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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Globales
Von einer islamischen Sekte zu einer islamistischen Söldnerbande
Boko Haram in Nigeria
Von Georges Hallermayer

Während der Übertragung des WM-Spiels Brasilien gegen Mexiko in einem Public-Viewing-Stadion im Norden Nigerias wurden am Dienstag vergangener Woche     Zuschauer getötet und      verletzt. Im Norden Nigerias kämpft die Extremistengruppe Boko Haram (1) für einen islamistischen Staat. Bei Anschlägen auf Polizei, Armee und Behörden, aber auch auf Kirchen und Schulen wurden seit 2009 in Nigeria tausende Menschen getötet. Im April hatten die Terroristen 200 Schülerinnen entführt. Wegen der Bedrohung durch Boko Haram haben einige nigerianische Staaten öffentliche TV-Übertragungen verboten.




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Bewaffnete Boko Haram-Kämpfer
Quelle: www.onislam.net
 
Nigeria ist ein reiches Land, reich an Menschen, mit über 170 Millionen das bevölkerungsreichste Land Afrikas, reich an Bodenschätzen und landwirtschaftlicher Nutzfläche. Nigeria besitzt die größten Erdölvorkommen Afrikas und ist der sechstgrößte Erdölexporteur der Welt. Die größte Wirtschaftsmacht Afrikas ist abhängig vom Öl, was der Export illustriert: Exporterlöse: 88 Prozent für Öl und 9 Prozent für Erdgas. Die jährlichen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts betrugen zwischen 2005 und 2013 durchschnittlich 6,8 Prozent - was im laufenden Jahr nach Schätzungen des Weltwährungsfonds mit 7,4 Prozent noch übertroffen werden dürfte.
 
Motoren dieses Wachstums sind – wie in anderen afrikanischen Ländern auch – die mobile Telekommunikation, die 167 Millionen Anschlüsse zählt, aber auch ein nigerianisches Alleinstellungsmerkmal in Afrika: die Filmwirtschaft – "Nollywood" - die jährlich 590 Millionen Dollar Umsatz macht, wie Robert Orya, der Chef der nigerianischen Import-Export-Bank sagt. Den kapitalistischen Wirtschaftsmotor schmierte die Weltbank Ende April mit einem Kredit von 8 Milliarden Dollar für den Bau von Kraftwerken und den Aufbau eines Stromnetzes, noch bevor der chinesische Premierminister Li Keqiang auf seiner Afrikareise die Hauptstadt Nigerias besuchte. Die indische Export-Importbank (Eximbank of India) machte hinterher einen 100-Millionen-Kredit locker. Die Hauptstadt Lagos ist weltweit auf Platz 32 in der aktuellen TOP-Liste von A.T. Kearney gerückt, die die "Wachstums-Megalopole“ nach "Humankapital, ökonomische Aktivität und Innovation“ einstuft.
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In Klassen und regional gespalten
 
Der Kontrast zwischen Arm und Reich ist für Europäer unvorstellbar. Und nicht minder krass zeigt sich der Kontrast zwischen dem agrarischem, zum Teil noch feudal strukturierten, mehrheitlich muslimischen Norden und dem industriell entwickelten, monopolkapitalistischen, mehrheitlich christlichen Süden.
 
Auf der einen Seite leben etwa zwei Drittel der Bevölkerung, zumeist auf dem Land und in den Slums der Großstädte, unter der von der UNO definierten Armutsgrenze von 2 US-$ Einkommen täglich. Die Lebenserwartung beträgt knapp 52 Jahre, die Mütter- und Säuglingssterblichkeit ist eine der höchsten auf der Welt, die Analphabetenrate der Frauen beträgt 44 Prozent (der Männer 28 Prozent). Von dem 193.200 km umfassenden Straßennetz sind nur 15 Prozent geteert. Wenn man überhaupt (in der Stadt) Stromanschluss hat, sind tägliche Stromabschaltungen normal - nur 5000 MW leisten die Kraftwerke des Landes - zum Vergleich produziert Südafrika 44.000 MW bei nur einem Drittel der Bevölkerung. Die Kraftwerksleistung müsste also um 400 Prozent ausgebaut werden, nur um den Standard Südafrikas zu erreichen.
 

Aliko Dangote, der reichste Mann Afrikas
Quelle: wikipedia
Auf der anderen Seite hat sich die bürgerliche Klasse im Süden, in der Ölmetropole und Hafenstadt Lagos und in der Hauptstadt Abudja, insbesondere durch den Ölboom ab den 90er Jahren ungeheuer bereichert: Da wäre einmal die „klassische“ Kompradorenbourgoisie zu nennen, die die Geschäfte der Multinationalen Konzerne (Öl und andere Bodenschätze) betreibt. Aber größere Bedeutung hat die „nationale“ Bourgeoisie gewonnen, die in den letzten Jahrzehnten insbesondere in Handel und Finanzwirtschaft, in Telekommunikation und Filmwirtschaft tätig war. So kommt der reichste Mann Afrikas aus Nigeria: Aliko Dangote (56) mit 20,2 Milliarden US-Dollar Vermögen. Die Dangote-Gruppe, ein Industriekonglomerat, ist unter anderem der größte Zementproduzent des Kontinents. Und drei weitere Nigerianer „zieren“ die Liste der TOP 10 Afrikas: Mike Adenuga mit 8 Milliarden Dollar (Öl, Telekom). Die Modekönigin Folorunsho Alakija hat ihr Vermögen (7,3 Milliarden Dollar) auch in der Öl- und der Druckindustrie gemacht. Der Tycoon Gilbert Chagoury leitet ein Industriekonglomerat mit einem Vermögen von 4,2 Milliarden Dollar im Rücken.
 
Dabei sind die politische (und militärische) Elite und ihre Clans nicht zu vergessen, die ihren Anteil an den Geschäften über diverse Firmen auf diversen Konten einsacken. Wie das funktioniert, kann man am Beispiel Tunesiens und seines gestürzten Präsidenten Ali nach 24 Jahren Präsidentschaft nachvollziehen: Die Beschlagnahme-Kommission schätzte den Gesamtwert des gesamten Hab und Guts des Clans von Ben Ali auf mindestens 13 Milliarden US-Dollar, etwa einem Viertel des tunesischen Bruttosozialprodukts 2010.So ist durchaus verständlich, dass in Burkina Faso Präsident Blaise Compaoré, der sich1987 nach der Ermordung von Thomas Sankara an die Macht geputscht hatte, erneut die Verfassung ändern will, um nochmal antreten zu können. Selbst Christiane Lagarde, der Chefin des Weltwährungsfonds, hat sich – ganz allgemein – Ende Mai dagegen ausgesprochen. Dem Präsidenten Senegals Abdoulaye Wade konnte 2012 eine dritte Amtszeit nach großen Protesten verwehrt werden.
 
Streit um Anteil an der Bodenrente – Islamisierung als Waffe
 
Mit dem Ende der Militärdiktatur 1999 sahen die lokalen herrschenden Oligarchen-Clans im muslimischen Norden Nigerias ihre Felle davon schwimmen. Hatten sie doch bis dahin die Bundesregierung, das Militär und die Ölmilliarden kontrolliert. Denn 1999 wurde ein christlicher Präsident aus dem christlichen Süden gewählt: Olusegun Obasanjo, 1976 – 1979 schon mal Präsident von Militärs Gnaden. Die Reaktion der Oligarchen im Norden ließ nicht lange auf sich warten: die Wiedereinführung der Scharia, wie sie schon in den guten alten, vorkolonial-feudalen Zeiten bestand – eine religionspolitische Waffe im Widerstand gegen die Zentralregierung in Abuja. Und diese Auseinandersetzungen setzten sich auch unter dem Nachfolger, Präsident Umaru Yar’Adua (2007- 2010) und nach dessen Tod unter Goodluck Jonathan fort.
 
Der Gouverneur von Zamfira preschte im Januar 2000 vor, weitere elf Bundesstaaten folgten. In neun davon wird die Scharia voll angewendet, während sie in den drei Bundesstaaten Borno, Yobe und Gombo nur in persönlichen Angelegenheiten, aber nicht im Strafrecht vollzogen wird. In den Provinzen Kaduna, Gombe und Niger gilt die Scharia nur in Gemeinden mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung. Aber das islamische Recht gilt für alle, auch für Christen und Atheisten: Auf Alkoholkonsum steht Auspeitschen. Wer stiehlt, dem wird die Hand abgeschlagen. Die Frau, die fremd geht, wird zu Tode gesteinigt. Die Scharia ist –was man hierzulande nicht vergessen sollte – eine identitätstiftende Institution für eine Bevölkerung, die zu über drei Vierteln ungeheuer arm auf sich selbst gestellt von dem lebt, was ihr Boden hergibt - in einem Staatswesen ohne öffentlichen Dienst und Infrastruktur, aber mit endemischer Korruption - abgehängt von der boomenden Entwicklung im Süden.
 
Missionierung gegen Islamisierung
 
Dort organisierten protestantisch-fundamentalistische Gemeinden mit Sitz in den USA Proteste gegen die Einführung der Scharia, auch internationale Kampagnen gegen die erwähnten barbarischen Strafen. Christliche Sekten und Kulte nahmen an Einfluss zu, stemmten sich gegen die Islamisierung. Die „Mähdrescher Gottes“ wurden sie genannt, die Nationalstraße in den muslimischen Norden war mit christlichen Heilsbotschaften bepflastert. Sie propagierten kreuzzugartig einen streng bibeltreuen Glauben und versprachen das Heil auf Erden. Die Evolutionslehre wird als Blasphemie abgetan. Homosexualität ist widernatürlich – wie sich die fundamentalistische Irrationalität gleicht. Kondome? Um Gottes willen, nicht einmal im HIV-geplagten Afrika. Das Geschäft mit der christlichen Religion boomte. „Papa“ David Oyedepo mit seiner „Winners‘ Church" schaffte es sogar ins Ministeramt und in die Forbes` Top-Liste als Afrikas reichster Prediger. Andererseits half (und hilft) die calvinistische Prädominationslehre, wonach geschäftlicher Erfolg ein Heilszeichen Gottes sei, der christlichen Elite im Süden, über Armut, Not und Elend hinwegzusehen.
 
Kampf um Wasser und Boden
 
Für das Gemeinwesen zeigte die Islamisierung der Gesellschaft überall dort verheerende Folgen, wo Christen und Muslime, Yoruba, Haussa-Fulani, Igbo und kleinere Ethnien, nebeneinander lebten und in einem von einer korrupten Clique ausgeplünderten Staat - sei es in der Hauptstadt, sei es in der Provinz - aus der Not heraus um Zugang zu Wasser und Verfügungsrechte über Grund und Boden in Streit gerieten. So haben – um nur ein Beispiel herauszugreifen – im Januar 2014 Fulani im Bundesstaat Plateau ein Dorf angezündet, an die 30 Bewohner niedergemacht und das Vieh fortgetrieben. 
 
Eine andere Quelle blutiger Auseinandersetzungen: Konflikte zwischen nomadisierenden muslimischen Viehzüchtern und christlichen Ackerbauern führten und führen immer noch zu blutigen Mordzügen, wie im April, als im Bundesstaat Taraba Peuls-Viehzüchter über 50 christliche Jukun-Ackerbauern umbrachten.
 
Die barbarischen Strafen der Scharia provozierten die andersgläubigen Mitbürger zu Protesten bis zu hin zu Straßenschlachten. 2001 kosteten die Zusammenstöße in Jos (an dem unsichtbaren Saum zwischen Nord und Süd) über 1000 Menschen das Leben. Wie schon die Kolonialherren setzten die neuen Herren (neben der Christianisierung) auf Segregation „Teile und herrsche“. Mittlerweile leben in Großstädten wie Kano oder Kaduna die Ethnien und Religionen in getrennten Wohnvierteln. (Das Nachbarland Cote d’Ivoire zerschnitt der Bürgerkrieg um Macht und Herrschaft 2002 bis 2007 in einen muslimischen Norden und christlichen Süden.)
 
Die Wurzeln von Boko Haram
 
Auch wenn neuer Fremdenhass über die Angst vor dem Islam geschürt wird - der Islam und Koranschulen allein konnten nicht die Ursache des Aufstiegs von Boko Haram sein, weil ähnliche und noch schlimmere Gräuel sonstwo von Menschen begangen wurden, die nichts mit dem Islam zu tun hatten. Denken wir nur an den Holocaust, den Völkermord in Ruanda oder den der „Roten Khmer“ in Kambodscha.
 
Die Armut oder Mangel an Bildung scheiden als Begründung ebenso aus, denn einige Teile im Süden Nigerias, im Nigerdelta, sind nicht besser dran als der Norden. Und in diesen Gegenden gibt es nichts mit Boko Haram Vergleichbares. Auch wenn die Geschichte der im Süden, im Nigerdelta im Namen des Profits begangenen Verbrechen und der dagegen agierenden Widerstandsbewegungen noch zu schreiben ist – von einer Geschichte der Vertreibungen aus den Dörfern durch land-grabbing und Umweltzerstörung, der Sabotage an Pipelines und Geiselnahmen, von Öl-Diebstahl und Piraterie im Golf von Guinea ganz zu schweigen. Die Regierung Nigerias wusste nur eine Antwort: militärische Gewalt, die nur weitere Erbitterung nährte. Etwa zwanzigtausend Aufständische schrieben sich in ein mehrere Jahre laufendes Amnestieprogramm ein und wurden in die Armee eingegliedert bzw. bekamen Jobs nach dem Modell DDRR – Demobilisation, Desarmement, Rehabilitation & Reintegration – angeboten, aber nur 2.700 Waffen wurden abgegeben. Die aktuelle Amnestie mit ihren Integrationsmaßnahmen läuft zur Neuwahl des Präsidenten im Jahr 2015 aus.
 
Auch die spezielle Kombination von Armut und Islam mag eine attraktive Erklärung sein, aber bringt nichts, denn Armut grassiert in den nördlichen Regionen Nigerias schon sehr lange Zeit, und das furchtbare Banditentum von Boko Haram ist eine neue Erscheinung. Warum gibt es keinen Boko Haram in anderen von Armut bedrückten Gesellschaften wie Bahrein, Saudi-Arabien oder auf einer der über tausend Inseln Indonesiens, dem größten islamischen Land?
 
Aber alle diese Wurzeln zusammen ließen eine Variante des Fundamentalismus entstehen, die ähnlich wie der christliche Fundamentalismus irrational-fanatisch die Naturwissenschaften leugnet, voraufklärerische, d.h. mittelalterlich-feudale Gesellschaftsmodelle favorisiert und darin einen Ausweg aus der Misere verspricht. Ein politisch-ideologischer Reflex aus den Widersprüchen zwischen feudal-agrarischer Rückständigkeit und imperialistischer Ausbeutung, der sich gegen alles aus dem „Westen“ richtet.
 
2002 von dem populären und moderaten Führer Mohammad Yusuf in Maiduguri gegründet, war Boko Haram nur eine Gruppe von vielen, die die Islamisierung, die Durchsetzung der eingeführten Scharia insbesondere in „mixed countries“ durchzusetzen half. Protegiert von Teilen der politischen Elite im Norden, Zulauf aus der arbeits- und perspektivlosen Jugend, mit der Waffe in der Hand mit neuem Selbstwert und im Namen Allahs versuchten sie 2009 einen Aufstand – die Ausrufung eines islamischen Staates, der vom Militär brutal blutig niedergeschlagen wurde. Etwa 800 Sektenmitglieder wurden niedergemacht und Mohammad Yusuf kam mit anderen Führern im Polizeigewahrsam zu Tode. Unter seinem Nachfolger Aboubakar Shekau ging die Gruppe in den Untergrund. Mitglieder bekamen militärische Ausbildung in Somalia. Die Gruppe erweiterte ihren Aktionsradius über den Norden Nigerias hinaus und knüpfte Beziehungen zu der in Mali agierenden islamistischen Gruppe Aqmi. Sie finanzierte sich über Beraubung überfallener Dörfer, Geiselnahmen, über mafiöse Beteiligung am Drogenhandel und Menschenschleusungen, was nur unter Duldung von Teilen der örtlichen Honoratioren in Politik und Militär möglich sein konnte. Örtliche Selbstverteidigungsgruppen bildeten sich, waren aber den Angriffen nicht gewachsen, oftmals selbst Ziel. Boko Haram eskalierte seitdem einen Guerillakrieg auch gegen das Militär in einer Spirale der steigenden Gewalt, nachdem 2011 etwa hundert ihrer Ehefrauen (darunter die von Shekau) als Geisel genommen wurden. Ausnahmezustand in einzelnen Staaten des Nordens, die Konterattacken des Militärs samt „Kollateralschäden“ wurden zur Normalität mit der Folge, dass nicht nur Schulen und Kirchen brannten, Geiselnahmen sich häuften, Tausende Unschuldige ermordet und Schulen geschlossen wurden und nunmehr ganze Landstriche entvölkert sind. 350.000 Menschen sind geflohen, davon haben sich über 57.000 Flüchtlinge nach UNHCR-Angaben vom Mai 2014 in den Nachbarländern Tchad, Cameroun und Niger in Sicherheit gebracht. Zehntausausende von bäuerlichen Familien waren im Frühjahr gehindert, ihre Felder zu bestellen, so dass für Herbst eine Hungersnot angesagt ist. Dass das Internationale Rote Kreuz gehindert ist, seine Impfkampagnen weiterzuführen, sei als „Kollateralschaden“ angemerkt.
 
Verpatzter Wahlkampfauftakt
 
Im nächsten Jahr stehen Präsidentschaftswahlen an. Präsident Goodluck Ebele Jonathan, mit seiner PDP (Peoples Democratic Party) im Rücken rüstet sich zur dritten Amtszeit. Seine Wiederwahl schien sicher. Zum Auftakt seiner Vorwahlkampf-Kampagne sollte das Weltforum für Afrika die Bühne sein, auf der er sich als Führer der größten Wirtschaftsmacht Afrikas den Spitzen aus internationaler Politik und Wirtschaft präsentieren wollte. Die Entführung von beinahe zweihundert jungen (christlichen) Frauen aus ihrem Gymnasium mobilisierte die internationale Öffentlichkeit und machte dem Präsidenten einen Strich durchs Wahlkampfprogramm, stellt selbst seine Autorität und seine sicher geglaubte Wiederwahl in Frage.
 
Die Entführung macht offenkundig, dass Boko Haram ihren Aktionsradius über die Grenzen Nigerias hinaus ausgedehnt hat. Im östlichen Nachbarland Kamerun wurde eine Gruppe der entführten Mädchen gesichtet, Schmuggel von Waffen und Uniformen aus dem Tschad und Kamerun sind belegt. Im nördlich gelegenen Niger wurden Camps von Boko Haram vom dortigen Militär ausgehoben. Es wird eine Vernetzung mit Seleka in der Zentralafrikanischen Republik befürchtet.
 
„Boko Haram hat den Rubikon überschritten“
 
meinte Fasozine, die burkinische Tageszeitung. Unter dem Eindruck des internationalen Aufschreis setzten sich in Abudja zum ersten Mal alle an der Terrorbekämpfung beteiligten Instanzen zusammen: Präsident, Militär, Zentral- und Länderregierungen. Boko Haram hat eine Medienkampagne zur Destabilisierung des Landes losgetreten, die den USA erlaubt, ihre sogenannte Anti-Terrorpolitik, ihre Blutspur vom Irak über Libyen und Syrien zu legitimieren und ihre Dominanz in der zentralafrikanischen Zone von Africom einzurichten und weiteres Militär zu stationieren wie kürzlich im Tschad. Eine Politik, die in Somalia und in Afghanistan bewies, dass dieser Antiterror-Kampf die Lage nur verschlimmert, die Ursachen der Probleme aber nicht angeht. Der kleine Gipfel der französischen Regierung mit den Staatschefs der Grenzländer (ohne UNO und Afrikanische Union) wird daran auch nichts ändern. Die Herren in Washington und Paris setzen mit ihren Vasallen in Abuja auf Militarisierung, Drohnen…
 
Auch wenn Boko Haram verhandeln will und vier der entführten Mädchen aus Gesundheitsgründen freigelassen hat, Präsident Goodluck Jonathan hat ihnen den „totalen Krieg“ erklärt. Mit der Unterstützung der USA meint die burkinische Tageszeitung Le Pays etwas verfrüht, Boko Haram habe sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Wir sollten nicht vergessen, dass in Algerien dieser Kampf über 10 Jahre dauerte und über 100.000 Menschen das Leben kostete, wie auch in Sri Lanka die Niederwerfung der Tamilischen Befreiungsfront. Selbst wenn es gelingt – was nur zu wünschen ist – auch mithilfe von Selbstverteidigungskomitees in den Dörfern der Hydra den Kopf abzuschlagen und mit DDRR-Amnestie die Aufständischen oberflächlich zu befrieden, solange nicht dieses brutale Ausbeutersystem - egal durch welche Religion gestützt - nicht zerschlagen ist, werden diesem vielköpfigen Drachen, von Hunger und Armut gespeist, neue Köpfe wachsen. Auch die aktuell konstruktive Idee, die des Großkapitalisten Aliko Dangote, wird daran grundsätzlich nichts ändern können. Der Milliardär hat ankündigt, im Norden seines Landes 2,3 Millliarden Dollar „im Kampf gegen Boko Haram“ zu investieren. Vielleicht gelingt es, einen Weg der Gute-Nachbarschaft zu fördern.
 
Dabei brauchen die Menschen in Nigeria alles andere als Gewalt und Fanatismus, auch keine Almosen, sondern eine Perspektive, eine Entwicklung, die auf die menschlichen und sozialen Bedürfnisse der Menschen eine Antwort findet. Den Weg aus dem Sumpf von Korruption und militärischer Gewalt zu entdecken um gegen das System kapitalistischer Ausbeutung anzugehen – dafür sind die fortschrittlichen Kräfte aber zu schwach und zersplittert. Die Gewerkschaften, die im Jahr 2012 ihre Stärke gezeigt hatten, als die Regierung nach einigen Tagen Streik die Benzinpreiserhöhungen zurücknehmen musste, die reformistischen Industrie-Gewerkschaften sind aus mehreren Gründen dazu nicht in der Lage. (PK)
 
(1) In der Hausa-Sprache: „Bücher sind Sünde“ auch: „Westliche Bildung verboten“
 
Georges Hallermayer ist Historiker, mit Berufsverbot verhinderter Gymnasiallehrer, hat 30 Jahre lang internationalen Führungskräften Deutsch beigebracht, lebt seit 20 Jahren in Frankreich in einer bikulturellen Familie und ist Mitglied im Vorstand der Marx-Engels-Stiftung.
 


Online-Flyer Nr. 464  vom 25.06.2014

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