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Aktueller Online-Flyer vom 25. April 2024  

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Globales
Übernahme der Ukraine in die westliche Hegemonialsphäre wird vorbereitet:
"Für Frieden und Freiheit"
Von Hans Georg

Deutsche Außenpolitiker äußern sich zustimmend zur jüngsten Eskalation der Kriegshandlungen in der Ostukraine durch das Kiewer Umsturzregime. Es sei "klar, dass Kiew ... wieder aktiv werden musste", erklärt etwa Wolfgang Ischinger, ein einflussreicher deutscher Diplomat und Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz. Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk, dessen Regierung die aktuellen Artillerie- und Luftangriffe auf ostukrainische Städte verantwortet, ist am vergangenen Donnerstag als Redner bei der Verleihung des Aachener "Karlspreises" aufgetreten und in den deutschen Medien entsprechend gewürdigt worden.
 

Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk bei
einem Auftritt mit Swoboda-Parteichef
Tjagnibok und Witali Klitschko
NRhZ-Archiv
Der designierte ukrainische Präsident, der Oligarch Petro Poroschenko, will Kiew in ein "Sicherheitsbündnis" mit dem Westen führen und in Kürze den wirtschaftlichen Teil des EU- Assoziierungsabkommens unterzeichnen. Die nötigen Vorbereitungen haben in der Ukraine längst begonnen: Austeritätsmaßnahmen sind in die Wege geleitet worden, die etwa die Arbeitslosigkeit massiv in die Höhe treiben und dramatische Preissteigerungen zur Folge haben werden. Deutsche Industriekreise hingegen bereiten sich auf eine Welle der Wirtschaftsexpansion in das Land vor. Sollte es Kiew gelingen, die Ostukraine mit militärischen Mitteln unter Kontrolle zu bekommen, deuten sich damit neue Konflikte an: Die Interessen der expandierenden deutschen Industrie überschneiden sich mit denjenigen der ukrainischen Oligarchen.
 
Mit allen Mitteln
 
Publikumswirksam ist der Kiewer Regierungschef Arsenij Jazenjuk am Donnerstag vergangener Woche in Aachen bei der Verleihung des "Karlspreises" an EU-Ratspräsident Herman van Rompuy aufgetreten. In seiner kurzen Rede erklärte er, Kiew werde gegen die Aufstände im Osten des Landes "für Frieden und Freiheit" kämpfen - "mit allen Mitteln und Werkzeugen".[1] Am Vorabend hatte er sich in Berlin aufgehalten und mit der deutschen Kanzlerin über weitere Schritte im Einflusskampf gegen Moskau konferiert. Der designierte ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat seinerseits angekündigt, Kiews formelle Anbindung an den Westen zu stärken. Nach ersten Widerständen heißt es in der Hauptstadt der Ukraine, die Unterzeichnung des ökonomischen Teils des Assoziierungsabkommens mit der EU solle nun rasch vollzogen werden - noch im Juni. Bislang ist nur der politische Teil in Kraft. Poroschenko lässt darüber hinaus verlauten, er setze auf "ein neues Sicherheitsbündnis mit den USA und Europa, um die Ukraine auch militärisch zu schützen". Dafür wolle er "kämpfen und sofort die Gespräche aufnehmen".[2] Er habe "intensive Telefonate" auch mit Kanzlerin Merkel geführt und hoffe nun "auf weitere Solidarität und Unterstützung".[3]
 
Sparen für Freihandel und Krieg
 
Bereits unmittelbar nach dem Umsturz Ende Februar hatte die ukrainische Regierung begonnen, die ökonomischen Vorbereitungen für den Übergang des Landes in die westliche Hegemonialsphäre zu treffen; das ist, wie in derlei Fällen üblich [4], mit der Durchsetzung einer brutalen Austeritätspolitik verbunden. Diese ist inzwischen in Übereinkünften mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) festgelegt worden und umfasst klar definierte Maßnahmen. So nimmt Kiew Abstand von Plänen der vorigen Regierung, die Renten und den Mindestlohn (ca. 45 Cent pro Stunde) geringfügig zu erhöhen, und friert beides ein. Schon im März hat das Parlament beschlossen, den Staatshaushalt um 17 Prozent zu kürzen; insgesamt sollen gut 24.000 Beamte entlassen werden, das sind rund zehn Prozent aller Staatsbediensteten. In einem "Letter of Intent" an den IWF vom 22. April hat Kiew außerdem zugesagt, bis zum Sommer den Gaspreis für Privathaushalte um 56 Prozent sowie den Heiztarif für Fernwärme um 40 Prozent zu erhöhen. Dies wird breite Teile der ukrainischen Bevölkerung, deren Monatsdurchschnittsverdienst - bei rechnerischem Abzug der Oligarchenvermögen - auf rund 150 Euro geschätzt wird, schwer treffen. 2015 sollen die Gas- und Heiztarife um weitere 40 Prozent gesteigert werden, 2016 und 2017 erneut um jeweils 20 Prozent. Noch nicht eingerechnet ist in die Pläne, dass der Krieg gegen die Aufständischen im Osten des Landes hohe Summen verschlingt. Am 10. Mai hat Finanzminister Oleksander Schlapak mitgeteilt, dass das Kiewer Militärbudget vermutlich um zunächst 50 Prozent erhöht werden muss; selbst dies reiche wohl nicht aus. Daher müssten die Etatposten für Soziales und Gesundheit weiter zusammengestrichen werden.[5]
 
Lukrative Modernisierung
 
Die Austeritätspolitik ruft in Verbindung mit der baldigen Unterzeichnung des ökonomischen Teils des EU-Assoziierungsabkommens inzwischen ein spürbares Interesse in deutschen Wirtschaftskreisen hervor. "Die Übernahme von EU-Standards und das Bestehen im Freihandel mit der Europäischen Union erfordern ... bei den ukrainischen Unternehmen vielfach immense Modernisierungsanstrengungen", heißt es bei der staatlichen deutschen Außenwirtschaftsagentur "Germany Trade and Invest" (gtai). So habe beispielsweise die Stahlindustrie, die "von großer Bedeutung für die Ukraine" sei, "großen Nachholbedarf bei der Anwendung von modernen Technologien".[6] Deutsche Firmen hoffen auf lukrative Aufträge. Der Bereich ist auch politisch von Bedeutung: In der Stahlindustrie verfügen - wie auch in vielen anderen Branchen - ukrainische Oligarchen wie Rinat Achmetow über riesigen Einfluss; ob etwa Achmetow, der womöglich teure Modernisierungsinvestitionen vornehmen muss, für seine Ankündigung, die Kontrolle über die Ostukraine wiederherzustellen [7], Gegenleistungen erwarten kann, ist unbekannt. Immerhin ist im Umfeld des künftigen Präsidenten Poroschenko von einem "deutsche(n) Hilfsprogramm für das Donbass" die Rede, das "Arbeitsplätze ... schaffen" soll.[8] Chancen für deutsche Unternehmen sieht gtai auch in der bevorstehenden Modernisierung der ukrainischen Agrarwirtschaft, in der ebenfalls ukrainische Oligarchen tätig sind.
 
Niedrigstlohnstandort
 
Wie gtai urteilt, wird mit der bevorstehenden Unterzeichnung des wirtschaftlichen Teils des EU-Assoziierungsabkommens auch die Verlagerung industrieller Produktionsstandorte im großen Stil möglich. So könnte "in der Ukraine ... eine ausländische Kfz-Produktion vermehrt angesiedelt und ein dazugehöriges Zuliefercluster aufgebaut werden", schreibt die Außenwirtschaftsagentur. Wegen seiner außerordentlich geringen Löhne ("Lohnkostenvorteile") könne das Land sogar "Schritt für Schritt zu einem zweiten Tschechien werden", zumal es in der Ukraine auch "relativ gut ausgebildete Arbeitskräfte" gebe. gtai verweist darauf, dass diverse deutsche Kfz-Zulieferer - etwa Leoni - schon in dem Land produzieren. Allerdings müssten ukrainische Kfz-Hersteller "dann auf Zulieferproduktion oder Nischenprodukte wie Spezialfahrzeugbau oder Aufbauten umrüsten".[9] Unklar ist, wie sich die absehbaren Konflikte zwischen westeuropäischen Automobilriesen einerseits und ukrainischen Oligarchen andererseits gestalten werden. So befindet sich etwa einer der größten ukrainischen Automobilhersteller im Privatbesitz des Milliardärs Petro Poroschenko.[10] Poroschenko hat zwar angekündigt, seine Firmen - mit Ausnahme des Senders "Kanal 5" - verkaufen zu wollen, doch ist unklar, wer etwa seine "Bohdan Corporation" (Kfz) übernehmen soll.
 
"Endlich zurückschlagen"
 
Während der künftige Kiewer Oberbürgermeister Witali Klitschko, ein Zögling der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung [11], ankündigt, er werde nun "sehr intensiv um deutsche Investitionen werben" [12], macht sich sein Polit-Verbündeter Petro Poroschenko daran, die noch fehlenden Voraussetzungen für die Übernahme der gesamten Ukraine in die westliche Hegemonialsphäre zu schaffen - mit der Niederschlagung der Aufstände im Osten des Landes. Diese Woche hat die ukrainische Regierung ihre Angriffe auf Städte im Donbass massiv ausgeweitet - mit Hilfe der neu aufgestellten "Nationalgarde", irregulärer Milizen und der Luftwaffe. Vor der Wahl habe man "den Kampf gescheut, um die Abstimmung nicht zu gefährden", werden "Insider" zitiert: "Jetzt können wir endlich zurückschlagen."[13] Deutsche Außenpolitiker äußern Verständnis: "Es war klar, dass Kiew nach Abschluss des Wahlverfahrens wieder aktiv werden musste", erklärt beispielsweise der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger.[14] Aus Donezk werden nun erste Streik-Erhebungen gegen die Angriffe aus Kiew gemeldet; die Aufständischen eskalieren ihre blutige Gewalt ebenfalls. Ein Ende der Kämpfe ist nicht absehbar.
 
"Europäischer Einigungskrieg"
 
Dabei ist der beginnende Krieg in der Ostukraine nicht der erste, der mit der Osterweiterung der deutsch-europäischen Hegemonialsphäre einhergeht. Bereits in den 1990er Jahren unterstützte die Bundesrepublik die Zerschlagung Jugoslawiens, um mögliche Widerstände gegen ihre Vormacht auszuschalten. Nach dem Kosovo-Krieg war im Sommer 1999 in deutschen Medien ausdrücklich von einem "europäische(n) Einigungskrieg" die Rede; "Verantwortliche", hieß es damals, äußerten dies allerdings "nur im vertraulichen Gespräch" - sonst müsse man sich dem Einwand stellen, "da werde der Krieg wieder mal zum Vater aller Dinge ernannt, selbst Europas".[15] (PK)
 
Weitere Berichte und Hintergrundinformationen zur aktuellen deutschen Ukraine-Politik finden Sie hier: http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58879
Ein breites antirussisches Bündnis, Termin beim Botschafter, Expansiver Ehrgeiz, Unser Mann in Kiew, Die militärische Seite der Integration, Nützliche Faschisten, Oligarchen-Schach, Koste es, was es wolle, Vom Stigma befreit, Der Krim-Konflikt, Kiewer Zwischenbilanz, Die Kiewer Eskalationsstrategie, Die Restauration der Oligarchen, Die freie Welt, Ein fataler Tabubruch, Die Europäisierung der Ukraine, Regierungsamtliche Vokative, Ein ungewöhnlicher Einsatz, Juschtschenkos Mythen, Alte, neue Verbündete, Legitimationskrise, Ein weltpolitischer Lackmustest, "Faschistische Freiheitskämpfer", Die Restauration der Oligarchen (II), Die Restauration der Oligarchen (III) und Die Restauration der Oligarchen (IV)
 
[1] Van Rompuy wirft Russland Destabilisierung vor. www.handelsblatt.com 29.05.2014.
[2] Das erste Interview mit Klitschko und Poroschenko. www.bild.de 27.05.2014.
[3] So wollen sie der Ukraine Frieden bringen. www.bild.de 29.05.2014.
[4] S. dazu Unter der Flagge der EU.
[5] Ukraine cuts health, welfare spending to boost defence. www.janes.com 12.05.2014.
[6] In der Ukraine stehen Modernisierungen an. www.gtai.de 24.04.2014.
[7], [8] S. dazu Die Restauration der Oligarchen (IV).
[9] In der Ukraine stehen Modernisierungen an. www.gtai.de 24.04.2014.
[10] S. dazu Die Restauration der Oligarchen (IV).
[11] S. dazu Unser Mann in Kiew.
[12] So wollen sie der Ukraine Frieden bringen. www.bild.de 29.05.2014.
[13] Konrad Schuller: Wie aus Partisanenhaufen Stoßtrupps wurden. Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.05.2014.
[14] Ischinger nennt Offensive gegen Separatisten notwendig. www.faz.net 28.05.2014.
[15] Gunter Hofmann: Deutschland am Ende des Krieges. Die Zeit 24/1999.

Lesen Sie hierzu auch die Glosse von Freeman in dieser NRhZ-Ausgabe
 


Online-Flyer Nr. 461  vom 04.06.2014

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