der gesamten arabischen Welt. Die arabische Friedensinitiative, die sich auf die Initiative des (damaligen) Saudi-Kronprinzen gründet, liegt noch auf dem Tisch. Sie bietet vollen und bedingungslosen Frieden mit dem Staat Israel als Gegenleistung zur Beendigung der Besetzung und der Schaffung des selbstständigen Staates Palästina. Die Hamas hat dem unter der Bedingung, dass die Palästinenser das in einem Volksentscheid annehmen, offiziell zugestimmt.
Es wird nicht leicht sein. Viele Hindernisse müssen überwunden werden. Aber es ist möglich. Und es ist der reine Wahnsinn, es nicht zu versuchen. JETZT!
 
DIE REAKTION unserer Führung ist genau das Gegenteil.
Die geschichtlichen Ereignisse und ihre Hintergründe interessieren sie „ebenso wenig wie eine Knoblauchschale“, wie wir hebräisch sagen.
Ihr Interesse ist vollkommen auf den Versuch konzentriert, am Westjordanland festzuhalten, und das bedeutet: die Schaffung eines palästinensischen Staates verhindern. Das wiederum bedeutet: Frieden verhindern.
Die sicherste Weise, Frieden zu verhindern, ist, am Jordantal festzuhalten. Kein palästinensischer Unterhändler wird dem Verlust des Jordantals – entweder durch direktes Annektieren durch Israel oder durch die „vorläufige“, beliebig lange Stationierung israelischer Soldaten - jemals zustimmen.
Das würde nicht nur den Verlust von 25% des Westjordanlandes (das im Ganzen 22% des historischen Palästinas ausmacht) und seines fruchtbarsten Teils, sondern auch das Abschneiden des zukünftigen palästinensischen Staates von der übrigen Welt bedeuten. Der Staat Palästina würde zu einer Enklave innerhalb Israels, die von allen Seiten von Gebieten in israelischer Hand umgeben wäre. Sehr ähnlich wie seinerzeit die südafrikanischen Homelands.
Als Ehud Barak das in der Konferenz in Camp David vorschlug, war es das Ende der Verhandlungen. Das Äußerste, dem die Palästinenser hätten zustimmen können, wäre eine vorübergehende Stationierung von UN- oder amerikanischen Soldaten dort gewesen.
In dieser Woche tauchte die Forderung nach dem Jordantal plötzlich wieder auf. Das Bild war einfach. ISIS stürmt von seiner syrisch-irakischen Basis nach Süden. Er wird den ganzen Irak überrennen. Von dort aus wird er in Jordanien eindringen und auf der anderen Seite des Jordans auftauchen.
Wie Netanjahu gesagt hat: Wenn ISIS nicht von der permanenten israelischen Garnison dort aufgehalten wird, werden sie vor den Toren Tel Avivs erscheinen (nur dass Tel Aviv keine Tore hat).
Logisch? Selbstverständlich? Unausweichlich? Völliger Unsinn!
Militärisch ist ISIS eine zu vernachlässigende Größe. Er verfügt weder über eine Luftwaffe noch über Panzer noch über Artillerie. Der Iran und die USA sind gegen ISIS. Im Vergleich damit ist sogar die irakische Armee noch eine mächtige Truppe. Dann: Die jordanische Armee ist alles andere als schwach.
Außerdem: Wenn ISIS auch nur daran denken würde, das jordanische Königreich zu bedrohen, würde die israelische Armee ISIS nicht am Jordan erwarten. Die israelische Armee würde von den Jordaniern zur Hilfe gerufen – wie damals im Schwarzen September 1970, als Golda Meier, die gemäß den Befehlen Henry Kissingers handelte, die sich nähernde syrische Armeekolonne warnte, Israel werde in Jordanien einmarschieren, um den Syrern zuvorzukommen. Das genügte.
Schon die Idee, dass israelische Soldaten den Schutzwall im Jordantal beziehen und Israel gegen ISIS (oder irgendjemand anderen) verteidigen würde, ist der reine Irrsinn. Sogar noch irrsinniger als die berüchtigte Bar-Lev-Linie, die die Ägypter 1973 am Suezkanal aufhalten sollte. Sie fiel innerhalb von Stunden. Dabei war die Bar-Lev-„Linie“ – sie erinnert an die (nutzlose) französische Maginot-Linie und die (nutzlose) deutsche Siegfried Line („Westwall“) im Zweiten Weltkrieg – im Gegensatz zum Jordantal weit vom Zentrum Israels entfernt.
Die israelische Armee hat Raketen, Drohnen und andere Waffen, die einen Feind auf der Stelle aufhalten würden, noch sehr lange bevor er möglicherweise den Jordan erreichen könnte. Die Masse der israelischen Armee könnte sich innerhalb weniger Stunden vom Meeresufer wegbewegen und den Fluss überqueren.
Diese ganze Denkweise zeigt, dass unsere rechten Politiker – wie vermutlich der große Teil ihrer Gesinnungsgenossen in der Welt – noch im 19. Jahrhundert leben. Wenn ich weniger freundlich gestimmt wäre, würde ich sagen: im Mittelalter. Sie könnten ebenso gut mit Pfeil und Bogen ausgerüstet sein.
(Das Ganze erinnert mich irgendwie an das deutsche Soldatenlied aus dem 19. Jahrhundert: „Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!/ Wer will des Stromes Hüter sein?/ Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,/ Fest steht und treu die Wacht am Rhein!/ Der deutsche Jüngling, fromm und stark,/ Beschirmt die heil’ge Landesmark.“)
 
ZURÜCK in die Zukunft.
Die Kreuzfahrer errichteten ihr Königreich in Palästina, als die arabische Welt zersplittert war. Ihr großer Gegner, der Kurde Salah-al-Din al-Ayubi (Saladin), hatte der Einigung der arabischen Welt Jahrzehnte seines Lebens gewidmet, bevor er die Kreuzfahrer auf dem Schlachtfeld bei Hattin besiegte.
Heute scheint die arabische Welt zersplitterter denn je. Aber eine neue arabische Welt nimmt Gestalt an; ihre Konturen kann man vorläufig erst undeutlich wahrnehmen.
Unser Ort ist innerhalb der neuen Realität und nicht außerhalb von ihr, sodass wir sie von dort aus betrachten könnten.
Leider sind unsere Führer ziemlich unfähig dazu, das zu sehen. Sie leben immer noch in der Welt von Sykes und Picot, einer Welt ausländischer Potentaten (jetzt amerikanischer). Für sie ist der Aufruhr um uns herum – na gut, eben ein Aufruhr.
Der Gründer des modernen Zionismus schrieb vor 118 Jahren, wir sollten in Palästina als Pioniere der europäischen Kultur dienen und „einen Wall gegen die Barbarei Asiens“ bilden.
Unsere Führer leben immer noch in dieser fantasierten Wirklichkeit, die [von Ehud Barak] neu formuliert „eine Villa im Dschungel“ heißt. 
Was ist also zu tun, wenn sich uns die Raubtiere im Dschungel nähern und brüllen? Natürlich höhere Mauern bauen.
Was denn sonst? (PK)

Uri Avnery, geboren am 10. September 1923 in Deutschland, ist israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist. Er war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat einer  unserer Autoren für die NRhZ rezensiert. Für die Übersetzung dieses Buches und des hier vorliegenden Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler.
 


Online-Flyer Nr. 466  vom 09.07.2014

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