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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Kommentar
„Westjordanland“ bedeutet, dass es ein besetztes Gebiet ist
Worte, Worte, Worte
Von Uri Avnery

Stellen Sie sich vor, ein Krieg zwischen Israel und Jordanien bräche aus. Innerhalb von zwei oder drei Tagen besetzte die israelische Armee das gesamte Gebiet des haschemitischen Königreichs. Was täte die Besatzungsbehörde als Erstes? Eine Siedlung in Petra errichten? Land in der Nähe Akabas enteignen? Nein. Das Erste wäre die Verfügung, dass das Gebiet von nun an „Gilead und Moab“ hieße. Allen Medien würde befohlen, den biblischen Namen zu benutzen. Alle Regierungs- und Gerichtsdokumente würden den Namen übernehmen. Außer der radikalen Linken würde niemand mehr das Wort Jordanien auch nur erwähnen. Alle Gesuche der Bewohner würden an die Militärregierung von Gilead und Moab gerichtet.

Siedlergewalt gegen Palästinenser in Hebron unter den Augen von IDF-Soldaten
NRhZ-Archiv
 
WARUM? WEIL Annexion mit Worten beginnt. Worte übermitteln Ideen. Worte implantieren Begriffe in den Geist dessen, der sie hört und ausspricht. Wenn sie dort erst einmal befestigt sind, ergibt sich daraus alles andere. Das wussten schon die, die die Bibel geschrieben haben. Sie lehrten: „Tod und Leben steht in der Zunge Gewalt; wer sie liebt, der wird von ihrer Frucht essen“ (Sprüche 18,21). Wie viele Jahre essen wir jetzt die Frucht „Judäa und Samaria“? Als Wladimir Putin in der letzten Woche wieder den alten Namen „Neurussland” für das Gebiet Ostukraine einsetzte, war das nicht nur eine semantische Veränderung. Es war ein Anspruch auf Annexion, der stärker als eine Salve Kanonenschüsse war.
 
VOR KURZEM habe ich die Rede einer linken Politikerin gehört und es verwirrte mich, dass sie lang und breit über ihren Kampf um eine „politische Vereinbarung“ mit den Palästinensern sprach. Als ich ihr Vorhaltungen machte, entschuldigte sie sich. Es sei ein Versprecher gewesen. So habe sie es nicht gemeint. In der israelischen Politik ist das Wort „Frieden“ zu einem Gift geworden. „Politische Vereinbarung“ ist das Modewort. Es soll dasselbe bedeuten. Aber natürlich tut es das nicht. „Frieden“ bedeutet sehr viel mehr als das formelle Ende eines Krieges. Es enthält Elemente von Versöhnung, von etwas Geistigem. Das hebräische Schalom schließt ebenso wie das arabische Salaam Wohlbefinden und Sicherheit ein und beides dient als Gruß. „Politische Einigung“ bedeutet nichts als ein von Juristen formuliertes und von Politikern unterzeichnetes Dokument. Der „Westfälische Frieden“ setzte 30 Kriegsjahren ein Ende und veränderte das Leben in Europa. Man mag sich fragen, ob eine „Politische Vereinbarung von Westfalen“ dieselbe Wirkung gehabt hätte.
 
Die Bibel ermahnt uns eindringlich: „Lass vom Bösen und tue Gutes; suche Frieden und jage ihm nach!“ (Psalm 34,15) Es heißt da nicht: „Suche eine politische Vereinbarung und jage ihr nach!“ Wenn die israelische Linke das Wort Frieden aufgibt, ist das kein taktischer Rückzug. Es ist eine Niederlage. Frieden ist eine Vision, ein politisches Ideal, ein religiöses Gebot, eine inspirierende Idee. Vereinbarung ist ein Diskussionsgegenstand.
 
FRIEDEN IST nicht das einzige Opfer des semantischen Terrorismus. Ein weiteres Opfer ist natürlich das Westjordanland. Die Regierung hat schon vor langer Zeit allen Fernsehsendern befohlen, diesen Ausdruck nicht zu benutzen. Auch die meisten Journalisten in den Druck-Medien marschieren im Gleichschritt. Sie nennen es „Judäa und Samaria“. „Judäa und Samaria“ bedeutet, dass das Gebiet Israel gehört, auch wenn sich die offizielle Annexion aus politischen Gründen verspätet. „Westjordanland“ bedeutet, dass es ein besetztes Gebiet ist.
An sich gibt es nichts Heiliges am Wort „Westjordanland“. Das Gebiet wurde vom jordanischen Herrscher übernommen, als er es illegal in sein neuerdings ausgeweitetes Königreich aufnahm. Das geschah in geheimer Absprache mit Israels erstem Ministerpräsidenten David Ben-Gurion. Dieser wollte den Namen „Palästina“ von der Landkarte tilgen. Die Rechtsgrundlage war eine vorgetäuschte Konferenz palästinensischer „Honoratioren“ in Jericho. König Abdallah von Jordanien teilte sein Lehnsgut in das Ostufer (des Jordans) und das Westufer, das Westjordanland.
Warum bestehen wir also darauf, dieses Wort zu benutzen? Weil es bedeutet, dass es nicht zu Israel gehört, sondern arabisches Land ist, das – wie der Gazastreifen – zum Staat Palästina gehören wird, wenn der Frieden (pardon, die politische Vereinbarung) hergestellt worden sein wird. Bis jetzt ist die semantische Schlacht noch nicht entschieden. Die meisten Israelis reden vom „Westjordanland“. „Judäa und Samaria“ sind im allgemeinen Sprachgebrauch der Bereich der Siedler geblieben.
 
NATÜRLICH sind die Siedler Gegenstand einer ähnlichen semantischen Schlacht. Im Hebräischen gibt es zwei Wörter: Mitnachalim und Mitjaschwim. Sie meinen im Wesentlichen dasselbe. Aber im allgemeinen Sprachgebrauch sagen die Leute Mitnachalim, wenn sie die Siedler in den besetzten Gebieten meinen, und Mitjaschwim, wenn sie von Siedlern im eigentlichen Israel sprechen. Die Schlacht zwischen diesen beiden Wörtern wird Tag für Tag fortgesetzt. Es ist ein Kampf für oder gegen die Legitimität der Siedlungen jenseits der Grünen Linie. Bis jetzt scheint unsere Seite die Oberhand zu haben. Die Unterscheidung bleibt bestehen. Wenn jemand das Wort Mitjaschwim für die Siedler in den besetzten Gebieten benutzt, wird er automatisch der politischen Rechten zugerechnet.
 
Die Grüne Linie an sich ist natürlich ein Begriff der Linken. Sie bezeichnet deutlich die Unterscheidung zwischen dem eigentlichen Israel und den besetzten Gebieten. Die Farbbezeichnung kommt daher, dass diese Grenze, die tatsächlich die Waffenstillstandslinie von 1949 ist, auf den Karten immer in Grün gezeichnet worden ist. Bis … Bis der (linke) Arbeitsminister Jigal Alon anordnete, dass von da an die Grüne Linie in keine Landkarte mehr eingezeichnet werden dürfe. Gemäß einem alten Gesetz des Britischen Mandats besitzt die Regierung das Urheberrecht für alle im Land gedruckten Karten, und der Arbeitsminister ist dafür zuständig.
Das blieb so, bis Gush Shalom die Regierung vor dem Obersten Gerichtshof verklagte. Wir argumentierten folgendermaßen: Da auf den beiden Seiten der Linie unterschiedliche Gesetze gelten, müssen die Bürger eine Landkarte haben, die ihnen anzeigt, welchem Gesetz sie an einem bestimmten Ort gehorchen müssen. Das Ministerium gab nach und versprach dem Gericht, es würde Karten drucken lassen, auf denen die Grüne Linie verzeichnet sei. Da es keine Alternative gibt, gebrauchen alle Israelis den Ausdruck „Grüne Linie“. Die Rechten erkennen diese Linie überhaupt nicht an und haben deshalb kein anderes Wort dafür erfunden. Eine Zeit lang versuchten sie es mit dem Ausdruck „Nahtstelle“, aber der setzte sich nicht durch.
 
EINE LINIE zwischen was? Zu Beginn der Besetzung erhob sich die Frage, wie die gerade eroberten Gebiete genannt werden sollten. Wir aus dem Friedenslager nannten sie natürlich „besetzte Gebiete“. Die Rechte nannte sie „befreite Gebiete“ und lancierten den Spruch: „Befreite Gebiete werden niemals zurückgegeben“; im Hebräischen ist das ein eingängiger Reim. Die Regierung nannte sie „verwaltete Gebiete“ und später „umstrittene Gebiete“.
Die allgemeine Öffentlichkeit einigte sich auf „die Gebiete“. Diesen Ausdruck benutzen heute alle, die kein Interesse daran haben, jedes Mal, wenn diese Gebiete erwähnt werden, ihre politische Überzeugung zu betonen.
 
DABEI ERHEBT sich die Frage nach der Mauer. Wenn die Regierung beschließt - teils aus Gründen der Expansion und teils aus echten Sicherheitsgründen - ein physisches Hindernis zwischen Israel und den besetzten Gebieten zu schaffen, dann braucht das einen Namen. Hauptsächlich wurde dieses Hindernis auf besetztem Land errichtet und schloss beträchtliche Gebiete an Israel an. Es ist ein Zaun in unbebauten und eine Mauer in bebauten Gebieten. Deshalb nannten wir es einfach „die Mauer“ oder „den Zaun“ und unternahmen wöchentliche Demonstrationen. „Die Mauer/der Zaun“ wurde in der ganzen Welt verhasst. Darum suchte die Armee nach einem Ausdruck, der nicht ideologisch klang und entschied sich für „Trennungshindernis“. Allerdings erscheint dieser Ausdruck nur in offiziellen Dokumenten.
 
MIT WEM verhandeln wir über die politische Vereinbarung? Ah, da liegt der Haken. Generationen lang leugneten die zionistische Bewegung und der Staat Israel die bloße Existenz eines palästinensischen Volkes. In der Oslo-Vereinbarung von 1993 ließen wir diese idiotische Ausrede fallen und erkannten die PLO als die „Vertretung des palästinensischen Volkes“ an. Aber der palästinensische Staat wurde nicht erwähnt und bis auf den heutigen Tag verabscheut unsere Regierung die Ausdrücke „palästinensischer Staat“ oder „Staat Palästina“.
Selbst heute wird der Ausdruck „Palästinenser“ bewusst oder unbewusst abgelehnt. Die meisten Kommentatoren sprechen über eine politische Vereinbarung mit „unseren Nachbarn“, womit sie weder Ägypter noch Jordanier noch Syrer oder Libanesen, sondern die Ihr-wisst-schon-Wen meinen.
In Oslo bestanden die PLO-Verhandlungsführer streng darauf, dass ihr neu entstehender Staat die „palästinensische Nationalbehörde“ genannt werden sollte. Die israelische Seite erhob vehement Einwände gegen das Wort „national“. Daher nennt die Vereinbarung (tatsächlich eine „Prinzipienerklärung“) ihn die „palästinensische Behörde“ und die Palästinenser selbst nennen ihn die „palästinensische Nationalbehörde“. Palästinenser, die dringend medizinische Behandlung in israelischen Krankenhäusern brauchen, werden zurückgeschickt, wenn sie Finanzdokumente beibringen, die mit „palästinensische Nationalbehörde“ unterzeichnet sind.
 
ALSO GEHT der Kampf an der semantischen Front weiter. Für mich ist der wirklich bedeutsame Teil des Kampfes das Wort Frieden. Wir müssen es als leitendes Wort wieder in unser Vokabular einführen. Deutlich, laut und stolz. Wie es in der Hymne der Friedensbewegung heißt (die Jankele Rotblit als Appell der gefallenen Soldaten an die lebenden formuliert hat): „Darum singe dem Frieden ein Lied / Flüstere kein Gebet / Singe dem Frieden ein Lied / Mit lautem Schrei!“ (PK)
 
Uri Avnery, geboren am 10. September 1923 in Deutschland, ist israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist. Er war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein neues Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ hat einer  unserer Autoren für die NRhZ rezensiert. Für die Übersetzung dieses Buches und des hier vorliegenden Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler.   
 


Online-Flyer Nr. 456  vom 30.04.2014

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