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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Kommentar
Zu den Fantasien eines Leitartikels in der Washington Post [1]
Gefahr für das Leben der Ukrainer
Von Ira Chernus

„Präsident Obamas Außenpolitik gründet sich auf Fantasie”, verkündet empört eine Schlagzeile der Washington Post (WaPo)[2] - als ob es irgendeine andere Möglichkeit gäbe. Natürlich gründet sich Obamas Außenpolitik auf Fantasie, ebenso wie die eines jeden anderen Präsidenten und ebenso wie sich jede Kritik der Außenpolitik eines Präsidenten auf Fantasie gründet.
 
Wenn wir über Außenpolitik reden, kann sich niemand des Zugriffs der Fantasie erwehren. Ich nenne es allerdings lieber Mythos, da sich immer herausstellt, dass unsere Fantasien sich – bewusst oder unbewusst – auf eine Geschichte beziehen, die uns erklärt, wie die Welt funktioniert. Wir alle sehen Tatsachen durch unsere Mythos-Linse.
 
Da jede Fantasie oder jeder Mythos eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist, ist die wichtige Frage: Welche Fantasie sagt eine friedlichere, humanere Welt voraus und zeigt damit in diese Richtung? Wenn wir uns wirklich über die Ukrainer Sorgen machen, müssen wir dieser Frage sowohl dringend als auch sorgsam nachgehen.
 
Die Redakteure der WaPo haben keine sehr befriedigende Antwort. Sie stecken tief in ihrer eigenen Fantasie von der Gefahr[3] („Unsicherheit des Heimatlandes“). Es lohnt sich, diese genauer anzusehen, weil sie eine Sichtweise zusammenfasst, die in den Massenmedien der USA weitverbreitet ist – eine Sichtweise, die das Leben von Ukrainern unnötig in Gefahr bringt.
 
In dieser Fantasie ist die Welt in zweierlei Nationen geteilt. Einige – wie die USA und ihre Verbündeten – sind vernünftig. Sie wollen eine friedliche Welt, in der alle zusammenarbeiten, um das Wirtschaftswachstum zu fördern.
 
Andere stehen unter der Knute von Führern, die sich einfach nicht „vernünftig und im Interesse ihres Volkes und der Welt verhalten“ wollen. Stattdessen beschäftigen sie sich „vor allem mit der Aufrechterhaltung ihrer Macht“. Deshalb ignorieren sie „das Gewicht der Weltmeinung“, messen das Ansehen ihres Landes „an der Anzahl der Atomraketen oder an Bataillonen“ und zeigen „Fehlverhalten“, das den „Strom der Demokratie in der Welt“ aufhält. 
 
(Auf WaPos Liste der Länder, die sich falsch verhalten, hat sich Russland jetzt China und Syrien zugesellt. Wenigstens ist der Iran bis auf Weiteres daraus gestrichen.)
 
In einer derart aufgeteilten Fantasiewelt sehen die WaPo-Redakteure nur zwei mögliche Entscheidungen für die Vereinigten Staaten:
 
1) Die USA lassen die Länder, die sich schlecht benehmen, „dafür bezahlen”, indem sie durch Demonstrationen „militärischer Stärke, Vertrauenswürdigkeit als Verbündete und das Durchhaltevermögen in schwierigen Winkeln der Welt, z. B. Afghanistan“ ihre „Führerschaft“ ausüben.
 
2) Oder aber: sie lassen zu, dass die Welt zu einem „gefährlicheren Ort” ohne rationale Führung und folglich ein Opfer der „Unordnung” wird.
 
Die offensichtlich notwendige Entscheidung ist es, so sagen die WaPo-Redakteure und viele andere politische und Medienführer, zu „führen” und dafür zu sorgen, dass diese Russen – besonders ihr Präsident Wladimir Putin – für ihr Fehlverhalten „bezahlen".
 
Ich weiß nicht, ob die WaPo- Redakteure eher beleidigt oder verblüfft sind, wenn ich ihre Sichtweise als Fantasie bezeichne. Zweifellos halten sie sich für „Realisten“.
 
Genau so bezeichnete sich eine neue Welle von Denkern der Außenpolitik, die in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg auftauchten. Sie meinten, Nationen müssten immer miteinander konkurrieren, weil alle ständig mehr Macht anstrebten und dabei jedes Mittel, das sie aufbringen könnten, anwendeten, darunter Bataillone und später auch Atomraketen.
 
Ihre Fantasie wurde von dem sehr einflussreichen Theologen Reinhold Niebuhr unterstützt und getauft. Er behauptete, Nationen würden – noch mehr als Einzelne – von angeborenem Egoismus und der angeborenen Begierde, ihr Ansehen zu heben, angetrieben. Eben das nennen Christen seit jeher Erbsünde. 
 
Den „Realisten” der späten 1930er Jahre ist mit dem Stehlen des Wortes „realistisch“ und seiner Anheftung an ihre besondere Fantasie ein glänzender Coup gelungen. Auf diese Weise konnten sie den Anspruch erheben, ausschließlich ihre Sichtweise spiegele die „Realität“ wider und sie konnten jede andere Fantasie als irregeführt und illusorisch ablehnen. Genau das machen die WaPo-Redakteure ebenso wie alle anderen Stimmen, die laut fordern, Obama solle „hart werden“. „Härte ist die einzige Sprache, die unsere Feinde verstehen“, behaupten die „Realisten“.
 
Da jede Fantasie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist, kann man leicht erkennen, wohin diese Fantasie wahrscheinlich führen wird: in eine Welt, die immer im Krieg ist, da jede Nation ihre Stärke zeigt, um dafür zu sorgen, dass andere dafür „bezahlen“, dass auch sie ihre Stärke zeigen, während die dazwischen eingeklemmten Opfer unter den Folgen leiden müssen.
 
Aber es wird schlimmer, wenn man den Anspruch erhebt, ein altmodischer „Realist” zu sein, während man in Wirklichkeit etwas ganz anderes ist. Eben dieses Spiel spielen die WaPo-Redakteure gemeinsam mit dem ganzen Chor der amerikanischen „Werde-hart“-Stimmen, die sie vertreten.
 
Ein kompromissloser „Realist” versteht und akzeptiert vielleicht Russlands Handeln auf der Krim als unvermeidlich. Keine Nation wird ihren einzigen eisfreien Hafen in den Händen einer neuen, (Russland gegenüber) entschieden unfreundlichen Regierung lassen. Das wäre tatsächlich irrational. Wirkliche „Realisten“ gehen davon aus, dass jede Regierung ihre Macht rational maximiert.
 
Die in Elitekreisen herrschende Sichtweise, diejenige, die die Meinung in WaPo-Leitartikeln und einem Tsunami weiterer amerikanischer Massenmedien-Texte antreibt, ist in Wirklichkeit etwas wie ein radikal modifizierter „Realismus“. Er kann keine andere Reaktion der Russen akzeptieren, als dass sie vor den US-Forderungen katzbuckeln.
 
Diese Fantasie sagt tatsächlich: „Realismus” erzähle uns etwas über die Ziele unserer Feinde. Sie sind von einer krankhaften Begierde nach Macht besessen. Wir müssen sie aufhalten, weil wir ein höheres Ziel verfolgen, nämlich eine friedliche, demokratische Weltordnung. Um sie aufzuhalten, müssen wir sie allerdings nachahmen und alle notwendigen Mittel ergreifen. Deshalb kämpfen wir, als wären wir „Realisten“, um schließlich einer Welt des „Realismus“ ein Ende zu setzen.
 
Es folgt eine wahre Anekdote, die zeigt, wie ein derart verzerrter „Realismus” einmal den Weg ins Weiße Haus fand:
 
1944 begegnete US-Präsident Franklin D. Roosevelt einem Theologen. Dieser erzählte ihm vom christlichen Philosophen Sören Kierkegaard, einem Vorläufer Niebuhrs bei der Wiederauferweckung des Dogmas von der Erbsünde in modernem Gewand. FDR interessierte das so sehr, dass er den Theologen noch einige Male ins Weiße Haus einlud.
 
Wenn Roosevelt wirklich verstanden hätte, was er gehört hatte, hätte er gesagt: „Oh, jetzt verstehe ich, warum wir diesen Krieg führen: Wir kämpfen um eine größeres Stück vom globalen Kuchen.“
 
Tatsächlich aber sagte er zu seinem Arbeitsminister Frances Perkins (so erinnert sich seine Frau in ihren Memoiren): „Kierkegaard erklärte mir die Nazis, wie niemand anderer es hätte tun können … Sie sind Menschen, aber sie verhalten sich wie Dämonen. Kierkegaard hilft uns zu verstehen, was im Menschen es ist, das diesen Deutschen möglich macht, so böse zu sein.“ Offensichtlich kam es Roosevelt nie in den Sinn, dass Erbsünde vielleicht auch irgendetwas mit Amerika zu tun haben könnte.
 
Ein paar Jahre nach FDRs Tod wandte sein Nachfolger Harry Truman dieselbe chauvinistische Kombination von „Realismus“ und amerikanischem Exzeptionalismus auf den früheren Verbündeten Russland an: Die Russen sind Dämonen und werden von der irrationalen Kraft der Erbsünde getrieben. Wir sind vom Makel der Sünde ausgenommen und haben keine andere Wahl, als die Russen aufzuhalten, bevor sie die Welt in ein Chaos stürzen, wie es der Teufel immer schon hat haben wollen.
 
Seit Trumans Zeit hat der öffentliche Diskurs in den USA dieselbe Schablone auf beliebig viele ausländische Feinde angewendet. Jetzt kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, und Russland ist wieder Dämon Nummer Eins. Die Moral der Geschichte ist jedoch immer dieselbe: Die einzige Möglichkeit, Dämonen aufzuhalten und die Welt zu retten, ist, dass wir mit allen notwendigen Mitteln die Führung übernehmen und die Feinde „bezahlen“ lassen. Wir müssen „realistische“ Mittel einsetzen, um unsere rein ethischen Ziele zu erreichen.
 
Es ist leicht zu erkennen, warum eine so befriedigende Fantasie den öffentlichen amerikanischen Diskurs so stark in den Griff genommen hat. Und da der schon so lange anhält, ist ebenso leicht zu erkennen, warum es sich so beruhigend anfühlt, ihn immer wieder zu wiederholen, sobald ein neuer – oder in diesem Fall alter – Feind auftaucht. Es ist so vertraut, so einfach, diese Fantasie als eine so offensichtliche Wahrheit zu nehmen, als wäre sie die getreue Fotografie einer objektiven Realität.
 
Erstens erhöht es die Kriegsgefahr. Wenn andere Nationen sehen, wie wir Gewalt anwenden, während wir ihnen das verbieten, sieht das eindeutig nach Doppelmoral aus. Was wir „führen“ nennen, sehen andere verständlicherweise als „dominieren“. Natürlich macht sie diese Unbilligkeit wütend und sie schlagen, wie die ursprünglichen „Realisten“ vorhergesagt haben, zurück. Dass wir ihnen als Heuchler erscheinen, verringert die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch nur erwägen, mit uns irgendwelche Kompromisse zu schließen.
 
Das führt zur zweiten Gefahr von Amerikas allgemeiner Verzerrung von „Realismus“. Während der echte „Realismus“ mit großer Wahrscheinlichkeit eine sich selbst erfüllende Prophezeiung einer Welt im endlosen Krieg ist, kann er gelegentlich die entgegengesetzte Wirkung haben, wenigstens für kurze Zeit. Ein „Realist“ erkennt, warum zum Beispiel Russland die Krim beschlagnahmt, und akzeptiert das vielleicht als verständliche vollendete Tatsache.
 
Zwar sind die Redakteure der Washington Post selbst zu moralistisch für einen derartigen Kompromiss, sie bieten jedoch auf ihrer Meinungsseite zwei Kolumnisten Raum, einen solchen Kompromiss zu empfehlen. Eugene Robinsons Fantasie[4] ist die folgende:
 
„Russland wird einziger oder Mitbesitzer der Krim. Die Ukraine und die anderen früheren Sowjetrepubliken merken, dass Moskau aufpasst, und wir alle beruhigen uns …Realistisch gesehen, kann das etwas sein, das zu akzeptieren die Welt sich entscheidet“ – und zwar augenscheinlich, ohne Russland zum „Bezahlen“ zu zwingen.
 
Van den Heuvels[5] Fantasie ist die folgende: „Die EU, Russland und die Vereinigten Staaten bewahren gemeinsam die territoriale Einheit der Ukraine, sie unterstützen neue und freie Wahlen und einigen sich darauf, dass die Ukraine sowohl zur EU als auch zur russischen Zollunion gehört. Außerdem müsste zugesagt werden, dass die NATO sich nicht bis in die Ukraine ausbreitet.“
 
„Es wird Zeit, die Spannungen zu verringern und eine Möglichkeit zu schaffen, nicht rhetorisch die Muskeln spielen zu lassen und die Flammen des Aberwitzes anzufachen“, schließt van den Heuvel ihren Artikel.
 
Obama und sein innerer Kreis wünschen sich vielleicht, sie könnten van den Heuvels Rat folgen. Vielleicht arbeiten sie bereits an inoffiziellen Kanälen in Richtung eines Endspiels, wie Robinson und van den Heuvel es vorschlagen.
 
Aber in einem Wahljahr, das für die Demokraten bereits finster aussieht, ist es für die Regierung politisch zu gefährlich, in Betracht zu ziehen, einen derartigen Kompromiss öffentlich voranzubringen. Sie müssen wenigstens die Pose eines „Hartwerdens“ gegen die Russen einnehmen oder aber sie liefern sich einem gefährlichen taktischen Vorgehen der Republikaner aus. Deshalb bringt unsere Regierung die Ukrainer näher an den Rand eines Krieges als eine kompromisslose „realistische“ Fantasie für notwendig erachten würde.
 
Es versteht sich von selbst, dass niemand Präsident der Vereinigten Staaten sein kann, der auch nur einen Augenblick lang eine Fantasie in Betracht zieht, die links vom „Realismus“ ist, eine, die Waffen und Machtkämpfe zurückweist, die NATO auflöst und keine Notwendigkeit für die Ukraine oder irgendeine andere Nation sieht, sich von Wirtschaftssystemen, die die Großmächte betreiben, beherrschen zu lassen.
 
Wenn es um eine Antwort auf die Frage geht, wie wir uns in Richtung einer friedlichen, menschlichen Welt bewegen können, verdient jedoch auch diese Fantasie volle und faire Aufmerksamkeit. Aber sie bleibt weit am linken Rand und ihre Stimme ist für die meisten Amerikaner kaum hörbar.
 
In diese traurige Situation haben uns die Jahrzehnte modifizierter amerikanischer exzeptionalistischer „realistischer“ Fantasie geführt. Tatsächlich müssen nicht nur die Ukrainer, sondern Menschen in Spannungsgebieten in aller Welt dafür bezahlen. (PK)
 
[1] http://hnn.us/blog/153301
[2] http://www.washingtonpost.com/opinions/president-obamas-foreign-policy-is-based-on-fantasy/2014/03/02/c7854436-a238-11e3-a5fa-55f0c77bf39c_story.html
[3] http://Mythicamerica.wordpress.com/the-two-great-Mythologies/the-Mythology-of-homeland-insecurity/
[4] http://www.washingtonpost.com/opinions/eugene-robinson-with-ukraine-crisis-the-us-has-a-credibility-problem/2014/03/03/f8f6a58a-a311-11e3-8466-d34c451760b9_story.html
[5] http://www.washingtonpost.com/opinions/katrina-vanden-heuvel-the-ukraine-crisis-calls-for-less-bluster-more-common-sense/2014/03/04/efd89812-a313-11e3-a5fa-55f0c77bf39c_story.html
 
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt von Ingrid von Heiseler.
Werke des Autors in deutscher Übersetzung:
Ira Chernus, "Warum handeln Menschen gewaltfrei? Geschichte einer Idee".
Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler. - Belm-Vehrte/Osnabrück: Sozio-Publishing 2012.
Über das Buch: http://ingridvonheiseler.formatlabor.net/?p=179
Vom Verlag empfohlene Bezugsquelle: http://www.buchhandel.de/detailansicht.aspx?isbn=9783935431248
Ira Chernus, "Amerikanische Nationalmythen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft". Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler. Erscheint demnächst.
 
Ira Chernus (geb. 29. Oktober 1946) ist Journalist, Buchautor and Professor für Religiöse Studien an der University of Colorado, Boulder. Seine akademischen Schriften konzentrieren sich auf die Außenpolitik der US-Präsidenten, z.B. Dwight Eisenhower, George W. Bush und Franklin D. Roosevelt. Als Journalist, hat er intensiv über Frieden, Krieg, Außenpolitik und Nationalismus in den Vereinigten Staaten, über den Israel-Palästina Konflikt und die Mittelost-Politik der USA geschrieben.


Online-Flyer Nr. 449  vom 12.03.2014

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