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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Globales
Die amerikanischen Falken suchen keinen neuen Hitler mehr
Sein Hinscheiden scheint möglich
Von Ira Chernus

Die außenpolitischen Falken in den USA hatten einmal eine unschlagbare Trumpfkarte in der Hand: die Hitler-Analogie. Sie brauchten nur die anderen Amerikaner zu überzeugen, sie sollten den Führer einer beliebigen Nation als neuen Hitler betrachten, und schon bekamen sie die Unterstützung der Öffentlichkeit: man müsse „hart werden“, „Willen und Entschlossenheit“ zeigen und sogar in den Krieg ziehen. Serbiens Milosewitsch, Iraks Saddam Hussein und Al Kaidas bin Laden bekamen alle das Etikett „neuer Hitler“. Alle wurden zu Opfern von Amerikas Schlagkraft.
 

Hitler und einer seiner "Nachfolger"
In den letzten Monaten dachten die Falken, sie hätten eine große Menge neuer Hitlers: Irans Ali Chamenei, Syriens Assad, Russlands Putin. Jeder von ihnen schien reif für die Hitler-Analogie. Presseberichte verkündeten überall, Ali Chamenei klinge ebenso antisemitisch wie irgendein Nazi, als er es für „akzeptabel [erklärte,] (1) alle Juden zu töten“ und als er die Führer Israels „Tiere“ (2) nannte. Assad tötete - wie Hitler - angeblich unermesslich viele Bürger seiner eigenen Nation. Putin ähnelte Hitler vielleicht am meisten. Er annektierte ausländisches Gebiet und erhob den Anspruch, eigentlich gehöre es seiner Nation, weil so viele seiner Landsleute dort lebten.
Als die Hitler-Analogie noch ihre einst unbesiegbare Macht über die öffentliche Meinung in Amerika ausübte, saßen die Falken fest im Sattel: Die USA sollten sich darauf vorbereiten, einen, zwei oder vielleicht drei dieser ausländischen Führer zu bekämpfen.
Diese Rechnung geht offensichtlich nicht auf.
Die Annexion der Krim durch die Russen ist ebenso schnell aus den amerikanischen Schlagzeilen verschwunden, wie sie dort hineingekommen ist. Fotos vom Händeschütteln des amerikanischen Außenministers mit dem russischen Außenminister bei ihrem Gespräch über Pläne, die Ukraine-Krise zu entschärfen, kräuselten kaum die Oberfläche der Massenmedien.
Neuen Verhandlungen (3) zwischen dem Iran einerseits und den USA und ihren Verbündeten andererseits wurde noch weniger Aufmerksamkeit zuteil. Offenbar wird es jetzt für selbstverständlich gehalten, mit den Iranern Vereinbarungen zu treffen.
Der eklatanteste Misserfolg der Hitler-Analogie fand im letzten September statt, als der Präsident der Vereinigten Staaten versuchte, die Unterstützung der Öffentlichkeit für einen Angriff auf Assads Syrien zu bekommen. Nicht nur Falken, sondern auch Gemäßigte und sogar einige Tauben der Außenpolitik unterstützten Obama dabei. Aber ihre enormen Anstrengungen waren vergeblich. (4) Die Öffentlichkeit war einfach nicht daran interessiert, gegen einen weiteren neuen Hitler „hart zu werden“.
Der Grund dafür ist zum Teil der, dass die gegenwärtige Ausbeute an neuen Hitlers einfach nicht wie das Original handelt.
Putin hat Barack Obama angerufen und ihn eingeladen, „über Gedanken zu sprechen, wie man das internationale Unentschieden über die Ukraine lösen“ könne, wie die New York Times berichtet (5) - das ist ja wohl kaum eine Hitler ähnliche Aktion. Eine NBC-Nachrichtencrew hat bei ihrer fast 2000 km langen Reise entlang der russisch-ukrainischen Grenze „keine Hinweise“ (6) auf das gefunden, was vielerorts fälschlich über einen militärischen Aufmarsch der Russen berichtet wird.
Als die UN eine Resolution verabschiedeten, die Syrien dazu aufrief, seine Chemiewaffen zu vernichten, sagte Assad einfach: (7) „Natürlich müssen wir uns fügen“. Das ist wohl kaum eine Hitler ähnliche Reaktion. Und der Prozess der Entfernung der Chemiewaffen geht vorwärts und wird bald abgeschlossen sein. (8)
Ali Chamenei äußert sich seit Kurzem gemäßigter über Juden und Israel. (9) Über den Holocaust sagt er jetzt: „Wenn er geschieht, ist unsicher, wie er geschieht.“ Sein Außenminister Javad Zarif behauptet, der Iran habe den Holocaust nie geleugnet.
Ali Chameneis frühere, scheinbar antisemitischen Bemerkungen fielen anlässlich einer kurzen juristischen Erörterung darüber, dass der Iran „gerechtfertigt wäre, wenn er wegen der Bedrohung, die die jüdischen Staatsführer für ihre eigenen Atomanlagen darstellen, einen Präventivschlag gegen Israel führte“. Genau dasselbe Argument haben die israelischen Führer zur Rechtfertigung eines möglichen Schlages gegen den Iran verwendet. Die gesamte Rhetorik Ali Chameneis fasste Zarif vor kurzem wohl treffend zusammen: „Wir waren niemals gegen die Juden. Wir wenden uns gegen die Zionisten.“ 
Jedoch können alle diese Abschwächungen der angeblichen neuen Hitler allein nicht erklären, warum die Macht der Hitler-Analogie schwindet. Die amerikanische Öffentlichkeit könnte diese Abschwächungen leicht ignorieren oder auf eine Weise interpretieren, die die Hitler-Analogie stärkte.
Die bittere Wahrheit für die Falken in den USA ist, dass die Öffentlichkeit nicht mehr so scharf darauf zu sein scheint, einen neuen Hitler am Horizont auszumachen.
Das stellt die Falken vor ein riesiges Problem. Das besteht nicht nur darin, dass sie weniger Einfluss auf die öffentliche Meinung haben, sondern auch darin – und das ist für sie noch schlimmer -, dass sie es jetzt mit der Frage nach den Motiven der ausländischen Führer zu tun bekommen.
Solange ausländische Führer als neue Hitlers dargestellt werden konnten, kam das Thema Motive niemandem in den Sinn.
In der amerikanischen Mythologie ist Hitler die Quintessenz des Bösen, die Verkörperung des Teufels, der Mann, der das Böse einzig und allein um des Bösen willen tat. Die Motive, die die meisten Führer in ihrer Politik antreiben - nationale Sicherheit, Macht, Reichtum, Stolz usw. -, spielen bei der Auffassung von Hitler keine Rolle.
Zweifellos enthält diese Sichtweise - wie alle politischen Mythologien - ein gewisses Maß an Wahrheit. Wie viel Wahrheit? Darüber werden Historiker wohl unaufhörlich weiter streiten.
Aber im Gedächtnis der amerikanischen Öffentlichkeit ist dieser Fall abgeschlossen: Hitlers einziges Motiv war das reine Böse um seiner selbst willen. Deshalb gab es keine Möglichkeit, ihn zu besänftigen. Weder Verhandlungen noch Kompromisse noch Veränderungen in der US-Politik hätten die Aktionen des Nazi-Führers auch nur im Geringsten beeinflussen können. Internationale Beziehungen wurden einfach zu einer Schlacht Amerikas gegen den Teufel. Die einzig vernünftige Möglichkeit, gegen das irrationale, unerbittliche Böse des Teufels zu kämpfen, war die Anwendung brutaler Gewalt.
Wenn also irgendein Führer erfolgreich als ein neuer Hitler dargestellt werden kann, braucht man nicht nach seinen Motiven zu fragen. Die Frage wäre nicht nur töricht, sondern gefährlich. Sie würde uns auf den Weg des geringsten Widerstandes führen, den Weg der Verhandlungen und Kompromisse. Wir würden den Teufel besänftigen, würden unachtsam werden und unvermeidlich seiner nächsten Attacke zum Opfer fallen. 
Es wird angenommen, dass die einzige Weise, mit einem neuen Hitler umzugehen, eben die ist, auf die wir mit dem ersten Hitler umgegangen sind: Gewalt und noch mehr Gewalt, bis wir die bedingungslose Kapitulation des Feindes erzwungen haben.
Wenn aber die Hitler-Analogie die öffentliche Meinung nicht mehr beeinflusst, ist es weniger wahrscheinlich, dass wir reflexartig nach den Waffen greifen, sondern wir haben psychisch den Raum, über die Motive von Führern wie Putin, Assad und Ali Chamenei nachzudenken. 
Wir können fragen, wie sie uns sehen, ob sie vielleicht auf Politik und Handlungen anderer Nationen – darunter auch unsere – reagieren und ob sie womöglich verständliche Gründe für ihre Entscheidungen haben.
Wenn diese Fragen erst einmal aufgetaucht sind, werden die Unterschiede zwischen den heutigen Führern und dem mythischen Hitler ganz schnell deutlich.
Putin fürchtet verständlicherweise, die Ukraine könnte der NATO beitreten. Stellen Sie sich die Reaktion eines amerikanischen Präsidenten vor, wenn Mexiko erwägen würde, der von Russland geführten Militärallianz beizutreten. Und dazu fürchtet Putin, dass die Ukraine, wenn sie kein mit Russland befreundetes Land mehr wäre, der russischen Flotte den einzigen eisfreien Hafen Sewastopol in der Krim wegnehmen würde.  
Ali Chamenei kämpft mit den beiden stärkeren Nationen Saudi Arabien und Israel um die Vorherrschaft in der Region. Beide Nationen werden mithilfe riesiger US-Beihilfen aufgerüstet. Und seit Jahren ist er den Angriffsdrohungen zweier mit Kernwaffen ausgerüsteter Mächte ausgesetzt: Israels und der USA.
In beiden Fällen ist seine Politik vollkommen rational, wenn man sie an den Regeln des internationalen Spiels um die politische Macht misst. 
Assads Fall liegt anders. Er steht einer starken Rebellion im eigenen Land gegenüber, durch die er und sein Regime durchaus verdrängt werden können. Zwar kann man leicht mit der Sache der Rebellen sympathisieren, aber es ist ebenso leicht zu verstehen, dass jeder Führer, der durch Rebellion bedroht wird, Widerstand gegen sie leistet. Mit so etwas hatte es Hitler niemals zu tun.
Jede der drei gegenwärtigen Situationen unterscheidet sich vom Fall Hitler. Das kann nicht anders sein, denn jede historische Situation ist einmalig; es hat tatsächlich niemals einen neuen Hitler gegeben und es wird auch in Zukunft keinen geben.
Eine der wichtigsten Rollen eines Mythos im politischen Leben ist es, diese Einzigartigkeit zu leugnen und einen Rahmen zu schaffen, in dem neue Situationen als genaue Nachbildungen der alten dargestellt werden können. Mythen haben teilweise deswegen Erfolg, weil sie ein beruhigendes Gefühl der Vertrautheit anzubieten haben. „Oh, ich weiß, worum es in dieser Situation geht“, sagen wir, „denn sie ist ja genau wie diese eine, die wir schon durchgemacht haben.“ Das stimmt zwar niemals ganz, aber die Verführungskraft dieser mythischen Botschaft ist nicht zu leugnen.
Dadurch wird es noch erstaunlicher, dass die amerikanische Öffentlichkeit, der diese drei Kandidaten für die Rolle des neuen Hitler angeboten werden, alle drei Angebote zurückweist. 
Das soll nicht heißen, dass die mythische Macht Hitlers ein für alle Mal überwunden wäre. Einen neuen Hitler finden ist eine alte Gewohnheit. Sie geht bis in den Anfang des Kalten Krieges zurück, als Stalin zum neuen Hitler, dem „roten Faschisten“ wurde. (Ungeachtet dessen, dass Rote und Faschisten einander hassen; ein Mythos braucht sich über logischen Widerspruch keine Sorgen zu machen.) Und mit alten Gewohnheiten kann man nur schwer brechen.   
Jetzt allerdings scheinen die meisten Amerikaner bereit zu sein, mit dieser Gewohnheit zu brechen. Wir sehen keine neuen Hitler mehr, weil wir keine mehr suchen.
Wer weiß? Vielleicht ist es der Anfang eines dauerhaften Trends. Vielleicht wird es für die öffentliche Meinung in Amerika immer weniger wahrscheinlich, dass sie die Welt auf die simplifizierende Weise des Kampfes Amerikas gegen den Teufel sieht.
Der Gedanke, dass Führer von Nationen in aller Welt aus verständlichen Gründen handeln, könnte, selbst wenn uns ihre Politik nicht gefällt, in den Hauptstrom des öffentlichen Diskurses in Amerika eindringen. Dann könnten wir Amerikaner davon auszugehen beginnen, dass wir immer verhandeln, Kompromisse schließen und unseren eigenen Anteil bei der Schaffung internationaler Konflikte anerkennen sollten. 
Vielleicht stirbt ja der mythische Hitler eines Tages ein für alle Mal. Jedenfalls scheint sein Hinscheiden jetzt möglich zu sein. (PK)
 
Ira Chernus hat diesen Beitrag in dem Blog http://hnn.us/blog/153321 veröffentlicht, von dem wir ihn in der Übersetzung von Ingrid von Heiseler mit Dank übernommen haben.
 
 
(1) http://www.dailymail.co.uk/news/article-2097252/Kill-Jews-annihilate-Israel-Irans-supreme-leader-lays-legal-religious-justification-attack.html#ixzz2xefTCh2k
(2) http://www.jpost.com/Iranian-Threat/News/Khamenei-Israeli-regime-is-doomed-to-failure-annihilation-332403
(3) http://www.huffingtonpost.com/jacob-glass/as-iran-nuclear-negotiati_b_5024604.html
(4) http://hnn.us/blog/153177
(5) http://www.nytimes.com/2014/03/29/world/europe/putin-calls-obama-on-Ukraine.html?_r=0
(6) http://www.nbcnews.com/storyline/ukraine-crisis/tour-ukraine-russia-border-finds-no-signs-military-buildup-n67336
(7) http://www.huffingtonpost.com/2013/09/29/assad-un-resolution_n_4013002.html
(8) http://abcnews.go.com/International/challenges-remain-removing-chemical-weapons-syria/story?id=23101832
(9) http://www.ibtimes.co.uk/iranian-supreme-leader-ayatollah-ali-khamenei-holocaust-uncertain-1441345
 


Online-Flyer Nr. 453  vom 09.04.2014

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